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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 08.09.2005
Aktenzeichen: 5 St RR 66/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 412
StPO § 329
In Ausnahmefällen kann das Zusammentreffen mehrerer besonderer Umstände das Vertrauen des Angeklagten darin, dass das Gericht seinem sehr kurzfristigen Verlegungsantrag stattgeben wird, rechtfertigen.
Tatbestand:

Mit Strafbefehl vom 8.6.2004 verhängte das Amtsgericht gegen den Angeklagten wegen Sachbeschädigung, Bedrohung und Beleidigung eine Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 40 EUR. Den dagegen eingelegten Einspruch verwarf das Amtsgericht am 19.7.2004 gemäß § 412 StPO ohne Verhandlung zur Sache. Die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht am 6.12.2004 als unbegründet verworfen.

Gegen dieses Urteil wandte sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Die Revision hatte mit der Rüge, das Berufungsgericht habe die Verwerfung des Einspruchs durch das Amtsgericht nicht bestätigen dürfen, Erfolg (§ 337 StPO).

Gründe:

1. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht ist diese Verfahrensrüge formgerecht erhoben (§ 344 Abs.2 Satz 2 StPO). An die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge gegen ein Verwerfungsurteil sind nämlich grundsätzlich keine strengen Anforderungen zu stellen. Wird in der Revisionsbegründung unter Angabe bestimmter Tatsachen ausgeführt, das Gericht habe das Fernbleiben nicht als unentschuldigt ansehen dürfen, bezieht bereits dieser Vortrag den Inhalt des angefochtenen Urteils unmittelbar in die Argumentation mit ein (OLG Brandenburg NStZ 1996, 249/250; OLG Düsseldorf VRS 78, 129; OLG Köln VRS 75, 113/115; Meyer-Goßner StPO 48.Aufl. § 329 Rn.48). Enthält das Urteil Feststellungen zu einem möglichen Entschuldigungsvorbringen, reicht dieses verbunden mit der Beanstandung im Übrigen im Rahmen der Revision aus. Zur formgerechten Begründung einer Verfahrensrüge gegen ein Verwerfungsurteil bzw. ein diese Verwerfung bestätigendes Berufungsurteil reicht es deshalb aus, wenn die Revision unter Angabe bestimmter Tatsachen ausführt, das Gericht habe den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt (vgl. OLG Köln aaO).

Zwar rügt die Revision in der Begründung vom 13.1.2005 einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens und der Verletzung der §§ 137, 213 StPO. In dem Vortrag zu dieser Rüge, der vom Verteidiger gestellte Terminsverlegungsantrag sei vom Amtsgericht zu Unrecht abgelehnt worden (Revisionsbegründung S.2), ist inzident auch die Rüge enthalten, der Begriff der genügenden Entschuldigung sei verkannt worden. Danach genügt die Revisionsbegründung in Verbindung mit den Urteilsgründen des Berufungsurteils den Formerfordernissen des § 344 Abs.2 Satz 2 StPO.

2. Die Rüge ist auch begründet, weil sowohl das Amtsgericht wie auch das Landgericht aufgrund des von diesem zu berücksichtigenden weiteren Tatsachenvorbringens (Meyer- Goßner § 412 Rn.10) den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt haben.

a) Die Strafkammer hat folgenden Sachverhalt festgestellt:

"Am 8.6.2004 erließ das Amtsgericht gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen Sachbeschädigung, Bedrohung und Beleidigung. Die Zustellung des Strafbefehls an den Angeklagten unter seiner Wohnanschrift in den Niederlanden per Einschreiben mit Rückschein wurde am 8.6.2004 verfügt und erledigt. Ein Zustellungsnachweis befindet sich nicht im Akt.

Am 21.6.2004 ging per Telefax eine "Beschwerde" des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 8.6.2004 beim Amtsgericht Laufen ein, wobei der Angeklagte formulierte:

,Ich will Ihnen wissen lassen, dass ich Beschwer mach gegen die Strafmaße, weil ich die Strafe zu hoch find.'

Das Amtsgericht bestimmte am 24.6.2004 Hauptverhandlungstermin auf den 19.7.2004, 11.00 Uhr. Das persönliche Erscheinen des Angeklagten wurde nicht angeordnet. Die Ladung wurde dem Angeklagten am 29.6.2004 per Einschreiben mit Rückschein zugestellt.

Die Ladung ging dem Angeklagten ausweislich des Rückscheins unter seiner Wohnanschrift in den Niederlanden am Dienstag, 29.6.2004, zu. Das Schriftstück wurde von einer dritten Person entgegen genommen. Am Freitag, 16.7.2004, ging um 18.23 Uhr per Fax beim Amtsgericht die Vertretungsanzeige des Verteidigers des Angeklagten ein mit dem Antrag, den Hauptverhandlungstermin vom Montag, 19.7.2004, zu verlegen. Zugleich beantragte der Verteidiger Akteneinsicht.

Das Telefax wurde dem Amtsrichter am Vormittag des 19.7.2004 vorgelegt. Er beschloss sogleich, dass der Hauptverhandlungstermin vom 19.7.2004 aufrecht erhalten bleibt und begründete diese Entscheidung handschriftlich damit, dass eine Verlegung des Termins nicht veranlasst ist, zumal dem Angeklagten bereits am 29.6.2004 die Ladung zugegangen sei. Akteneinsicht könne von dem Verteidiger kurz vor dem Termin erfolgen. Der Akt umfasse wenige Seiten und der Einspruch sei auf das Strafmaß beschränkt.

Diese Entscheidung ging dem Verteidiger des Angeklagten per Fax am 19.7.2004 um 8.19 Uhr zu.

Bei Sitzungsbeginn am 19.7.2004 um 11.15 Uhr erschienen weder der Angeklagte, noch sein Verteidiger. Um 11.30 Uhr verkündete der Amtsrichter sein Urteil, durch das der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 8.6.2004 nach § 412 StPO verworfen wurde. In den Urteilsgründen ist ausgeführt, dass der Terminsverlegungsantrag unmittelbar vor dem Termin abgelehnt wurde und für den Angeklagten und seinen Verteidiger dieser verspätete Antrag ersichtlich eine Zumutung gewesen sei, der nicht Folge geleistet werden würde."

Im Übrigen führte die Berufungskammer u.a. aus, dass der Angeklagte angegeben habe, am 2.7.2004 sei ihm eine Arbeitsstelle nachgewiesen worden. An der überraschend nachgewiesenen Arbeitsstelle habe er am 5.oder 6.7.2004 zu arbeiten angefangen. Weil er nicht gleich am Beginn des Arbeitsverhältnisses Urlaub für die Wahrnehmung des Termins habe beantragen wollen, habe er sich um die Beauftragung eines sprach- und sachkundigen Rechtsanwalts bemüht. Schließlich habe er erst am 16.7.2004 seinen Verteidiger mit der Terminswahrnehmung beauftragt.

Wie sich aus der Revisionsbegründung verbunden mit dem die Berufungsverhandlung vorbereitenden Schriftsatz vom 1.12.2004 (Bl.74/75 d.A.) weiter ergibt, hatte der Angeklagte diese Arbeitsstelle nach Arbeitslosigkeit gefunden.

b) Die Strafkammer folgt der Angabe des Angeklagten, er habe die Ladung erst verspätet erhalten, wegen Unstimmigkeiten in seinen Angaben zum Zeitablauf nicht. Das Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 19.7.2004 sei nicht genügend entschuldigt. Sie begründet dies damit, dass, falls der Angeklagte spätestens am 2.7.2004 von einer Arbeitsmöglichkeit Kenntnis erlangt habe und entschieden habe, den Termin vom 19.7.2004 nicht selbst wahrzunehmen, er ausreichend Zeit (Gelegenheit) gehabt habe, für eine Vertretung im Termin am 19.7.2004 zu sorgen. Bei dieser Sachlage habe der Amtsrichter dem Interesse einer beschleunigten Führung des Strafverfahrens Vorrang geben können gegenüber dem Interesse des Angeklagten an einem späteren Termin von dem gewählten Verteidiger vertreten zu werden.

c) Diese Begründung vermag die Annahme einer nicht genügenden Entschuldigung nicht zu tragen.

Der Begriff "genügende Entschuldigung" darf nicht eng ausgelegt werden. § 329 StPO ist eine aufs engste auszulegende Ausnahmevorschrift (Meyer-Goßner § 329 Rn.2). Eine genügende Entschuldigung ist anzunehmen, wenn nach den konkreten Umständen des Einzelfalls dem Angeklagten wegen seines Ausbleibens billigerweise kein Vorwurf zu machen ist (KK/Ruß StPO 5.Aufl. § 329 Rn.10 m.w.N; BayObLG JR 2000, 80/81). § 412 StPO i.V.m. § 329 Abs.1 StPO enthält eine Ausnahme von der Regelung, dass ohne den Angeklagten (bzw. in Strafbefehlsverfahren ohne einen zur Vertretung Berechtigten, § 411 Abs.2 StPO) nicht verhandelt werden darf und birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich. Da der Vorschrift unter anderem die Annahme zugrunde liegt, der säumige Angeklagte habe an der Durchführung einer Hauptverhandlung und damit an der sachlichen Überprüfung eines Urteils (Strafbefehls) kein Interesse mehr, ist deren Anwendung nur gerechtfertigt, wenn der Angeklagten tatsächlich nicht entschuldigt ist. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob er sich entschuldigt hat, sondern ob er entschuldigt ist (Meyer-Goßner § 329 Rn.18). Daraus folgt auch, dass bei der Prüfung vorgebrachter oder vorliegender Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten angebracht ist (KK/Ruß aaO.). Dabei sind die Umstände des Einzelfalls und die Verhältnisse des Angeklagten zu berücksichtigen. Sie sind mit der öffentlich-rechtlichen Pflicht abzuwägen, in der Hauptverhandlung zu erscheinen.

Grundsätzlich hat ein Angeklagter keinen Anspruch auf die Verlegung eines Termins. Über solche Anträge ist nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten und des Gebots der Verfahrensbeschleunigung zu entscheiden (Meyer-Goßner § 213 Rn.7; § 228 Rn.10). Ist ein Verlegungsantrag gestellt, hat das Gericht sämtliche ihm bekannten Umstände in seine Überlegung einzubeziehen und abzuwägen, wobei im Zweifel das Verteidigungsinteresse des Angeklagten Vorrang hat (BayObLG DAR 2001, 83). Das Recht des Angeklagten, den Beistand eines Verteidigers seines Vertrauens zu erhalten, ist insbesondere bei Terminsverlegungsanträgen zu beachten (KK/Tolksdorf § 213 Rn 4b). Diese Grundsätze gelten auch für die gebotene Abwägung bei der Frage der genügenden Entschuldigung. Wurde ein Verlegungsantrag rechtsfehlerhaft abgelehnt, kann dies das Fernbleiben des Angeklagten entschuldigen (Meyer-Goßner § 329 Rn.25).

Sowohl das Erstgericht wie auch die Berufungskammer haben ersichtlich lediglich darauf abgestellt, dass der Verlegungsantrag zu Recht abgelehnt worden ist, weil sich der Angeklagte früher um einen vertretungsbereiten Anwalt hätte kümmern müssen und - so das Amtsgericht - ihm und dem Verteidiger erkennbar war, dass der kurzfristige Verlegungsantrag eine Zumutung darstellte, der nicht nachgekommen werden würde. Der Zeitpunkt des Verlegungsantrags ist aber nur einer der Punkte, die in die Abwägung der gegenseitigen Interessen mit einzubeziehen sind. Demgegenüber lassen weder das Urteil des Amtsgerichts noch das Urteil des Landgerichts erkennen, dass in die erforderliche Abwägung einbezogen worden wäre, dass die Ladung des Angeklagten zum Termin, wenn auch innerhalb der Ladungsfrist, relativ kurzfristig lediglich drei Wochen vor dem Termin erfolgt war, dass der Angeklagte nicht am Gerichtsort, sondern weit entfernt in den Niederlanden wohnt, dass es sich um einen Ausländer handelte, der, wie bereits das mitgeteilte Einspruchsschreiben zeigt, der deutschen Sprache nicht vollständig mächtig ist, es sich um ein Strafbefehlsverfahren handelte und der Angeklagte sich im Strafbefehlsverfahren auch vertreten lassen kann (§ 411 Abs.2 StPO).

Die äußerst kurzfristige Beauftragung eines Verteidigers und Vertreters ist nicht für sich gesehen schon Grund genug, einen Verlegungsantrag abzulehnen. Sie ist nur dann von Gewicht, wenn aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung bzw. der reibungslosen Durchführung der Hauptverhandlung, weil z.B. bereits Zeugen geladen sind, oder wegen der angespannten Terminslage des Gerichts eine Verlegung untunlich ist oder der Angeklagte ersichtlich nur eine Verzögerung des Verfahrens erstrebt. Solche Umstände sind nicht festgestellt. Bei der hier gegebenen Sachlage wiegt ein etwaiges Verschulden des Angeklagten an der kurzfristigen Beauftragung eines sprachkundigen deutschen Anwalts, zumal es sich um den ersten Zugang zu Gericht handelte, nicht so schwer, dass die Ablehnung des Terminsverlegungsantrages gerechtfertigt war.

Der Angeklagte konnte ausnahmsweise darauf vertrauen, dass dem Verlegungsantrag trotz der Kurzfristigkeit stattgegeben würde. Gerade in Zeiten der schwierigen Arbeitssuche ist es nachvollziehbar, dass er die Arbeitsstelle nicht mit einem kurzfristigen Urlaubswunsch belasten wollte und einen Vertreter beauftragt. Dass er sich als Ausländer, der der deutschen Sprache nicht vollständig mächtig ist, dazu einen sprachkundigen Anwalt besorgt, ist mehr als nachvollziehbar. Dass dies unter den gegebenen Umständen eine gewisse Zeit beansprucht, liegt auf der Hand. Dass der Vertreter angesichts der kurzfristigen Beauftragung und, was ersichtlich auch auf der Hand liegt, wegen erschwerter Kommunikation aufgrund der Entfernung zu dem Angeklagten und dem Gericht einen Terminsverlegungsantrag mit einem Antrag auf Akteneinsicht stellt und stellen muss, um die Verteidigung und Vertretung sachgerecht durchführen zu können, ist keine Zumutung sondern gerechtfertigt. Demgegenüber ist kein besonderes Beschleunigungsinteresse ersichtlich. Gerade in einem Strafbefehlsverfahren ist, wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wiedereinsetzung bei Fristversäumung zeigt, bei der Frage des Verschuldens, wenn es sich um die Möglichkeit des ersten Zugangs zu Gericht handelt, ein großzügiger Maßstab anzulegen ist (Meyer-Goßner § 44 Rn.11). Danach konnte der Angeklagte darauf vertrauen, dass dem Verlegungsantrag stattgegeben wird. Die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts (SchlHA1976, 159), dass ein Angeklagter nicht darauf vertrauen dürfe, dass einem kurz vor der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen stattgegeben werde, steht dem nicht entgegen. Sie betrifft einen anderen Sachverhalt.

Wegen des aufgezeigten Mangels sind das Urteil des Landgerichts und das Urteil des Amtsgerichts aufzuheben (§ 337, § 353 StPO; Meyer-Goßner § 412 Rn.11, KK Fischer § 412 Rn.24 je m.w.N.) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen, § 354 Abs.2 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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