Judicialis Rechtsprechung
Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:
Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 14.06.2007
Aktenzeichen: 34 Wx 71/07
Rechtsgebiete: AufenthG
Vorschriften:
AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 | |
AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 2 |
2. Die Ermessensausübung des Beschwerdegerichts im Rahmen des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist fehlerhaft, wenn das Gericht einseitig die Kosten der Luftabschiebung, die im Falle eines Untertauchens des Betroffenen umsonst aufgewendet worden wären, zur Rechtmäßigkeitsbegründung der Abschiebungshaft heranzieht und nicht erörtert, dass der Betroffene einen festen Wohnsitz (und wohl auch festen Arbeitsplatz) hat und dort auch anzutreffen ist, dass er für die Ausländerbehörde stets erreichbar ist und seine Rechtsmittel gegen die Ausweisungsverfügung noch nicht endgültig erschöpft sind; unter diesen Umständen ist eine Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts ohne Anhörung des Betroffenen nicht möglich.
3. Ist der Betroffene im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung bereits abgeschoben und seine Anhörung tatsächlich nicht mehr möglich, kann die Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts nicht mehr unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände ergehen.
Gründe:
I.
Die Ausländerbehörde betrieb die Abschiebung des Betroffenen, eines türkischen Staatsangehörigen. Dieser reiste erstmals am 8.6.2003 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Am 14.6.2004 erteilte die Ausländerbehörde dem Betroffenen eine befristete Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Eheführung, da er seit 30.4.2001 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet war. Die Aufenthaltserlaubnis wurde bis 13.6.2006 verlängert. Am 12.6.2006 beantragte der Betroffene die erneute Verlängerung, wobei er angab, von seiner Ehefrau getrennt zu leben. Mit Verfügung vom 24.7.2006 wurde der Antrag des Betroffenen abgelehnt und er unter Androhung der Abschiebung aufgefordert, bis 31.8.2006 aus Deutschland auszureisen. Ein gegen diese Anordnung gerichteter Eilantrag blieb erfolglos. Der Betroffene blieb dennoch in Deutschland. Daraufhin bereitete die Ausländerbehörde die Abschiebung des Betroffenen auf dem Luftweg für den 22.3.2007 vor und beantragte am 9.3.2007 beim Amtsgericht die Anordnung von Abschiebungshaft für die Dauer von zwei Wochen mit sofortiger Wirksamkeit gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Die Ausländerbehörde wies dabei darauf hin, dass sich der Betroffene seit 1.9.2006 ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhalte. Der Betroffene wurde am 9.3.2007 in seiner Wohnung festgenommen. Er machte bei seiner Anhörung durch das Amtsgericht geltend, sein Anwalt habe ihm nicht mitgeteilt, dass er bis zum 31.8.2006 hätte ausreisen müssen. Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 10.3.2007 mit sofortiger Wirksamkeit Abschiebungshaft auf die Dauer von längstens zwei Wochen angeordnet und dies auf den Haftgrund des § 62 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gestützt, da es die Überzeugung habe, der Betroffene würde nicht freiwillig das Bundesgebiet verlassen. Ohne Inhaftierung könne die Abschiebung nicht durchgeführt werden. Weitere Feststellungen dazu traf das Amtsgericht nicht.
Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene sofortige Beschwerde eingelegt. Er wurde am 22.3.2007 abgeschoben. Mit Schriftsatz vom 5.4.2007 hat sein Verfahrensbevollmächtigter die Hauptsache für erledigt erklärt und die Feststellung beantragt, dass die Anordnung der Abschiebungshaft rechtswidrig war. Zugleich hat er beantragt, der Ausländerbehörde die Kosten des Abschiebungshaftverfahrens aufzuerlegen. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 27.4.2007 die sofortige Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen und dabei die Haftvoraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bejaht. Dagegen richtet sich die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen, der geltend macht, es hätten weder die Voraussetzungen für eine Haftanordnung gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG noch gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorgelegen.
II.
Die Entscheidung des Landgerichts hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Rechtsmittel des Betroffenen erweist sich sowohl im Feststellungsbegehren als auch im Kostenantrag als erfolgreich.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Die sofortige Beschwerde des Betroffenen sei zulässig. Nach Beschwerdeeinlegung habe sich die Hauptsache durch die Abschiebung des Betroffenen erledigt, so dass dazu eine Sachentscheidung nicht mehr ergehen könne. Nach Eintritt der Erledigung bleibe das Rechtsmittel aber mit dem hier verfolgten Ziel zulässig, festzustellen, dass die Anordnung der Abschiebungshaft rechtswidrig gewesen sei. Dieser Antrag könne auch mit dem Antrag verbunden werden, der Gebietskörperschaft, der die Ausländerbehörde angehöre, die Auslagen des Betroffenen aufzuerlegen.
Das Rechtsmittel des Betroffenen sei jedoch nicht begründet. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Zwar hätten die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG nicht vorgelegen, da ein begründeter Verdacht, dass sich der Betroffene der Abschiebung entziehen wolle, weder von der Ausländerbehörde behauptet noch vom Amtsgericht anhand von Tatsachen hätte festgestellt werden können. Das Beschwerdegericht könne die Haftanordnung jedoch auf einen anderen Haftgrund stützen; dies gelte auch im Fortsetzungsfeststellungsverfahren. Hier habe der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorgelegen. Es habe festgestanden, dass die Abschiebung innerhalb der beantragten Haftdauer erfolgen könne. Die im Rahmen dieses Haftgrundes notwendige Ermessensentscheidung hätte das Beschwerdegericht, wenn sich der Betroffene noch in Haft befunden hätte, dahingehend getroffen, dass Abschiebungshaft anzuordnen gewesen wäre. Im Hinblick auf die nicht unerheblichen Kosten, die für eine Luftabschiebung aufgewendet werden müssten und die im Falle eines Scheiterns dieser Luftabschiebung - etwa weil der Betroffene zufällig zum vorgesehen Termin nicht greifbar sei - vergeblich aufgewendet wären, überwiege das Interesse der Allgemeinheit an einer zügigen Durchführung der Abschiebung das Freiheitsinteresse des Betroffenen, dem die Freiheit nur für eine verhältnismäßig kurze Zeit entzogen werden solle. Das Amtsgericht habe somit im Ergebnis zu Recht Abschiebungshaft angeordnet. Anlass, die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen dem Träger der Ausländerbehörde aufzuerlegen, bestehe bei dieser Sachlage nicht.
2. Dies hält der rechtlichen Überprüfung im Ergebnis nicht stand.
a) Zu Recht hat das Landgericht die sofortige Beschwerde des Betroffenen als zulässig erachtet. Auf die Ausführungen des Landgerichts wird Bezug genommen.
b) Zu Recht ist das Beschwerdegericht auch davon ausgegangen, dass die Haftanordnung des Amtsgerichts nicht auf den Verdacht gestützt werden konnte, dass sich der Betroffene, in Freiheit belassen, der Abschiebung hätte entziehen wollen. Ein solcher Verdacht setzt konkrete Umstände voraus, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen des Ausländers, die mit gewisser Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten bzw. nahe legen, der Ausländer beabsichtige unterzutauchen oder die Abschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (vgl. BGHZ 98, 109/112 ff.; BayObLGZ 1993, 150/153). Das Amtsgericht hat keinerlei konkrete Umstände festgestellt, aus denen sich ein solcher Verdacht ergeben könnte. Die gegen den Betroffenen verhängte Abschiebungshaft kann daher nicht auf den Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 AufenthG gestützt werden.
c) Richtig ist auch die Annahme des Landgerichts, dass es an die rechtliche Würdigung durch das Amtsgericht nicht gebunden ist. Das Erstbeschwerdegericht kann und muss den Sachverhalt, der Gegenstand der amtsgerichtlichen Entscheidung war, hinsichtlich der Voraussetzungen der Haftanordnung unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten prüfen (vgl. OLG Hamm vom 16.10.2003; bei Melchior, Internetkommentar zu Abschiebungshaft, Anhang). Dabei kann es gegebenenfalls den vom Amtsgericht angenommenen Haftgrund durch einen anderen ersetzen (OLG Hamm aaO.). Dies gilt grundsätzlich auch im Fortsetzungsfeststellungsverfahren.
d) Fraglich ist jedoch, ob nach der Erledigung der Hauptsache ein zwingender Haftgrund noch durch einen im Ermessen des Gerichts stehenden Haftgrund ersetzt werden kann (dafür: OLG Hamm 16.10.2003, bei Melchior, Abschiebungshaft, Anhang; dagegen: OLG Köln InfAuslR 2006, 414/415; OLG Düsseldorf 8.12.2006 (iRd. Kostenverfahrens) bei Melchior, Abschiebungshaft, Anhang). Bei dem fakultativen Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 2 AufenthG handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (vgl. grds. OLG München vom 16. 1. 2006, Melchior, Abschiebungshaft, Anhang). Die Frage kann jedoch letztlich dahinstehen, da die Ermessensentscheidung des Landgerichts auch in der Sache durchgreifenden, nicht heilbaren Bedenken begegnet.
Zwar hat bei Ermessensentscheidungen das Rechtsbeschwerdegericht die Angemessenheit und Zweckmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung grundsätzlich nicht zu untersuchen. Wo also eine Rechtsnorm die Entscheidung in das Ermessen des Gerichts stellt, ist eine Prüfung, ob das Beschwerdegericht von seinem Ermessen in tatsächlicher Hinsicht richtigen Gebrauch gemacht hat, d.h. ob die Entscheidung sachlich richtig ist, ausgeschlossen. Zu überprüfen ist lediglich, ob überhaupt die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung vorlagen und, falls ja, ob das Beschwerdegericht sein Ermessen ausgeübt oder die Notwendigkeit dazu verkannt hat. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob das Gericht die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen einen dem Sinn und Zweck des Gesetzes zuwiderlaufenden Gebrauch gemacht hat, von ungenügenden oder verfahrenswidrig zustande gekommenen Tatsachenfeststellungen ausgegangen ist, wesentliche Umstände unerörtert gelassen oder Umstände mitberücksichtigt hat, die nach der ermächtigenden Norm nicht maßgebend sein dürfen (Meyer-Holtz in Keidel/Kuntze/Winkler FGG 15. Aufl. § 27 Rn. 23).
Das Beschwerdegericht hat bei seiner Ermessensausübung wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt. Es hat einseitig die Kosten der Luftabschiebung, die im Falle eines Untertauchens des Betroffenen umsonst aufgewendet worden wären, zur Rechtmäßigkeitsbegründung der Abschiebungshaft herangezogen. Unerörtert blieb, dass der Betroffene einen festen Wohnsitz (und wohl auch festen Arbeitsplatz) hatte und dort auch anzutreffen war, dass er für die Ausländerbehörde stets erreichbar war und seine Rechtsmittel gegen die Ausweisungsverfügung noch nicht endgültig erschöpft waren. Unter diesen Umständen war eine Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts ohne Anhörung des Betroffenen nicht möglich. Ein Rückgriff auf die amtsgerichtliche Anhörung und Entscheidung scheidet bereits deshalb aus, weil darin keine für eine Ermessensentscheidung relevanten Informationen enthalten sind. Der Betroffene war im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung jedoch bereits abgeschoben und seine Anhörung tatsächlich nicht mehr möglich. Die Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts konnte daher nicht mehr unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände ergehen. Sie ist damit rechtsfehlerhaft.
3. Dem Träger der Ausländerbehörde sind analog § 16 FreihEntzG die Auslagen des Betroffenen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren, aufzuerlegen. Die Vorschrift des § 16 FreihEntzG gilt entsprechend, wenn der Antrag auf Verhängung von Abschiebungshaft im Laufe des Verfahrens in der Hauptsache erledigt ist (vgl. Marschner/Volckart Freiheitsentziehung und Unterbringung 4. Aufl. 2001 § 16 FreihEntzG).
Das Verfahren hat ergeben, dass ein begründeter Anlass zur Stellung des Antrags nicht vorlag. Bereits im Antrag der Ausländerbehörde vom 9.3.2007 ist zur Begründung des Antrags auf Abschiebungshaft lediglich festgestellt, dass sich der Betroffene seit 1.9.2006 ohne erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhält und die Abschiebungsandrohung vollziehbar ist. Die von der Ausländerbehörde dargelegten Tatsachen begründen die Notwendigkeit der Abschiebung des Betroffenen gemäß § 58 AufenthG, nicht jedoch die Notwendigkeit einer dazu erforderlichen Haft. Grundsätzlich ist eine Abschiebung aber ohne Haft durchzuführen.
Ende der Entscheidung
Bestellung eines bestimmten Dokumentenformates:
Sofern Sie eine Entscheidung in einem bestimmten Format benötigen, können Sie sich auch per E-Mail an info@protecting.net unter Nennung des Gerichtes, des Aktenzeichens, des Entscheidungsdatums und Ihrer Rechnungsanschrift wenden. Wir erstellen Ihnen eine Rechnung über den Bruttobetrag von € 4,- mit ausgewiesener Mehrwertsteuer und übersenden diese zusammen mit der gewünschten Entscheidung im PDF- oder einem anderen Format an Ihre E-Mail Adresse. Die Bearbeitungsdauer beträgt während der üblichen Geschäftszeiten in der Regel nur wenige Stunden.