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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Beschluss verkündet am 11.02.2009
Aktenzeichen: 1 Ws 30/09 H
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121
StPO § 122
1. Ist nach den Umständen des Einzelfalles vom Vorliegen der Eröffnungsreife bereits vor Erlass des Eröffnungsbeschlusses auszugehen, so ist bei der Prüfung, ob das Beschleunigungsgebot in Haftsachen beachtet wurde, auf den Zeitpunkt des Eintritts der Eröffnungsreife und nicht auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Erlasses des Eröffnungsbeschlusses abzustellen.

2. Das Führen von Verständigungsvorgesprächen rechtfertigt es bei Eintritt der Eröffnungsreife in Haftsachen regelmäßig nicht, den Eröffnungsbeschluss erst nach Beendigung der Vorgespräche zu erlassen. Dem Führen derartiger Gespräche kann bei der Terminierung Rechnung getragen werden, wobei auch hier im Regelfall zu beachten ist, dass die Hauptverhandlung - sofern nicht sonst besondere Umstände vorliegen - spätestens drei Monate nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses bzw. nach Eintritt der Eröffnungsreife zu beginnen hat.


1 Ws 28/09 H 1 Ws 29/09 H 1 Ws 30/09 H 1 Ws 33/09 H 1 Ws 34/09 H

Nürnberg, den 11. Februar 2009

In dem Strafverfahren

wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs,

hier: Haftprüfung nach §§ 121,122 StPO

erlässt der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg durch die unterzeichneten Richter folgenden

Beschluss:

Tenor:

Die Haftbefehle des Amtsgerichts Nürnberg vom 12.6.2008 mit den Aktenzeichen 58 Gs 8957/08, 58 Gs 8945/08, 58 Gs 8948/08, 58 Gs 8966/08 und 58 Gs 8951/08 werden aufgehoben.

Gründe:

Die Angeklagten D, G, G, G und G befinden sich seit dem 18.12.2007 zuletzt aufgrund der im Tenor bezeichneten Haftbefehle ununterbrochen in Untersuchungshaft, ohne dass bisher ein Urteil gegen sie ergangen ist.

Der Senat hat im besonderen Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO bereits zweimal die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet (Beschlüsse vom 3.7.2008 und vom 16.10.2008).

Die an sich gerechtfertigten Haftbefehle sind nunmehr aufzuheben, da das Verfahren - obwohl die polizeilichen Ermittlungen am 5.8.2008 und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft am 13.8.2008 abgeschlossen wurden und die am 13.8.2008 gefertigte Anklage am 21.8.2008 erhoben wurde - nicht die in Haftsachen gebotene, auf den Freiheitsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK beruhende Beschleunigung erfahren hat. Mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot ist es unvereinbar, dass die 13. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth - entgegen der Erwartung des Senats im Beschluss vom 16.10.2008 - die Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache immer noch nicht begonnen, sondern erst für den Zeitraum ab 20.3. 2009 und damit erst 7 Monate nach Eingang der Anklage vorgesehen hat.

1. a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der (Anordnung und) Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv entgegen gehalten werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt insoweit, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG StV 2008, 421 m.w.N.). Die Schwere der Tat und die im Raum stehende Straferwartung sind dabei nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit § 121 StPO ohne jede Bedeutung (BVerfG StV 2007, 369).

Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor dem Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 271). Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils ist dabei nur in besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen (BVerfG StV 2008, 198). Kommt es zu sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte nicht zu vertreten hat, so steht bereits die Nichtbeachtung des Beschleunigungsgebotes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfG NJW 2006, 1336 m.w.N.).

b) Weiter ist nach der inzwischen in einer Vielzahl von Entscheidungen herausgearbeiteten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte dem Beschleunigungsgebot - sofern nicht besondere Umstände vorliegen - regelmäßig nur dann Genüge getan, wenn innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung begonnen wird (vgl. BVerfG StV 2007, 366 m.w.N., OLG Nürnberg StraFo 2008, 469). Hier ist primär zwar auf den förmlichen Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses abzustellen, darüber hinaus ist aber auch zusätzlich zu prüfen, ob bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Eröffnungsreife gegeben war. Denn mit dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot wäre es unvereinbar, wenn das Gericht trotz bestehender Eröffnungsreife den Erlass des Eröffnungsbeschlusses etwa nur deshalb aufschiebt, um einen größeren zeitlichen Spielraum für die nachfolgende Terminierung zu erlangen. Dabei kann im Regelfall die Eröffnungsreife frühestens mit Ablauf der Einlassungsfrist gem. § 201 Abs. 1 StPO eintreten und setzt weiter voraus, dass das Gericht den Inhalt der Akten umfassend geprüft hat, so dass das Vorliegen des hinreichenden Tatverdachtes im Sinne des § 203 StPO beurteilt werden kann. Soweit dies nach den Umständen des Einzelfalles allerdings angenommen werden muss, ist bei der Prüfung, ob das Beschleunigungsgebot beachtet wurde, auf den Zeitpunkt des Eintritts der Eröffnungsreife abzustellen und nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Eröffnungsbeschlusses. In diesem Zusammenhang ist ferner zu beachten, dass der Eintritt der Eröffnungsreife auch nicht durch die Bestimmung einer überlangen Einlassungsfrist hinausgeschoben werden darf. Mit zunehmender Haftdauer sind wegen des Beschleunigungsgrundsatzes auch hier zu lang bemessene Fristen zu vermeiden (vgl. Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 201 Rdn. 19).

Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte und von den Oberlandesgerichten in vielen Einzelfällen umgesetzte Dreimonatsfrist, innerhalb derer die Hauptverhandlung beginnen muss, ist keine schematische Ausschlussfrist, nach deren Ablauf der Haftbefehl automatisch aufgehoben werden muss. Bei der Frage, ob der Beginn der Hauptverhandlung noch zügig anberaumt wurde, kommt es wiederum auf die Umstände des Einzelfalles an und es gibt sehr wohl Fallgestaltungen, die eine Terminierung jenseits der Dreimonatsgrenze rechtfertigen können. So mag etwa im Rahmen einer ins Auge gefassten Absprache es sachlich gerechtfertigt sein, die Hauptverhandlung auch später als drei Monate nach dem Eröffnungsbeschluss oder dem Zeitpunkt der Eröffnungsreife anzusetzen.

2. Bei Beachtung dieser Vorgaben sind die Haftbefehle des Amtsgerichts Nürnberg vom 12.6.2008 aufzuheben. Die Kammer hat trotz erkennbar bejahter Eröffnungsreife nicht innerhalb eines weiteren Zeitraums von drei Monaten die Hauptverhandlung anberaumt. Es sind auch keine Umstände ersichtlich, die eine Verlängerung des Zeitraums zwischen Eröffnungsreife und Hauptverhandlung begründen könnten.

a) Nach Eingang der Anklage beim Landgericht Nürnberg-Fürth am 21.08.2008 hat der Vorsitzende der 13. Strafkammer mit Verfügung vom 2.9.2008 die Zustellung der Anklageschrift angeordnet und eine Einlassungsfrist von sechs Wochen gesetzt, wobei für das vorliegende Verfahren dahinstehen kann, ob deren Dauer noch angemessen war. Die Eröffnungsreife war - wie sich aus dem Gang des Verfahrens und dem Aktenvermerk des Vorsitzenden vom 3.12.2008 ergibt - vorliegend unter Berücksichtigung der am 15.9.2008 zuletzt erfolgten Zustellung allerdings schon nach Ablauf der Einlassungsfrist am 28.10.08 gegeben.

aa) Innerhalb der Einlassungsfrist haben die Angeklagten gemäß § 201 Abs. 1 StPO keine Einwendungen gegen die Eröffnung vorgebracht oder weitere Beweiserhebungen beantragt; auch die Strafkammer hat keine weiteren Beweiserhebungen gemäß § 202 StPO angeordnet. Dass vorliegend mit Ablauf der Einlassungsfrist am 28.10.2008 auch bereits Eröffnungsreife eingetreten war, ergibt sich aus dem Beschluss vom 24.9.2008. Die Strafkammer hat bei unveränderter Entscheidungsgrundlage den dringenden Tatverdacht bejaht und Haftfortdauer angeordnet (zum Verhältnis von hinreichendem und dringenden Tatverdacht im Rahmen der Eröffnungsentscheidung siehe auch OLG München StV 2007, 591). Sieht das Gericht aufgrund der Tatsachenplattform, die der Anklage zugrunde liegt den "dringenden Tatverdacht' als gegeben an, so ist damit auch über den "hinreichenden Tatverdacht" im Sinne des Eröffnungsbeschlusses gemäß § 203 StPO mitentschieden. Denn "dringender Tatverdacht" bedeutet, dass bei freier Beweiswürdigung aufgrund der aktuellen Beweis- und Verfahrenslage eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Verurteilung in einer Hauptverhandlung gegeben ist, d.h. ein höherer Grad an Wahrscheinlichkeit als der "hinreichende Tatverdacht" i.S.v. § 203 StPO, aber geringer als die zur Verurteilung ausreichende Sicherheit (Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. § 112 Rdn. 6).

bb) Dass das Gericht das Vorliegen des hinreichenden Tatverdachts bereits geprüft und für gegeben erachtet hatte, ergibt sich aber nicht nur aus der Haftfortdauerentscheidung unter Bejahung des dringenden Tatverdachtes, sondern auch daraus, dass der Vorsitzende der 13. Strafkammer ausweislich des Aktenvermerks vom 3.12.2008 bereits seit Anfang Oktober 2008 Vorgespräche mit Staatsanwaltschaft und Verteidigern über eine verfahrensbeschleunigende Verständigung geführt hatte. Die Kammer ging somit seit Anfang Oktober vom Vorliegen des hinreichenden Tatverdachts aus, denn das Führen derartiger Gespräche setzt nach der Entscheidung des Großen Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur Absprachenpraxis eine pflichtgemäße Prüfung der Anklage in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht voraus (vgl. BGH NJW 2005, 1442 m.w.N.).

cc) Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Kammer den hinreichenden Tatverdacht geprüft und für gegeben erachtet hatte, stand einer Eröffnungsentscheidung nach Ablauf der Einlassungsfrist somit nichts mehr im Wege. Wichtige Gründe, die es vorliegend gerechtfertigt hätten, die Eröffnung zu einem späteren Zeitpunkt vorzunehmen, sind nicht ersichtlich. Allein der Umstand, dass die Kammer offenkundig von Oktober bis Ende Dezember 2008 im Ergebnis vergeblich versucht hat, eine umfassende Verständigung herbeizuführen, reicht hierfür nicht aus. Sofern zureichende Aussicht auf einen erfolgreichen Verlauf der Vorgespräche bestanden hätte, wäre die Kammer vorliegend gleichwohl nicht gehindert gewesen, bereits nach Ablauf der Einlassungsfrist den Eröffnungsbeschluss zu erlassen.

b) Der nunmehr vorgesehene Beginn der Hauptverhandlung am 20.3.2009 liegt - bezogen auf den Zeitpunkt der Eröffnungsreife - jenseits der Dreimonatsgrenze, ohne dass auch hierfür besondere Umstände gegeben wären, die eine spätere Terminierung rechtfertigen würden.

Auch in diesem Zusammenhang kann nicht auf die laufenden Gespräche und die damit verbundene Ungewissheit, in welchem Umfang in der Hauptverhandlung eine Beweisaufnahme erforderlich sein würde, abgestellt werden. Die Kammer hätte zwar mit der Terminierung zumindest so lange zuwarten dürfen, bis die Erfolgsaussichten der Vorgespräche hinreichend beurteilt werden konnten. Auf jeden Fall hätte dabei aber der Beginn der Hauptverhandlung bis spätestens 29.1.2009 sichergestellt werden müssen. Zudem ist dem Aktenvermerk des Kammervorsitzenden vom 3.12.2008 zu entnehmen, dass jedenfalls hinsichtlich des Angeschuldigten M. G. bereits zum damaligen Zeitpunkt eine Verständigung nicht mehr in Betracht kam, so dass weitere Gespräche bezüglich der anderen Angeklagten immer auch unter Beachtung der Problematik des Geständnisses "zu Lasten Dritter" (vgl. BGH NJW 2005, 1440) zu führen waren. Schon deshalb zeichnete sich die Notwendigkeit der Durchführung einer umfassend vorbereiteten Hauptverhandlung ab.

c) Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass - ausschließlich unter Zugrundelegung des Verfahrens, wie es die Kammer selbst bewertet hat - am 28.10.2008 Eröffnungsreife eingetreten war und auch keine wichtigen Gründe vorhanden waren, das Hauptverfahren zu einem späteren Zeitpunkt zu eröffnen. Es sind darüber hinaus auch keine besonderen Umstände ersichtlich, die es rechtfertigen würden, die Hauptverhandlung erst nach dem 28.1.2009 beginnen zu lassen.

3. Soweit die Hauptverhandlung nunmehr auf der Grundlage eines erst am 12.1.2009 gefassten Eröffnungsbeschlusses am 20.3.2009 mit einem Umfang von 15 Verhandlungstagen beginnen soll, liegt unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich eingetretenen Dauer der Untersuchungshaft von über einem Jahr eine sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerung vor. Liegt jedoch kein gewichtiger Grund für die Verzögerung des Verfahrens vor, so ist wegen des eindeutigen Gesetzeswortlauts auch in Fällen der Schwerkriminalität eine Abwägung zwischen den Schutzinteressen der Allgemeinheit und dem Beschleunigungsgebot ausnahmslos unzulässig (BVerfG StV 2006, 703; StV 2007, 366, 369; Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. § 121 Rdn. 20; Hilger in LR StPO § 121 Rdn. 6). Der Senat ist deshalb verfassungsrechtlich gehalten, die Haftbefehle des Amtsgerichts Nürnberg vom 12.6. 2008 aufzuheben.

Ende der Entscheidung

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