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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Urteil verkündet am 27.09.2001
Aktenzeichen: 24 U 17/01
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 448
ZPO § 287
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 1 u. 2
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711
ZPO § 546 Abs. 2
Macht ein (nach einem ärztlichen Kunstfehler) schwerbehindertes Kind für die Tag- und Nachtpflege seiner Mutter einen - im Vergleich zur Versorgung eines gesunden Kindes - Pflegemehraufwand von vier bis fünf Stunden geltend, kann auf dieser Grundlage auch dann abgerechnet werden, wenn ein Medizinischer Dienst nach Erfahrungswelten eine bis eineinhalb Stunden weniger Zeitaufwand ermittelt hat.
OBERLANDESGERICHT MÜNCHEN - ZIVILSENATE IN AUGSBURG - IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Aktenzeichen: 24 U 17/01

Verkündet am 27. September 2001

In dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatzes

erläßt der 24. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München, Zivilsenate in Augsburg, durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26. Juli 2001 folgendes

Endurteil:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts Memmingen vom 6. Dezember 2000 in Ziffer II. geändert:

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger vom 1.1.2000 bis 31.5.2000 monatlich im Voraus weitere 786,73 DM (i. W.: siebenhundertsechsundachtzig 73/100 Deutsche Mark) und ab 1.6.2000 von 536,73 DM (i. W.: fünfhundertsechsunddreißig 73/100 Deutsche Mark) zu bezahlen.

II. Die weitergehende Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

III. Von den Kosten des 1. Rechtszuges tragen der Kläger 28 % und der Beklagte 72 %.

Der Kläger trägt darüber hinaus die durch die Anrufung des unzuständigen Amtsgerichts Illertissen entstandenen Kosten.

Von den Kosten der Berufung tragen der Kläger 7 % und der Beklagte 93 %.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

V. Die Beschwer des Beklagten liegt über 60.000 DM.

Tatbestand:

Der am 7.8.1988 geborene Kläger verlangt vom Beklagten wegen eines ärztlichen Fehlverhaltens Pflegemehrbedarf ersetzt.

Der Beklagte ist durch Endurteil des Landgerichts Memmingen vom 29.12.1993 (Aktenzeichen 2.O.2097/91), bestätigt durch Senatsurteil vom 26.9.1996 (Aktenzeichen 24 U 69/94), u.a. verurteilt worden, dem Kläger die materiellen Schäden zu ersetzen, die dieser infolge einer Hirnschädigung erlitten hat und noch erleidet. Die auf Grund dieses Gesundheitsschadens, insbesondere einer spastischen Tetraplegie, bestehenden erheblichen körperlichen und geistig-seelischen Beeinträchtigungen sind in dem genannten Urteil (S. 27 ff. = Bl. 298 ff. der Beiakten) beschrieben.

Der Kläger hat im vorliegenden Rechtsstreit vorgetragen, er sei in allen Dingen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen. Er hat den (im Vergleich zu einem gesunden Kind) erforderlichen Pflegemehraufwand im Rahmen der Betreuung durch seine Mutter im einzelnen stundenweise errechnet und zwar nach Zeiträumen: ab Geburt für die ersten fünf Lebensjahre, ab Eintritt in den Kindergarten am 1.1.1994 bis 1998, Folgezeit mit Schuleintritt.

Hinsichtlich der Einzelheiten, auch der erfolgten Zahlungen der Haftpflichtversicherung des Beklagten, wird auf die Schriftsätze des Klägers sowie den Tatbestand des angefochtenen Urteils (S. 4/5 = Bl. 100/101 d.A.) Bezug genommen.

Der Kläger hat den Standpunkt vertreten, sein Anspruch auf Zahlung wegen Pflegemehrbedarfs sei nicht im Rahmen der mit der Haftpflichtversicherung des Beklagten geführten Verhandlungen vergleichsweise erledigt worden. Bei dem Regulierungsgespräch vom 11.12.1997 sei es angesichts erheblich abweichender Größenvorstellungen zu keiner Einigung gekommen.

Der Kläger hat zuletzt folgende Anträge gestellt:

I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 151.000 DM (i. W.: einhunderteinundfünfzigtausend Deutsche Mark) nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 31.12.1999 zu bezahlen.

II. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ab 1.1.2000 monatlich (im voraus zahlbare) weitere 786,73 DM (i. W.: siebenhundertsechsundachtzig 73/100 Deutsche Mark) zu bezahlen.

Der Beklagte hat den berechneten zeitlichen Pflegemehrbedarf im Vergleich zu einem gesunden Kind bestritten. Dies gelte insbesondere im ersten Lebensjahr. Für die Folgezeit sei ein täglicher Zeitaufwand von 185 Minuten ausreichend. Ab dem Eintritt in den Kindergarten würden sich die Pflegeleistungen der Mutter nicht unerheblich verringern. Der Beklagte hat auch die krankheitsbedingten Fehlzeiten während der Schulzeit bestritten.

Bei dem erwähnten Regulierungsgespräch habe man sich darauf geeinigt, dass der Kläger über die bereits erhaltenen Zahlungen hinaus für den Zeitraum bis 31.12.1997 einen Betrag von 140.000 DM, für die Folgezeit einen monatlichen Betrag von 750 DM für den persönlichen Pflege- und von 250 DM für den Sachmehrbedarf erhält.

Das Landgericht Memmingen hat folgendes Endurteil erlassen:

I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 150.952,30 DM (i. W.: einhundertfünfzigtausendneunhundertzweiundfünfzig 30/100 Deutsche Mark) nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 31.12.1999 zu bezahlen.

II. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ab 1.1.2000 monatlich im voraus weitere 786,73 DM (i. W.: siebenhundertsechsundachtzig 73/100 Deutsche Mark) zu bezahlen.

III. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt:

Eine abschließende Vergleichsregelung sei auf Grund der durchgeführten Beweisaufnahme nicht nachgewiesen.

Der Umfang der erforderlichen Betreuung und Pflege richte sich nach dem Grad und der Schwere der körperlichen und geistig-seelischen Behinderung des Klägers. Er könne sich nur im "Vierfüßlergang" oder in "Häschen-Manier" krabbelnd fortbewegen. Er sei erheblich geistig behindert, räumlich desorientiert, für sämtliche Verrichtungen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen und bedürfe einer weitgehend dauerhaften Beaufsichtigung und Pflege.

Das Landgericht hat den vom Kläger im Schriftsatz vom 7.8.2000 (Bl. 51 ff. d.A.) im Einzelnen dargelegten und von seiner Mutter im Rahmen einer Parteivernehmung nach § 448 ZPO glaubwürdig bestätigten Betreuungsmehraufwand unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung und vergleichbarer Schadensfälle als erforderlich und angemessen angesehen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten.

Er beruft sich erneut auf die angeblich abschließende Vergleichsregelung am 11.12.1997 und die nachfolgenden Zahlungen bzw. deren Entgegennnahme durch den Kläger als Anzeichen hierfür. Des Weiteren trägt er vor, der Kläger erhalte (unbestritten) seit 1.6.2000 in der Pflegestufe 3 weitere 500 DM, somit insgesamt 1.300 DM Pflegegeld.

Hinsichtlich des festgestellten Pflegemehraufwands beanstandet der Beklagte, das Landgericht habe die Angaben der Mutter ungeprüft übernommen und es unterlassen, hierzu ein Gutachten einzuholen. Insbesondere für die ersten beiden Lebensjahre sei der vom Medizinischen Dienst (Bericht vom 24.9.1996) ermittelte Mehrbedarf von 185 Minuten ausreichend.

Der Beklagte stellt die Anträge:

1. Das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 06.12.2000 - Az.: 3 O 127/00 - wird aufgehoben.

2. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er trägt vor, bei dem Gespräch mit dem Vertreter der Haftpflichtversicherung seien die Vorstellungen weit auseinandergegangen. Bei der genannten Summe von 140.000 DM habe es sich lediglich um einen Sockelbetrag (108.275 DM Pflegemehrbedarf, 31.725 DM Hausumbau) gehandelt. Bei den Stundensätzen seien von Klägerseite 19,40 DM, von Seiten der Haftpflichtversicherung nur 12 DM genannt worden. Gegen eine abschließende Einigung spreche u.a., dass das Ergebnis von der Versicherung nicht, wie üblich, schriftlich bestätigt und dass vom Klägervertreter keine Vergleichsgebühren berechnet wurden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags der Parteien und ihrer Beweisangebote wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die in beiden Rechtszügen gewechselten Schriftsätze samt Anlagen, auf die Sitzungsniederschriften und auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Die Förmlichkeiten des Berufungsrechtszuges ergeben sich aus der Sitzungsniederschrift des Senats vom 26.7.2001 (Bl. 163 d.A.).

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung des Beklagten ist nur zum Teil begründet.

Was die behauptete abschließende Einigung anlässlich des Regulierungsgesprächs am 11.12.1997 über die vom Beklagten bzw. dessen Haftpflichtversicherung zu erbringenden Zahlungen betrifft, so hat das Landgericht richtig entschieden, dass der Beklagte insoweit keinen Beweis erbracht hat. Entscheidungserhebliche neue Gesichtspunkte hierzu sind im Berufungsrechtszug nicht aufgezeigt, weitere Beweise nicht angeboten worden. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat deshalb auf die ausführliche Begründung in dem angefochtenen Urteil unter IM. (S. 10 f. = Bl. 106 f. d.A.) Bezug. Lediglich ergänzend, insbesondere zum Vorbringen im Berufungsrechtszug, wird ausgeführt:

1. Die Entgegennahme der Zahlungen der Haftpflichtversicherung durch den Kläger ist kein, jedenfalls kein ausreichendes Indiz dafür, dass anlässlich des erwähnten Regulierungsgesprächs eine abschließende Vereinbarung getroffen wurde. Angesichts der widersprüchlichen Aussagen zweier an den Verhandlungen beteiligter Zeugen aus beiden Lagern sieht auch der Senat den Beweis für einen Vergleich als nicht geführt an. Weitere Beweise stehen nicht zur Verfügung. Eine Parteivernehmung des Beklagten scheidet aus, weil er nicht an den Regulierungsgesprächen beteiligt war und für seine Behauptung auch nicht einiger Beweis erbracht worden ist (§ 448 ZPO).

2. Der rechtskräftig zum Schadenersatz verurteilte Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger für die Zeit ab seiner Geburt bis 31.12.1999 einen Betrag für Pflegemehrbedarf zu bezahlen.

Der Senat schließt sich in vollem Umfang der ausführlichen Begründung in dem angefochtenen Urteil unter II. (S. 8 ff. = Bl. 104 ff. d.A.) an. Auch hier wird lediglich ergänzend, insbesondere zum Berufungsvorbringen, ausgeführt:

Angesichts der von der Mutter des schwerbehinderten Klägers erbrachten Tag- und Nachtpflege erscheinen die insbesondere im Schriftsatz des Klägers vom 7.8.2000 nach Zeitabschnitten und Einzelverrichtungen aufgeschlüsselten Stundensätze keinesfalls übersetzt. Das kann der Senat auch ohne Sachverständigen auf Grund der eigenen Berufs- und Lebenserfahrung beurteilen. Abgesehen davon ist mit dem Landgericht davon auszugehen, dass die als Partei vernommene Mutter des Klägers diese (Mindest-)Stundensätze glaubwürdig bestätigt hat. Die Abweichung von den Erhebungen des Medizinischen Dienstes (rund drei Stunden Pflegemehrbedarf täglich) ist nicht so erheblich, dass es einer Ergänzung durch ein Gutachten bedürfte.

Der Kläger ist dringend auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen. Wenn sie die mitgeteilten Zeiten benötigt hat, um ihn angemessen und ausreichend zu versorgen, kommt es nicht auf pauschalierte allgemeine Erfahrungswerte an. Der Mutter des Klägers als Pflegeperson kann es nicht angesonnen werden, ihren aufopfernden Dienst am Kläger tags und nachts mit der Stoppuhr zu versehen. Der ständig auf fremde Hilfe angewiesene Kläger bedarf der zusätzlichen mütterlichen Pflege auch dann, wenn die vom Medizinischen Dienst ermittelten Grundwerte überschritten werden. Letzteres kann der Fall sein, wenn der Kläger in seinem körperlichen Zustand und seiner Befindlichkeit mehr Pflege benötigt, als auf Grund von Erfahrungswerten errechnet. Möglicherweise braucht die Mutter mehr Zeit als eine andere, insbesondere als eine berufsmäßige Pflegeperson. Das Risiko, dass für die persönlichen Pflegedienste im konkreten Fall und in einem bestimmten Rahmen, der hier keinesfalls überschritten ist, ein größerer Zeitbedarf besteht, als (hier: durch den Medizinischen Dienst) sachkundig errechnet, ist dem Schädiger anzulasten.

Soweit der Beklagte einwenden lässt, jedenfalls in den ersten beiden Lebensjahren sei der Pflegemehraufwand im Vergleich zur Versorgung eines gesunden Kindes nicht um die geltend gemachten 4 bis 5 Stunden höher, legt der Senat wiederum die Angaben der Mutter über ihren Mindestzeitaufwand und die Werte des Medizinischen Dienstes (Abweichung 1 Stunde bzw. 1,5 Stunden) der Entscheidung zugrunde. Auch hier fließt die Berufs- und die allgemeine Lebenserfahrung der Senatsmitglieder in die nach § 287 ZPO zu treffende Schätzung ein.

Das Zahlenwerk des Klägers (vgl. Urteil S. 4 ff. = Bl. 100 ff. d.A.) bzw. des Landgerichts in den Entscheidungsgründen (Urteil S. 10 f. = Bl. 106 f. d.A.) wäre zwar bei den Zahlungen des Beklagten bzw. von dessen Haftpflichtversicherung ab 1.1.1998 zu korrigieren. Denn die Haftpflichtversicherung hat im Rahmen der Zahlungen für den mütterlichen Pflegedienst von monatlich 1.000 DM ab 1.1.1998 unbestritten 250 DM für Sachmehraufwendungen bezahlt. Letzterer Betrag ist, worauf die Parteien im Senatstermin ausdrücklich hingewiesen worden sind, auf die im vorliegenden Rechtsstreit gegenständlichen persönlichen Pflegemehraufwendungen nicht anzurechnen. Es verbleibt jedoch bei dem ausgeurteilten Betrag von 150.952,30 DM, da sich der Senat im Rahmen der gestellten Anträge zu halten hat (vgl. § 308 ZPO).

3. Der Beklagte ist weiterhin verpflichtet, an den Kläger für die Zeit ab 1.1.2000 eine Pflegemehrbedarfsrente zu bezahlen. Dabei sind aber - in Abweichung vom landgerichtlichen Urteil - erhöhte Pflegegelder zu berücksichtigen.

a) Für die Zeit vom 1.1.2000 bis 31.5.2000 ist der geltend gemachte monatliche Rentenanspruch von 786,73 DM begründet und auf diesen Betrag begrenzt (§ 308 ZPO). Denn die monatliche Mehrbedarfsrente beträgt 2.586,73 DM (vom Landgericht berechneter monatlicher Pflegemehrbedarf) abzüglich 750 DM (Zahlung der Haftpflichtversicherung für die persönlichen Pflegedienste) und 800 DM (Pflegegeldzahlung der DAK), somit 1.036,73 DM.

b) Für die Zeit ab 1.6.2000 hat der Kläger einen monatlichen Rentenanspruch in Höhe von 536,73 DM. Denn die Pflegegeldzahlung der DAK beträgt ab diesem Zeitpunkt in der Pflegestufe 3 nunmehr 1.300 DM. Von dem unter a) errechnten Betrag sind somit weitere 500 DM abzuziehen.

Hinsichtlich der Mehrforderung ist die Berufung begründet und die Klage abzuweisen.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1 und 2 ZPO.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit und der Vollstreckungsschutz richten sich nach § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Beschwer wird nach § 546 Abs. 2 ZPO festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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