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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 23.05.2005
Aktenzeichen: 4St RR 21/05
Rechtsgebiete: StPO, StVO


Vorschriften:

StPO § 264
StPO § 206a Abs. 1
StVO § 5 Abs. 2 Satz 1
1. Verschiedene Überholvorgänge auf derselben Fahrt können trotz engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs mehrere Taten im verfahrensrechtlichen Sinne (§ 264 Abs. 1 StPO) sein.

2. Wer überholt, obwohl er nicht übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist, verstößt (nur) gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO.


Tatbestand:

Die Staatsanwaltschaft hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, mit einem Pkw unter grober Außerachtlassung der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt in einer Rechtskurve einen Pkw überholt zu haben, obwohl sich erkennbar Gegenverkehr näherte; der Angeklagte habe aus Gleichgültigkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern und um seines schnelleren Fortkommens Willen von vornherein keine Bedenken gegen seine Fahrweise aufkommen lassen. Dies habe für ihn vorhersehbar und vermeidbar zur Folge gehabt, dass sowohl das entgegenkommende als auch das überholte Fahrzeug gezwungen waren, nach rechts auszuweichen, um dem Angeklagten die Durchfahrt zu ermöglichen und so einen Unfall zu vermeiden. Die Staatsanwaltschaft hatte deshalb beantragt, gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 3 Nr. 2 StGB zu erlassen.

Das Amtsgericht lehnte den Erlass des Strafbefehls ab und beraumte nach § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO Termin zur Hauptverhandlung an. Der Angeklagte wurde in dieser gemäß § 265 StPO darauf hingewiesen, dass eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit nach Nr. 19.1.1 Bußgeldkatalog in Betracht komme. Der Angeklagte wurde sodann für schuldig befunden, folgende fahrlässige Verkehrsordnungswidrigkeiten begangen zu haben:

In zwei Fällen überholt, obwohl nicht übersehen werden konnte, dass während des gesamten Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen war, oder bei unklarer Verkehrslage - mit Gefährdung - gemäß "§§ 5 II S. 1, III Nr. 2, 49 I Nrn. 1 und 5 StVO, Ziff. 19.1.1 BKat, 20 OWiG".

Der Angeklagte wurde deshalb zu zwei Geldbußen zu je 125 EUR sowie zu einem Fahrverbot für die Dauer eines Monats verurteilt.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts fuhr der Angeklagte mit seinem Pkw auf der Bundesstraße. Dort überholte er zunächst einen mit einer Geschwindigkeit von rund 80 km/h fahrenden VW-Bus, obwohl sich im Gegenverkehr bereits ein Lkw in unmittelbarer Nähe befand. Um dem Angeklagten ein Einscheren nach dem Überholvorgang zu ermöglichen und einen drohenden Frontalzusammenstoß mit dem entgegenkommenden Lkw mit unabsehbaren Personen- und Sachschäden zu vermeiden, musste der Fahrer des VW-Busses auf allenfalls etwa 40 km/h herunterbremsen und mit seinem Fahrzeug nach rechts Richtung Bankett ausweichen; der Lkw war im Gegenverkehr allenfalls noch 50 m entfernt. Im weiteren Verlauf der Fahrt überholte der Angeklagte mit seinem Pkw in einer unübersichtlichen Rechtskurve wiederum ein Automobil, obwohl ein anderer Pkw im Gegenverkehr bereits so nah war, dass der Überholte und der im Gegenverkehr befindliche Fahrzeuglenker ihre Fahrzeuge jeweils in Fahrtrichtung nach rechts weglenken mussten, um dem Angeklagten ein Wiedereinscheren auf seiner Fahrbahn zu ermöglichen und einen drohenden Frontalzusammenstoß mit unübersehbaren Personen- und Sachschäden zu vermeiden. Die gefahrenen Geschwindigkeiten seien nicht bekannt. Bei Anwendung der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt, die ihm sowohl möglich als auch zumutbar gewesen sei, hätte der Angeklagte vor Durchführung der beiden Überholmanöver die Gefährlichkeit seines Tuns und die Möglichkeit eines unmittelbaren schweren Verkehrsunfalls vorhersehen können und in der Folge von den jeweiligen Überholvorgängen Abstand nehmen müssen.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das statthafte (§§ 312, 335 Abs. 1 StPO; vgl. Göhler OWiG 13. Aufl. § 82 Rn. 25) und auch im Übrigen zulässige (§§ 341, 344, 345 StPO) Rechtsmittel hatte Erfolg.

Gründe:

1. Die vom Revisionsgericht bereits von Amts wegen vorzunehmende Prüfung, ob Verfahrenshindernisse vorliegen oder Prozessvoraussetzungen fehlen, ergibt, dass das Überholen des VW-Busses nicht von dem Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft, wie er in dem Antrag auf Erlass des Strafbefehls zum Ausdruck gekommen ist, erfasst war und es sich insoweit auch nicht um dieselbe Tat im Sinne von § 264 Abs. 1 StPO handelt.

Der Begriff der Tat bezeichnet ein konkretes Geschehen, das einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang bildet und Merkmale enthält, die es von denkbaren anderen ähnlichen oder gleichartigen Vorkommnissen unterscheidet, und umfasst das gesamte Verhalten des Täters, soweit dieses nach der natürlichen Auffassung des Lebens eine Einheit bildet. Die Handlungen müssen dabei nach dem Ereignisablauf zeitlich, räumlich oder innerlich so mit einander verknüpft sein, dass sich ihre getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges darstellen würde. Insoweit sind der zeitliche Ablauf der einzelnen Handlungen und der zeitliche Abstand zwischen ihnen wesentliche Kriterien für die Beurteilung, ob ein einheitliches Tatgeschehen vorliegt. Im Rahmen von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr ist demgemäß davon auszugehen, dass mit dem Ende eines bestimmten Verkehrsgeschehens, das durch ein anderes abgelöst wird, in der Regel das die Tat bildende geschichtliche Ereignis abgeschlossen ist. Zur Annahme eines derartigen einheitlichen Lebensvorgangs reicht es daher nicht aus, dass mehrere Verkehrsverstöße auf ein und derselben Fahrt begangen worden sind. Während einer einzelnen Fahrt von einiger Dauer stellen sich dem Kraftfahrer ständig neue Verkehrslagen, gegenüber denen er regelmäßig erneute Entscheidungen über sein Fahrverhalten treffen muss. Begeht er dabei mehrfach Verkehrsverstöße auch gleichartiger Natur, können doch die Gründe für diese Zuwiderhandlungen unterschiedlich sein, sowohl was die Motive als auch die Schuldform oder die Ursache fahrlässigen Versagens (Unaufmerksamkeit, Gleichgültigkeit) betrifft. Es muss daher immer zusätzlich darauf abgestellt werden, ob die mehreren Verstöße nach den dargestellten Grundsätzen zum prozessualen Tatbegriff zu einem einheitlichen historischen Vorgang zusammengefasst werden können oder ob sie nach den Umständen des Einzelfalls verschiedenen Verkehrsvorgängen während der gleichen Art zugeordnet werden müssen (BayObLGSt 2001, 134 mit zahlreichen Nachweisen der Rechtsprechung und Literatur).

Vorliegend handelt es sich um zwei verschiedene Überholvorgänge, die zwar auf der selben Fahrt im engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang erfolgten, denen aber unterschiedliche Verkehrssituationen zugrunde lagen, die der Angeklagte nach den Feststellungen des Amtsgerichts jeweils aufgrund eines neuen Entschlusses nicht situationsgerecht beurteilt hat.

Da der Strafbefehlsantrag nur den zweiten Überholvorgang "in einer unübersichtlichen Rechtskurve" zum Gegenstand hat und eine Nachtragsanklage (§ 266 StPO) hinsichtlich des Überholens des VW-Busses nicht erhoben worden ist, fehlt es hinsichtlich des letztgenannten Überholvorgangs an der erforderlichen Verfahrensvoraussetzung einer wirksamen Anklageerhebung.

2. Dagegen stehen der Verfolgung des zweiten Überholvorgangs ("in einer unübersichtlichen Rechtskurve") keine Verfahrenshindernisse entgegen; insbesondere ist insoweit nicht Verjährung eingetreten.

Die Frist für die Verfolgungsverjährung dieser Verkehrsordnungswidrigkeit betrug bis zum Antrag auf Erlass des Strafbefehls drei Monte und danach sechs Monate (§ 26 Abs. 3 StVG). Die Verjährung der am 1.4.2004 begangenen Tat ist deshalb wirksam am 8.6.2004 durch den Strafbefehlsantrag, der am 11.6.2004 beim Amtsgericht eingegangen ist, unterbrochen worden (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 13 OWiG), bereits am 7.9.2004 erging sodann das angegriffene Urteil, so dass es auf weitere Unterbrechungshandlungen wie die Bestimmung eines Termins zur Hauptverhandlung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 OWiG) nicht mehr ankommt. Seit dem Erlass des erstinstanziellen Urteils ist die Verjährung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens gehemmt (§ 32 Abs. 2 OWiG).

Der Schuldspruch - und damit auch der Rechtsfolgenausspruch - kann jedoch im Hinblick auf die bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen keinen Bestand haben.

Wer überholt, obwohl er nicht übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist, verstößt nur gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO, da diese Vorschrift das unzulässige Überholen bei unklarer Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO) verdrängt (vgl. hierzu Hentschel Straßenverkehrsrecht 38. Aufl. § 5 StVO Rn. 4, 34 und 71 mit Nachweisen der Rechtsprechung). Mit Recht bemängelt die Revision, dass den Feststellungen nicht hinreichend zu entnehmen ist, ob der Angeklagte den Überholten und den Gegenverkehr im Sinne von § 1 Abs. 2 StVO gefährdet hat oder ob insoweit nur Behinderungen (§ 5 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Satz 4 StVO) eingetreten sind. Hierzu hätte es - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen - näherer Angaben zum Straßenverlauf, zur Fahrbahnbreite und zum zeitlichen Ablauf unter Berücksichtigung der anzunehmenden Geschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge bedurft.

Ende der Entscheidung

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