Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 21.06.2007
Aktenzeichen: 34 Wx 63/07
Rechtsgebiete: AufenthG, FreizügG/EU


Vorschriften:

AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 62
FreizügG/EU § 2 Abs. 1
FreizügG/EU § 3 Abs. 1
FreizügG/EU § 11 Abs. 2
Zum Anwendungsbereich von Aufenthaltsgesetz und Freizügigkeitsgesetz in Abschiebungshaftsachen.
Gründe:

I.

1. Die Ausländerbehörde betreibt die Abschiebung des Betroffenen, der vermutlich nigerianischer Staatsangehöriger ist. Dieser reiste am 9.2.2007 aus Madrid kommend über den Flughafen München in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er wies sich hierbei mit einem verfälschten nigerianischen Reisepass aus. Des Weiteren legte der Betroffene eine auf dieselben Personalien lautende spanische Aufenthaltserlaubnis vor. Zur Herkunft des Passes befragt erklärte der Betroffene, er habe diesen auf seinen Antrag hin und unter Mitwirkung eines Verwandten aus Nigeria übersendet bekommen und ihn anschließend von der nigerianischen Botschaft in Madrid beglaubigen lassen. Er habe nicht gewusst, dass der Pass verfälscht sei.

Nach den grenzpolizeilichen Feststellungen und seinen eigenen Angaben hatte der Betroffene unter einem Alias-Namen am 11.5.2001 einen Asylantrag in Österreich gestellt. Dieser wurde am 17.5.2004 abgelehnt, die Entscheidung ist bestandskräftig.

Mit Beschluss vom 10.2.2007 hat das Amtsgericht mit sofortiger Wirksamkeit nach Anhörung des Betroffenen antragsgemäß Abschiebungshaft längstens bis 9.5.2007 angeordnet. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 28.2.2007 zurückgewiesen. Auf die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen hat der Senat mit Beschluss vom 5.4.2007 den landgerichtlichen Beschluss aufgehoben und die Sache zur neuen Behandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen (Az. 34 Wx 032/07).

Das Landgericht hat den Betroffenen in Anwesenheit seines Verfahrensbevollmächtigten am 3.5.2007 persönlich angehört. Darüber hinaus hat es telefonisch die in Wien lebende Ehefrau des Betroffenen, eine österreichische Staatsangehörige, angehört. Mit Beschluss vom 8.5.2007 hat das Landgericht die sofortige Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 10.2.2007 zurückgewiesen.

2. Im Rahmen der gegen diesen landgerichtlichen Beschluss gerichteten sofortigen weiteren Beschwerde hat der Betroffene beantragt, die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts aufzuheben und festzustellen, dass die Anordnung der Abschiebungshaft rechtswidrig war. Der Betroffene ist der Auffassung, die vom Landgericht herangezogene Rechtsgrundlage für die Haftanordnung, nämlich § 62 AufenthG, sei nicht anwendbar, da auf ihn gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 1 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz nicht anwendbar sei. Denn er sei mit einer österreichischen Staatsangehörigen verheiratet und damit Familienangehöriger im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU. Da die Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU festgestellt habe, liege keine Rechtsgrundlage für die Abschiebungshaft vor.

II.

1. Die sofortige weitere Beschwerde ist gemäß § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 3 Satz 2 FreihEntzG, § 27 Abs. 1 Satz 1, § 29 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4, § 22 Abs. 1 FGG zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben worden.

Der Zulässigkeit des Rechtsmittels steht der zeitliche Ablauf der Haftanordnung und damit deren fehlende unmittelbare Wirkung für den Freiheitsentzug des Betroffenen nicht entgegen. Durch den Zeitablauf hat sich das Verfahren betreffend die angefochtene Haftanordnung in der Hauptsache erledigt. Der Betroffene hat jedoch im Rahmen der sofortigen weiteren Beschwerde beantragt, die Rechtswidrigkeit der Anordnung von Abschiebungshaft festzustellen. Er hat damit seinen Antrag den geänderten Umständen in zulässiger Weise angepasst (gefestigte Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 104, 220/235; Senat vom 27.3.2007, 34 Wx 029/07, und vom 3.5.2007, 34 Wx 055/07).

2. Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet.

a. Das Landgericht hat ausgeführt:

Es lägen die Voraussetzungen für die Verhängung von Abschiebungshaft gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 5 AufenthG vor. Der Betroffene sei nigerianischer Staatsangehöriger und halte sich ohne gültige Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland auf. Der von ihm bei der Einreise mitgeführte nigerianische Reisepass sei ausweislich eines Gutachtens der Bundespolizeidirektion verfälscht. Der Betroffene sei gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG unerlaubt eingereist, weil er einen erforderlichen, auf seine tatsächlichen Personalien ausgestellten Aufenthaltstitel nicht besessen habe. Gemäß § 50 AufenthG sei die Ausreisepflicht deshalb vollziehbar. Es lägen daher die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vor. Zudem bestehe der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene seiner Abschiebung entziehen wolle. Denn er habe bei der Einreise in das Bundesgebiet über seine Identität zu täuschen versucht. Dies lasse in aller Regel auf eine Entziehungsabsicht schließen. Es lägen daher auch die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG vor.

Die Haft sei verhältnismäßig, insbesondere stehe der Schutz von Ehe und Familie der Aufrechterhaltung der Haftanordnung nicht entgegen. Die Anhörung der Ehefrau habe keine schutzwürdigen Interessen ergeben. Nach deren Angaben hätten sie und der Betroffene seit der Eheschließung getrennte Wohnsitze und seien seit Anfang 2007 getrennt lebend. Ein Aufenthaltsrecht des Betroffenen ergebe sich auch nicht aus der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG bzw. aus dem Freizügigkeitsgesetz/EU. Nach Kap. III Art. 6 der Richtlinie 2004/38/EG bestehe ein Recht für Familienangehörige von Unionsbürgern auf einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten, wenn diese im Besitz eines gültigen Reisepasses seien und den Unionsbürger begleiteten. Beide Voraussetzungen seien vorliegend nicht erfüllt. Die Ehefrau des Betroffenen lebe in Österreich und der Betroffene sei bei seiner Einreise nicht von seiner Ehefrau begleitet worden. Auch das Recht auf Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 21 SDÜ setze den Besitz eines gültigen Reisepasses voraus.

Es treffe nicht zu, dass der Betroffene aufgrund des wegen seiner Ehe mit einer österreichischen Staatsangehörigen erteilten spanischen Aufenthaltstitels Freizügigkeit im Bundesgebiet genieße. Ein in einem anderen EU-Mitgliedsstaat erteilter Aufenthaltstitel gewähre Freizügigkeit nur im Ausstellungsstaat, nicht jedoch in jedem Mitgliedsstaat der EU. Gemäß §§ 1, 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU seien Familienangehörige von Unionsbürgern nur nach Maßgabe der §§ 3 und 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Danach erstrecke sich die Freizügigkeit jedoch nur auf solche Familienangehörige, die bei der freizügigkeitsberechtigten Person Wohnung nehmen. Da das Freizügigkeitsgesetz/EU nur im Bundesgebiet gelte, müsse die freizügigkeitsberechtigte Person ihre Wohnung auch im Bundesgebiet haben. Nachdem die Ehefrau des Betroffenen ihren Wohnsitz jedoch in Österreich habe, scheide die Anwendung des Freizügigkeitsgesetzes/EU auf den Betroffenen im vorliegenden Fall aus.

b. Die Entscheidung des Landgerichts hält der auf Rechtsfehler beschränkten Nachprüfung im Ergebnis stand (§ 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 3 Satz 2 FreihEntzG, § 27 Abs. 1 Satz 2 FGG, §§ 546, 559 Abs. 2 ZPO).

aa) Die Ausführungen des Landgerichts zum Vorliegen der Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 5 AufenthG begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Der Senat nimmt insoweit auf die Ausführungen des Landgerichts vollumfänglich Bezug. Soweit das Landgericht bei der Bejahung der Haftgründe zugrunde gelegt hat, dass der vom Betroffenen mitgeführte Reisepass verfälscht ist, handelt es sich um eine Tatsachenfeststellung, die für den Senat bindend ist. Der Nachprüfung unterliegt insoweit nur, ob diese Tatsache rechtsfehlerfrei festgestellt worden ist, insbesondere ob ein Verstoß gegen Verfahrensnormen oder gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze vorliegt, § 27 Abs. 2 Satz 1 FGG i.V.m. § 559 ZPO (vgl. Meyer-Holz in Keidel/ Kuntze/ Winkler FGG 15. Aufl. § 27 Rn. 42). Anhaltspunkte für solche Verstöße sind nicht ersichtlich.

bb) Im Hinblick auf die Ausführungen des Landgerichts zur Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG bzw. zum Freizügigkeitsgesetz/EU und im Hinblick auf die Begründung der sofortigen weiteren Beschwerde sieht der Senat lediglich Anlass zu folgenden weiteren Ausführungen:

Alleine die Tatsache, dass der Betroffene mit einer österreichischen Staatsangehörigen verheiratet ist, führt nicht zur Unanwendbarkeit von § 62 AufenthG. Entgegen dem insoweit irreführenden Wortlaut des § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG kann diese Vorschrift nicht so verstanden werden, dass sich die Rechtsstellung des Familienangehörigen eines Unionsbürgers jedenfalls und einschränkungslos nur nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU richte. Beide Gesetze regeln u.a. die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern. Es wäre deshalb widersinnig, einen Ausländer dem Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes zu entziehen, obwohl er die im konkreten Fall für Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Die gesetzliche Systematik und der Sinn und Zweck des Gemeinschaftsrechts, nämlich Angehörige anderer Mitgliedsstaaten und deren Familienangehörige den jeweiligen Inländern gleichzustellen, führen zu einer Auslegung von § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG des Inhalts, dass das Aufenthaltsgesetz nur dann keine Anwendung findet, wenn ein Unionsbürger oder ein Familienmitglied tatsächlich Freizügigkeit nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU genießt (vgl. Hailbronner Ausländerrecht § 1 AufenthG Rn. 16; Renner Ausländerrecht 8. Aufl. § 1 AufenthG Rn. 16). Wenn das Gemeinschaftsrecht indes kein Aufenthaltsrecht gewährt, muß der Ausländer nach deutschem Recht behandelt werden.

Dem steht § 11 Abs. 2 FreizügG/EU nicht entgegen. Die Vorschrift besagt lediglich, dass nach einer entsprechenden Feststellung der Ausländerbehörde über das Nichtbestehen oder den Verlust der Rechte nach § 2 Abs. 1 oder Abs. 5 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz Anwendung findet. Daraus kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass ohne eine entsprechende Feststellung das Aufenthaltsgesetz nur in dem von § 11 Abs. 1 FreizügG/EU bestimmten Umfang anwendbar wäre. Denn dies würde dazu führen, dass ein Ausländer aus einem Drittstaat - wie der Betroffene - sich auf das Freizügigkeitsgesetz/EU berufen könnte, ohne dass er die von diesem Gesetz für seine Freizügigkeit vorgesehenen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllen müsste. Das für die Anordnung von Abschiebungshaft zuständige Gericht hat jedoch bei der Prüfung der Haftgründe von Amts wegen die Anwendbarkeit des Aufenthaltsgesetzes zu prüfen und damit - solange darüber keine förmliche Entscheidung der Verwaltungsbehörde nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU ergangen ist - inzidenter die materiellen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Freizügigkeitsgesetzes/EU.

Das Landgericht hat sich daher zu Recht mit den Voraussetzungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU befasst und in rechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass nach Maßgabe der § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 FreizügG/EU Familienangehörige von Unionsbürgern nur dann Freizügigkeit genießen, wenn sie bei dem Unionsbürger Wohnung nehmen. Da nach den Feststellungen des Landgerichts der Betroffene und seine österreichische Ehefrau getrennt leben, kann sich der Betroffene nicht auf die Freizügigkeit nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU berufen. Bei dieser Sachlage kann es der Senat dahinstehen lassen, ob die Auffassung des Landgerichts zutrifft, die betreffende Wohnung des Unionsbürgers müsse sich im Bundesgebiet befinden.

cc. Verfahrensfehler sind nicht ersichtlich, insbesondere wurden der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Beschleunigungsgebot beachtet. Es war im maßgeblichen Zeitraum nicht auszuschließen, dass ein im Raum stehendes Strafverfahren im Zusammenhang mit der Einreise kurzfristig zu einem Abschluss gekommen wäre. Es stand deshalb nicht fest, dass die Abschiebung aus vom Betroffenen nicht zu vertretenden Gründen nicht innerhalb von drei Monaten hätte durchgeführt werden können, § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG (vgl. BayObLG InfAuslR 2002, 314).

3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Der Betroffene trägt die Gerichtskosten von Gesetzes wegen (§ 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3, § 15 Abs. 1 FreihEntzG) und kann auch keine Auslagen ersetzt verlangen (§ 16 Satz 1 FreihEntzG).

Ende der Entscheidung

Zurück