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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 27.06.2006
Aktenzeichen: 33 Wx 89/06
Rechtsgebiete: BGB, FGG


Vorschriften:

BGB § 1906
FGG § 70h
FGG § 70b Abs. 1
1. Auch bei Anordnung oder Genehmigung einer vorläufigen Unterbringung ist - außer bei Gefahr im Verzug - dem Betroffenen bereits vor Erlass des Unterbringungsbeschlusses ein Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn das vorliegende Gutachten bzw. ärztliche Zeugnis nicht an ihn ausgehändigt werden soll und zudem nach ärztlichen Feststellungen zu erwarten ist, dass eine sachbezogene Anhörung nicht möglich sein wird.

2. Das Gericht hat bei einer Anordnung nach § 1846 BGB sicherzustellen, dass dem Betroffenen innerhalb weniger Tage ein zumindest vorläufiger Betreuer zur Seite steht (vgl. BGHZ 150, 45).


Gründe:

I.

Aufgrund eines beim Amtsgericht am 25.7.2005 eingegangenen anonymen Schreibens leitete dieses für den Betroffenen ein Betreuungsverfahren ein. Die zuständige Richterin nahm in der Folgezeit Kontakt mit dem Bürgermeister der Wohnortgemeinde des Betroffenen auf. Dieser schilderte den Betroffenen als lästig, sah aber eine Betreuung als nicht erforderlich an. Außerdem erfuhr die Richterin auf dienstlichem Wege, dass ein Termin, zu dem der Betroffene als Beklagter geladen war, abgesetzt worden sei, da er davon gesprochen habe, "Amok zu laufen oder sich etwas anzutun". Die für Kelheim zuständige Polizeiinspektion konnte bis Mitte Oktober 2005 keinen Anhaltspunkt für eine Selbst- oder Fremdgefährdung des Betroffenen feststellen, da sich seine streitbaren Aktivitäten auf heftige fernmündliche oder schriftliche Angriffe gegen Behörden beschränkten. Sie regte aber im Hinblick darauf, dass nach allgemeiner Lebenserfahrung weitere Aktivitäten nicht ausgeschlossen werden könnten, die fachärztliche Begutachtung an.

Nach Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dr. S. begab sich die zuständige Richterin am Amtsgericht unangekündigt am 3.11.2005 in Begleitung einer Mitarbeiterin der Betreuungsbehörde und von drei Polizeibeamten zwecks Anhörung des Betroffenen zur vorläufigen geschlossenen Unterbringung zu dessen Wohnung. Nachdem ein sachbezogenes Anhörungsgespräch nicht zu Stande kam, ordnete die Richterin die vorläufige Unterbringung des Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bis längstens 14.12.2005 einstweilen an und bestellte Rechtsanwältin R. zur Verfahrenspflegerin. Noch am gleichen Tage wurde der Beschluss auf Wunsch des Betroffenen dahingehend abgeändert, dass ein anderer Rechtsanwalt hierzu bestellt wurde. Die Unterbringung wurde anschließend im Bezirkskrankenhaus L. vollzogen. Gegen die Unterbringungsanordnung legte der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen sofortige Beschwerde ein.

Mit Beschluss vom 15.11.2005 wurde ein vorläufiger Betreuer mit den Aufgabenkreisen Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitsfürsorge bestellt.

Am 16.11.2005 wurde der Betroffene auf Grund ärztlicher Anordnung entlassen. Das Landgericht hat daraufhin am 1.12.2006 den Beschluss des Amtsgerichts über die Anordnung der Unterbringung aufgehoben.

Nach Eingang eines psychiatrischen Gutachtens vom 20.2.2006 hat das Amtsgericht am 22.2.2006 den Beschluss über die vorläufige Betreuung aufgehoben und das Betreuungsverfahren beendet.

Am 21.4.2006 hat das Landgericht die Erledigung des Beschwerdeverfahrens und die Rechtmäßigkeit des Unterbringungsbeschlusses festgestellt. Dagegen richtet sich die vom Betroffenen durch seinen Verfahrensbevollmächtigten eingelegte sofortige weitere Beschwerde mit dem Antrag, den Beschluss des Landgerichts aufzuheben und die Rechtswidrigkeit der Unterbringung festzustellen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte sofortige weitere Beschwerde ist zulässig. Zwar hat sich nach Einlegung der sofortigen Erstbeschwerde die Hauptsache dadurch erledigt, dass der Betroffene aus der Unterbringung entlassen und der erstinstanzliche Beschluss über die Unterbringungsanordnung klarstellend aufgehoben wurde. Dennoch fehlt der sofortigen weiteren Beschwerde nicht das Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BayObLGZ 2002, 304/306). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes gebietet es, in den Fällen, in denen der durch die geschlossene Unterbringung bewirkte tief greifende Eingriff in das Grundrecht der Freiheit beendet ist, die Schutzwürdigkeit des Interesses des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Grundrechtseingriffs zu bejahen (vgl. BVerfGE 104, 220/232 f. = NJW 2002, 2456; BayObLGZ 2002, 304/306; BayObLG Beschluss vom 14.10.2002 - 3Z BR 149/02 m.w.N.; Demharter FGPrax 2002,137/138).

Die sofortige weitere Beschwerde ist auch begründet.

1. Das Beschwerdegericht hat in seiner Entscheidung ausgeführt:

Auf Grund der Feststellungen des erfahrenen Sachverständigen Dr. S. leide der Betroffene an einer behandlungsbedürftigen Psychose, wahrscheinlich an einer Schizophrenie. Als Hintergrund seien Behördenbelästigungen mit unvorhersehbaren enthemmten Verhaltensreaktionen festzustellen. Androhungen des Betroffenen im Zusammenhang mit Gerichtsverhandlungen seien nach Sachverständigenansicht durchaus ernst zu nehmen gewesen. Auch wenn nach dem psychiatrischen Gutachten des Bezirkskrankenhauses eine weitere Unterbringung nicht mehr zu rechtfertigen sei, ändere sich hierdurch nichts, da für die vorläufige Unterbringung dringende Gründe für die Annahme genügten, dass die Voraussetzungen für die Unterbringung vorlägen.

2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand (§ 27 Abs. 1 FGG, § 546 ZPO).

a) Nach § 70h Abs. 1 i.V.m. § 69f Abs. 1 FGG kann durch einstweilige Anordnung eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme getroffen werden, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für die Unterbringung gegeben sind und mit dem Aufschub Gefahr verbunden wäre, ein ärztliches Zeugnis über den Zustand des Betroffenen vorliegt, ein Pfleger für das Verfahren bestellt und der Betroffene persönlich angehört worden ist. Danach kommt eine vorläufige Unterbringung in Betracht, wenn konkrete Umstände mit erheblicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BayObLGZ 2000, 220/222; 1997, 142/145 m.w.N.; FamRZ 2005, 477; Bienwald Betreuungsrecht 4. Aufl. § 69f FGG Rn. 16) darauf hindeuten, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB vorliegen. Ferner müssen konkrete Tatsachen nahe legen, dass mit dem Aufschub der Unterbringung Gefahr für den Betroffenen bestünde (BayObLGZ 2000, 220/222; 1997, 142/145).

b) Der die Unterbringung anordnende Beschluss des Amtsgerichts erweist sich bereits deshalb als fehlerhaft, weil ein Pfleger für das Verfahren nicht bereits vor Erlass des Beschlusses, sondern erst mit dessen Erlass bestellt worden ist. Die vorherige Bestellung eines Verfahrenspflegers war gemäß § 70b Abs. 1 Satz 1 FGG zur Wahrung der Rechte des Betroffenen geboten, da sich auf Grund des Gutachtens abzeichnete, dass eine sachbezogene Anhörung nicht werde stattfinden können. Ferner sollte nach Auffassung des Sachverständigen Dr. S. dem Betroffenen das Gutachten nicht ausgehändigt werden; hieran hat sich die Richterin auch gehalten. Bei dieser Sachlage wäre es, um dem Betroffenen in ausreichender Weise rechtliches Gehör zu gewähren, unerlässlich gewesen, bereits vor Erlass des Beschlusses einen Verfahrenspfleger zu bestellen und diesem das Gutachten auszuhändigen. Denn der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör umfasst, dass ihm ein schriftliches Gutachten, das verwertet werden soll, in der Regel rechtzeitig vor der Anhörung in vollem Umfang zur Verfügung gestellt wird (BayObLGZ 2001, 219/220; OLG-Report München 2006, 191 = FamRZ 2006, 729 LS). Soll davon ausnahmsweise aus dringenden medizinischen Gründen abgesehen werden, ist das rechtliche Gehör des Betroffenen nur ausreichend gewahrt, wenn ein Verfahrensbevollmächtigter oder -pfleger das Gutachten rechtzeitig schriftlich erhalten hat und vor Erlass der Entscheidung hierzu Stellung nehmen kann (vgl. BayObLG FamRZ 1993, 998).

Dies wäre hier auch ohne weiteres möglich gewesen. Das Gutachten des Sachverständigen S. ist am 27.10.2005 gegen 12.10 Uhr bei Gericht per Fax eingegangen und lag der Richterin - dies ergibt sich aus der Weiterleitung an diesem Tage an die Betreuungsbehörde - spätestens am 28.10.2005, einem Freitag, vor. Es ist nicht ersichtlich, was der Bestellung eines Verfahrenspflegers bereits an diesem Tage oder spätestens am darauf folgenden Montag entgegengestanden hätte, zumal der Unterbringungsbeschluss nach dem Versuch der persönlichen Anhörung des Betroffenen erst am Donnerstag, den 3.11.2005 erging. Einem bestellten Verfahrenspfleger hätte dann auch das Gutachten ausgehändigt werden können. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei rechtzeitiger Bestellung eines Verfahrenspflegers und Übergabe des Gutachtens an diesen die vorläufige Unterbringung nicht angeordnet worden wäre, da dieser auf die nachfolgend aufgeführten Bedenken möglicherweise hingewiesen hätte.

Die vorherige Bestellung eines Verfahrenspflegers war - entgegen der Auffassung des Land- und Amtsgerichts - auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil konkrete Tatsachen nahe gelegt hätten, mit dem Aufschub der Unterbringung sei Gefahr im Verzug für den Betroffenen verbunden gewesen (vgl. § 70h Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 69f Abs. 21 Satz 3 FGG). Weder der Beschluss des Landgerichts noch der des Amtsgerichts enthält konkrete Feststellungen, welche Anlässe bei dem Betroffenen gerade im Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses zu "krankheitsbedingt unvorhersehbaren und auch uneinfühlsamen Verhaltensenthemmungen" und damit zu einer akuten Selbstgefährdung führen sollten. Der Termin, der den Betroffenen nach der der Richterin dienstlich zugegangenen Information zu der Äußerung bewegte, er werde "Amok laufen oder sich etwas antun", war abgesetzt worden; einer Neuterminierung dürften Zweifel an der Prozessfähigkeit des Betroffenen entgegengestanden haben. Zwischen der Äußerung des Betroffenen und der vorläufigen Unterbringung lagen ca. zwei Wochen, ohne dass sich eine Gefahr der Selbstgefährdung in irgendeiner Weise verwirklichte. Bemerkenswert ist auch, dass die für den Wohnort zuständige Polizeiinspektion seinerzeit keine Anzeichen für eine Fremd- oder Selbstgefährdung feststellen konnte und die in Rede stehende Androhung nach Akteninhalt auch nicht zu weiteren öffentlich-rechtlichen oder strafrechtlichen Maßnahmen führte. Auch das Gutachten des Sachverständigen Dr. S. geht zur Begründung der Gefahr der Selbstschädigung nicht wesentlich über die bereits von der Polizeiinspektion angesprochene allgemeine Lebenserfahrung hinaus. Dies kann die erforderliche Feststellung konkreter Tatsachen zur Begründung einer "Gefahr im Verzug" nicht ersetzen.

c) Dringende Gründe für die Annahme, dass die Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Unterbringungsmaßnahme gegeben sind, liegen regelmäßig nur dann vor, wenn ein Betreuer bestellt ist (Keidel/Kayser FGG 15. Aufl. § 70h Rn. 4). Das Vormundschaftsgericht kann aber nach § 1846, § 1908i Abs.1 Satz 1 BGB eine Unterbringung anordnen, ohne zugleich einen Betreuer zu bestellen (BGHZ 150, 45 = FamRZ 2002, 744; BayObLG FGPrax 2002, 191). Allerdings ist bei der Anwendung des § 1846 BGB zu beachten, dass es sich um eine Ausnahmevorschrift im Betreuungsrecht handelt und dass den vom Gesetzgeber eingeführten Verfahrensgarantien besondere Bedeutung zukommt. Das Betreuungsrecht wollte die Position des Betroffenen auch dadurch stärken, dass der Betreuer eigenständig und auf Grund eines persönlichen Vertrauensverhältnisses die notwendigen Entscheidungen treffen kann. Eingriffe des Vormundschaftsgerichts sollen in der Regel auf Kontrollfunktionen beschränkt sein. Deshalb kann von der eigenständigen Anordnungsbefugnis des § 1846 BGB nur in dringenden Fällen, in denen ein Aufschub einen Nachteil für den Betreuten zur Folge haben würde, Gebrauch gemacht werden (BGH aaO m.w.N.; BayObLG aaO). Ob ein solcher Fall vorlag, erscheint nach den obigen Ausführungen ohnehin sehr zweifelhaft.

aa) Ordnet das Vormundschaftsgericht wegen der Dringlichkeit des Falles die Unterbringung ohne Beteiligung eines Betreuers an, hat es gleichzeitig mit der Anordnung dafür Sorge zu tragen, dass unverzüglich ein Betreuer bestellt wird, der die Interessen des Betreuten wahrnehmen und die Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung gemäß § 1906 Abs. 1 BGB in eigener Verantwortung treffen kann. Regelmäßig ist zeitgleich mit der Anordnung der Unterbringung ein Verfahren zur Bestellung eines Betreuers einzuleiten. Bei Anordnungen außerhalb des Gerichtsgebäudes an Ort und Stelle oder außerhalb der normalen Dienstzeit muss durch geeignete Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Einleitung des Verfahrens zur Bestellung eines Betreuers unverzüglich - regelmäßig am nächsten Arbeitstag - nachgeholt wird. Das Gericht muss zudem sicherstellen, dass dem Betroffenen innerhalb weniger Tage ein Betreuer zur Seite steht. Kann innerhalb dieser Zeitspanne ein Betreuer nicht bestellt werden, etwa wegen eines einzuholenden Sachverständigengutachtens, ist es erforderlich, gleichzeitig mit der Einleitung eines Verfahrens Maßnahmen zur Bestellung eines vorläufigen Betreuers nach § 69f FGG zu treffen (BGH aaO; BayObLG aaO). Wegen der gegenüber einem vorläufigen Betreuer geringeren Befugnisse des Verfahrenspflegers reicht die Bestellung eines Verfahrenspflegers nicht aus.

Unterlässt das Gericht solche Maßnahmen, ist die Anordnung der Unterbringung unzulässig (BGH aaO; BayObLG aaO).

bb) Hier wurde der vorläufige Betreuer erst am 15.11.2005 bestellt, nachdem bereits das Landgericht im Beschwerdeverfahren um Mitteilung des Namens des vorläufigen Betreuers und dessen Antrags auf Genehmigung der Unterbringungsmaßnahme gebeten hatte. Wenngleich die zuständige Behörde erst an diesem Tage einen vorläufigen Betreuer vorgeschlagen hat, hätte das Amtsgericht darauf hinwirken können, dass dieser schneller bestellt werden konnte. Dies gilt umso mehr, als die Sachbearbeiterin bei Erlass des Unterbringungsbeschlusses zugegen war und das Gericht diese um besonders eilige Übersendung eines Vorschlags hätte bitten können.

d) Die Anordnung der Unterbringungsmaßnahme und ihr anschließender Vollzug waren aufgrund der dargelegten Verfahrensmängel für rechtswidrig zu erklären.

3. Die Entscheidung über die Auferlegung der notwendigen Auslagen des Betroffenen auf die Staatskasse beruht auf § 13a Abs. 2 Satz 1 FGG.

4. Der Geschäftswert wurde nach § 131 Abs. 2, § 30 Abs. 2 KostO festgesetzt.



Ende der Entscheidung

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