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Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 12.07.2006
Aktenzeichen: 33 AR 7/06
Rechtsgebiete: BGB, FGG


Vorschriften:

BGB § 1631b
FGG § 70 Abs. 2 Satz 2
Für die Genehmigung zur freiheitsentziehenden Unterbringung eines Kindes ist das Gericht am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes zuständig. Ein in einem Heim untergebrachtes Kind hat dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt, wenn eine Rückkehr zum sorgeberechtigten Elternteil nicht beabsichtigt ist.
Gründe:

I.

Die Betroffene lebt in einem Kinderdorf im Zuständigkeitsbezirk des Amtsgerichts H. Mit Schreiben vom 9.6.2006 beantragte der Beteiligte, der sorgeberechtigte Vater der Betroffenen, deren "Unterbringung" in geschlossener jugendpsychiatrischer Betreuung. Er richtete den Antrag an das Amtsgericht W., in dessen Bezirk er seinen Wohnsitz hat. Das Amtsgericht W. übersandte den Vorgang mit einer Stellungnahme des Kreisjugendamts an das Amtsgericht H. mit der Bitte um Übernahme. Das Amtsgericht H. lehnte die Übernahme ebenso ab wie die Vorlage an das gemeinschaftliche obere Gericht zur Zuständigkeitsbestimmung. Daraufhin legte das Amtsgericht W. die Angelegenheit zur Zuständigkeitsbestimmung vor.

II.

Die Vorlage ist zulässig, § 5 Abs. 1 Satz 1, § 199 FGG, Art. 11 a AGGVG.

Zuständig ist das Amtsgericht H., da die Betroffene dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, § 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a, Abs. 2 Satz 2, § 65 Abs. 1 FGG.

Bei der beabsichtigten Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung zur jugendpsychiatrischen Betreuung handelt es sich um eine mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringungsmaßnahme im Sinne des § 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a FGG, § 1631 b BGB. Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich gemäß § 70 Abs. 2 Satz 2, § 65 Abs. 1 FGG nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Betroffenen.

Nach der für das Sozialrecht allgemein geltenden Definition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines "gewöhnlichen Aufenthalts" ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (BVerwG JAmt 2006, 35; vgl. auch Urteile vom 26.9.2002 - 5 C 46.1 = Buchholz 436.511 § 86 KJHG/SGB VIII Nr. 1 und vom 18.3.1999 - 5 C 11.98 = Buchholz 436.0 § 107 BSHG Nr. 1; VGH Baden-Württemberg,Beschluss vom 4.5.1990, 6 S 2769/89).

Teilweise übereinstimmend ist der Begriff in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs insbesondere im Zusammenhang des Internationalen Privatrechts wie folgt umschrieben (vgl. z.B. BGH FamRZ 1993, 798 zu Art. 14 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB; BGHZ 78, 293 = FamRZ 1981, 135 zum Haager Minderjährigenschutz-Abkommen; Palandt/ Heldrich BGB 65. Aufl. Art. 5 EGBGB Rn. 10 m.w.N.): Unter dem gewöhnlichen Aufenthalt ist der Ort oder das Land zu verstehen, "in dem der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person, ihr Daseinsmittelpunkt liegt. Zu fordern ist nicht nur ein Aufenthalt von einer Dauer, die zum Unterschied von dem einfachen oder schlichten Aufenthalt nicht nur gering sein darf, sondern auch das Vorhandensein weiterer Beziehungen, insbesondere in familiärer oder beruflicher Hinsicht, in denen - im Vergleich zu einem sonst in Betracht kommenden Aufenthaltsort - der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person zu sehen ist" (BGH FamRZ 1993, 798). Vom Wohnsitz unterscheidet sich der gewöhnliche Aufenthalt dadurch, dass der Wille, den Aufenthaltsort zum Mittelpunkt oder Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen, nicht erforderlich ist. Es handelt sich um einen "faktischen" Wohnsitz, der ebenso wie der gewillkürte Wohnsitz Daseinsmittelpunkt sein muss (BGH aaO und FamRZ 1975, 272 = NJW 1975, 1068 m.w.N.; ähnlich Jansen/Sonnenfeld FGG 3. Aufl. § 65 Rn. 5; BayObLG BtPrax 2003, 132).

Das Merkmal der - vom BGH anders als vom BVerwG vorausgesetzten - nicht nur geringen Dauer des Aufenthalts bedeutet dabei nicht, dass im Falle eines Wechsels des Aufenthaltsorts ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt immer erst nach Ablauf einer entsprechenden Zeitspanne begründet werden könnte und bis dahin der frühere gewöhnliche Aufenthalt fortbestehen würde. Der gewöhnliche Aufenthalt an einem Ort wird vielmehr grundsätzlich schon dann begründet, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass der Aufenthalt an diesem Ort auf eine längere Zeitdauer angelegt ist und der neue Aufenthaltsort künftig anstelle des bisherigen Daseinsmittelpunkt sein soll (BGH FamRZ 1981, 135 m.w.N.).

Eine solchermaßen nicht auf einen (rechtsgeschäftlichen) Willen, sondern auf objektive Kriterien abstellende Definition erscheint auch im hier maßgeblichen Zusammenhang geeignet, in dem der von den sorgeberechtigten Eltern abgeleitete Wohnsitz (§ 11 BGB) und der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes auseinander fallen (vgl. auch Jansen/Sonnenfeld aaO § 70 Rn. 18). Auf den Wohnsitz kommt es nach der ausdrücklichen Regelung des § 70 Abs. 2 Satz 2 FGG, der §§ 43, 36 FGG auch für Unterbringungen Minderjähriger als Spezialregelung vorgeht, nicht an. Nach den hier maßgebenden objektiven Kriterien hat die Betroffene ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk des Amtsgerichts H., da sie bereits seit mehreren Jahren nicht mehr bei dem Beteiligten, sondern in offenen Einrichtungen der Kinderbetreuung lebt und eine Rückkehr zu ihrem Vater nicht beabsichtigt ist.

Der Auffassung des OLG Brandenburg (FamRZ 2003, 175 m. abl. Anm. Neumann), wonach für die Genehmigung einer Unterbringung nach § 1631 b BGB auch im Fall eines in einer Einrichtung außerhalb des Wohnorts der Eltern lebenden Kindes das Amtsgericht am Wohnsitz der Eltern zuständig sein soll, kann nicht gefolgt werden, da sie die gegenüber §§ 43, 36 FGG vorrangige Spezialregelung des § 70 Abs. 2 Satz 2 FGG nicht berücksichtigt (i.E. ebenso Jansen/Sonnenfeld aaO).

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