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Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 13.12.2005
Aktenzeichen: 5 St RR 129/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 2
StPO § 302 Abs. 1 S. 1
1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist dann geboten, wenn zu einer Straferwartung von etwa einem Jahr Freiheitsstrafe der Umstand hinzu tritt, dass Nebenklage erhoben wurde und der Nebenkläger anwaltlich vertreten ist.

2. Ein unmittelbar nach Urteilsverkündung erklärter Rechtsmittelverzicht des unverteidigten Angeklagten ist im Fall notwendiger Verteidigung in Zusammenschau damit jedenfalls dann unwirksam, wenn über eine beantragte Pflichtverteidigerbestellung nicht entschieden wurde.


Tatbestand:

Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung am zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte.

Mit der - nach zunächst erklärtem Rechtsmittelverzicht - eingelegten Revision rügte der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er trug insbesondere vor, der erklärte Rechtsmittelverzicht sei unwirksam, es habe an der notwendigen Anwesenheit eines Verteidigers in der Hauptverhandlung gefehlt. Die Revision erwies sich als zulässig und auch begründet. Sie führte zur Urteilsaufhebung und Zurückverweisung (§§ 337, 338 Nr. 5, 353, 354 Abs. 2 StPO).

Gründe:

1. Die eingelegte Revision erweist sich nicht wegen eines Verfahrenshindernisses als unzulässig, denn der erklärte Rechtsmittelverzicht ist unwirksam.

a) Ein erklärter Rechtsmittelverzicht eines verhandlungsfähigen Angeklagten ist zwar aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit grundsätzlich als wirksam anzusehen (gefestigte Rechtsprechung, u.a. BGH GA 1969, 28; NStZ-RR 1997, 305; OLG Köln VRS 48, 213; OLG Hamm NJW 1973, 1850; OLG Oldenburg NStZ 1982, 520; Peglau NStZ 2002, 464; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 302 Rn. 21, 9 m.w.N.).

b) Nur ausnahmsweise hat die Rechtsprechung in besonders gelagerten Einzelfällen, vornehmlich aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus, die Rechtswirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts verneint (vgl. BGHSt 18, 257/260; 19, 101/104; OLG Hamm NJW 1976, 1952; OLG Hamburg NJW 1964, 1039; OLG Frankfurt NJW 1966, 1376).

Wurde dem Angeklagten nicht die Möglichkeit gegeben, sich vor Abgabe einer Rechtsmittelverzichtserklärung mit seinem Verteidiger zu besprechen, wird der Rechtsmittelverzicht als unwirksam angesehen. Dies auch dann, wenn im Fall der notwendigen Verteidigung dem Angeklagten kein Verteidiger beistand (BayObLG, Beschluss vom 23.6.1998, NStE Nr. 20 zu § 302 StPO). Im Fall einer notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO ist dies die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. Meyer-Goßner § 302 Rn. 25 a m.w.N.). Eine neuere Rechtsprechung (u.a. OLG Naumburg NJW 2001, 2190) verlangt über eine fehlende Pflichtverteidigerbestellung hinausgehende Umstände (kein ausreichendes Erkennen der Bedeutung und Tragweite der Erklärung), um zur Unwirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts zu kommen.

Im konkreten Fall bedarf es keiner vertieften Auseinandersetzung mit dieser neueren Rechtsprechung, da eine Fallgestaltung notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegt und ein Mangel in der Prozessführung hinzukommt.

2. Es liegt ein Fall notwendiger Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor.

Allein von der Schwere der Tat her wäre eine Pflichtverteidigerbestellung nicht erforderlich gewesen. Die Schwere der Tat beurteilt sich in erster Linie nach den zu erwartenden Rechtsfolgen (BGHSt 6, 199; Meyer-Goßner § 140 Rn. 23 m.w.N. zur umfänglichen Rechtsprechung). Es gibt keine starre Regelung, ab welcher Straferwartung ein Verteidiger beizuordnen ist (vgl. u.a. OLG Zweibrücken NStZ 1986, 135). Es sind hierbei auch die weiteren Umstände des konkreten Falls heranzuziehen. So wird teilweise schon bei einer Straferwartung ab einem Jahr Freiheitsstrafe ein Anlass zur Beiordnung eines Strafverteidigers gesehen, andere Entscheidungen halten dies erst bei einer weit darüber hinausgehenden Freiheitsstrafe für erforderlich (vgl. Meyer-Goßner § 140 Rn. 23 mit Rechtsprechungsnachweisen).

Der Angeklagte musste nach dem Schuldvorwurf (massives Treten mit einem schweren Turnschuh in das Gesicht eines am Boden Liegenden, der helfend und streitschlichtend eingreifen wollte, mit der Verletzungsfolge eines Kieferbruchs) allerdings mit einer erheblichen Freiheitsstrafe rechnen. Die ausgesprochene Freiheitsstrafe von einem Jahr ist nach Auffassung des Senats keinesfalls überhöht. Auch unter Berücksichtigung einer erheblichen alkoholischen Enthemmung und eines bisher straffrei geführten Lebens war ein Strafausspruch in dieser Höhe schon vor Verhandlungsbeginn abzusehen. Da keine sonstigen schweren Nachteile drohten und mit der Aussetzung der Strafe zur Bewährung zu rechnen war, gebot diese Rechtsfolgenentscheidung allein aber noch keine Mitwirkung eines Verteidigers. Der Angeklagte war auch zur Selbstverteidigung fähig. Bei ihm sind als deutschem Staatsangehörigen mit deutscher Grund- und Realschulausbildung und einem folgenden Abschluss als Bürokaufmann trotz seiner ausländischen Herkunft bei fehlerfreien Sprachkenntnissen Verständigungsschwierigkeiten nicht zu besorgen (hierzu Meyer-Goßner § 140 Rn. 30 und 30 a).

Eine schwierige Sach- oder Rechtslage liegt ebenfalls nicht vor. Dass eine Beweisaufnahme mit mehreren Zeugen nötig ist, stellt sich allein nicht als schwierige Sachlage dar, da es allein darum ging, ob der Angeklagte in das Gesicht des am Boden liegenden Opfers getreten hat.

Zu der Straferwartung, die schon in einem Bereich liegt, bei dem die Beiordnung eines Verteidigers erwägenswert sein kann, kommt vorliegend jedoch hinzu, dass der Verletzte sich als Nebenkläger dem Verfahren angeschlossen hatte und anwaltlich vertreten war. Es erfolgte auch eine Mitwirkung der anwaltlichen Vertreterin des Nebenklägers bei der Beweisaufnahme.

Wegen dieses hinzutretenden Umstands hätte dem Angeklagten im vorliegenden Fall ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO beigeordnet werden müssen. Wird einem Verletzten ein Rechtsanwalt beigeordnet, so wird schon im Hinblick auf die gesetzliche Regelung des § 140 Abs. 2 StPO regelmäßig die Beiordnung eines Verteidigers geboten sein (Meyer-Goßner § 140 Rn. 31; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 78). Dies kann - muss aber nicht - Anlass sein, dass die Mitwirkung eines Verteidigers unter den Gesichtspunkten der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens geboten ist (vgl. OLG Zweibrücken NStZ-RR 2002, 112). Die Beweiserhebung und Beweiswürdigung war nicht völlig einfach gelagert. Bei Bestreiten der Tat und widersprüchlichen Zeugenaussagen trat durch die mögliche und durchgeführte Akteneinsicht des Nebenklägers ein erhebliches Ungleichgewicht auf (vgl. OLG Köln NStZ 1989, 542).

3. Vorliegend bedarf es keiner erneuten Entscheidung, ob ein Rechtsmittelverzicht schon deshalb unwirksam ist, weil entgegen § 140 Abs. 2 StPO die Bestellung eines Pflichtverteidigers unterblieben ist (hierzu Meyer-Goßner § 302 Rn. 25 a m.w.N.). Denn es liegt eine weitere prozessuale Besonderheit vor, die auch nach der zitierten abweichenden neueren Rechtsprechung zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führt.

Der Angeklagte hat nach ergangenem Eröffnungsbeschluss und erfolgtem Anschluss des Nebenklägers beantragt, ihm einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Dieser Antrag ging zwar erst wenige Tage vor Beginn der Hauptverhandlung ein. Vom Zeitablauf her konnte darüber ohne weiteres noch entschieden werden. Dieser Antrag wurde zwar der Staatsanwaltschaft zur Stellungnahme mitgeteilt, eine Entscheidung hierüber hat das Amtsgericht aber unterlassen.

Im Interesse der Rechtssicherheit sind an die Voraussetzungen für die Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts allerdings hohe Anforderungen zu stellen. In der Literatur wird aber zutreffend darauf hingewiesen, dass bei der Entscheidung, ob ein unwirksamer Rechtsmittelverzicht vorliegt, nicht alle Mängel, die einer Prozessführung zugrunde liegen, außer Acht bleiben können (Beulke NStZ 2002, 443). Der Angeklagte ist nicht nur Objekt des Verfahrens, es ist ihm vielmehr auch die Möglichkeit einzuräumen, das Verfahren maßgebend zu beeinflussen (Beulke aaO). Die unterlassene Entscheidung über den gestellten Pflichtverteidigerantrag rückt den Angeklagten in eine Rolle eines bloßen Verfahrensobjekts. Die unmittelbar nach Urteilsverkündung erfolgte Entgegennahme des Rechtsmittelverzichts des unverteidigten Angeklagten im Fall der notwendigen Verteidigung ist unwirksam, weil damit jedenfalls in Zusammenschau mit der unterlassenen Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung und dem Verfahrensungleichgewicht gegen das Gebot eines rechtsstaatlichen fairen Verfahrens verstoßen und die dem Angeklagten gegenüber obliegende Fürsorgepflicht des Gerichts verletzt wird (vgl. Peglau NStZ 2002, 464 m.w.N.).

4. Damit liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vor. Es war (wie oben dargelegt) die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlich. Die Abwesenheit eines Verteidigers in der Hauptverhandlung begründet diesen absoluten Revisionsgrund (BGHSt 15, 306).

5. Das Urteil des Amtsgerichts war wegen des aufgezeigten Mangels mit den Feststellungen aufzuheben (§§ 337, 353 StPO). Es bedarf keiner Entscheidung mehr hinsichtlich der auch erhobenen Rüge der Verletzung materiellen Rechts (Kuckein in KK/ StPO 5. Aufl. § 352 Rn. 18).

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