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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 23.12.2003
Aktenzeichen: 3 U 2666/03
Rechtsgebiete: HPflG, AEG


Vorschriften:

HPflG § 1
AEG § 2
Der Infrastrukturbetreiber nach § 2 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ist nicht Betriebsunternehmer im Sinne des § 1 HPflG (gegen OLG Stuttgart, Urteil v. 12.2.2003, 4 U 180/02 in VersR 2003, 648f).
Oberlandesgericht Nürnberg IM NAMEN DES VOLKES ENDURTEIL

3 U 2666/03

Verkündet am 23.12.2003

In Sachen

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Seidel, den Richter am Oberlandesgericht Hauck und die Richterin am Oberlandesgericht Scheib aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9.12.2003

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 16.7.2003 - Az. : 6 O 804/03 - wird zurückgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die gegen sie gerichtete Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe des Betrages, den die Beklagte vollstreckt, abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Beschluß:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 7.051,87 EURO festgesetzt.

Gründe:

(nach § 540 ZPO):

Die Klägerin ist Bahnverkehrsunternehmerin und lässt auf der Bahnstrecke Cham/Kothmaißling Triebwagen auf Schienen fahren, die von der Beklagten als sog. Infrastrukturbetreiberin bereit gestellt werden. Am 30.6.2001 gegen 23.11 Uhr kollidierte auf dieser Strecke der Triebwagen der Klägerin mit einem auf den Schienen liegenden Baum. Dieser war infolge einer gewitterbedingten Sturmböe abgebrochen und auf den Schienen liegen geblieben. Am Triebwagen der Klägerin entstand ein Sachschaden in Höhe von rund 10.000,-- EURO. Rund 7.000,-- EURO verlangt die Klägerin nach § 1 HPflG von der Beklagten. Das Landgericht hat sich in erster Instanz auf den rechtlichen Standpunkt gestellt, daß sowohl die Klägerin als auch die Beklagte Betriebsunternehmerin im Sinne des § 1 HPflG sind. Im Gegensatz zum Oberlandesgericht Stuttgart (Urteil vom 12.2.2003, Az.: 4 U 180/02, VersR 2003, 648 f) hat allerdings das Landgericht Regensburg die Auffassung vertreten, dass dennoch keine Haftung nach § 1 HPflG bestünde, da diese Haftpflicht nur zugunsten Dritter, aber nicht zwischen zwei Betriebsunternehmern zum Tragen komme.

Die Klägerin hat dagegen Berufung eingelegt, da ihrer Aussicht nach auch zwischen den Parteien § 1 HaftpflG Anwendung finden müsse.

Sie stellt folgenden Antrag:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 16.7.2003, Gz.: 6 O 804/03, abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EURO 7.051,87 nebst 6 % Zinsen seit 22.01.2003 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Berufung.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

B.

I. Zunächst ist folgende Klarstellung veranlasst:

Die Anwendung des § 1 HPflG kann nicht unter Hinweis auf § 1 Abs. 2 HPflG, d.h. auf wesentlich unproblematischere Weise ausgeschlossen werden, weil hier der Schaden nicht in Folge höherer Gewalt eingetreten ist. Unter "höherer Gewalt" versteht die Rechtsprechung (Nachweise siehe bei Filthaut HPflG, 6. Auflage, Anmerkungen 158 ff. zu § 1), auch bei Naturereignissen nur ganz ungewöhnliche Ereignisse. Dazu ist ein Gewitter, wenn auch begleitet von Sturmböen nicht zu zählen. Schienenwege verlaufen nun einmal grundsätzlich im Freien und führen auch durch Waldgebiete. Sie sind Wind und Wetter ausgesetzt. Solche Ereignisse wie ein Gewitter ist dem Bahnbetrieb immanent. Im konkreten - Fall war das Ausmaß auch keineswegs aus dem Rahmen fallend oder absolut - ungewöhnlich.

2. Zwischen den Parteien steht zu Recht auch Einigkeit, dass eine Haftung der Beklagten wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht nicht zur Diskussion steht. Das Liegenbleiben des Baumes ist zwar nicht als höhere Gewalt zu qualifizieren, jedoch kann der Beklagten sicherlich ein Verschulden in diesem Zusammenhang nicht vorgeworfen werden, lag der Baum doch nur eine halbe Stunde auf den Schienen.

II. Eine Haftung der Beklagten für den hier streitgegenständlichen Schadenseintritt nach § 1 HPflG, also aufgrund einer reinen Gefährdungshaftung, ist zu verneinen, weil die Beklagte nicht als Betriebsunternehmerin im Sinne des § 1 HPflG zu qualifizieren ist.

Der Senat ist sich bewusst, dass er sich mit dieser Ansicht in Widerspruch zu der derzeit herrschenden Meinung in der Literatur setzt (Nachweis über den Meinungsstand s. Tschersich, VersR 2003, 962 ff. und Filthaut, VersR 2003, 1512 ff). Die abweichende Meinung des Senats beruht auf folgenden Erwägungen.

1. Schon vor dem Haftpflichtgesetz gab es das Reichshaftpflichtgesetz aus dem Jahr 1871 mit seiner noch etwas strengeren Gefährdungshaftung. Hintergrund dieser strengen Haftung, d.h. einer Haftung ohne Verschulden war die Ansicht, dass der Eisenbahnverkehr etwas grundsätzlich Gefährliches ist. Es werden große und noch dazu schwer abbremsbare Massen mit durchaus beachtlichen Geschwindigkeiten bewegt. Diese Bewegung erfolgt auch noch schienengebunden. Dieses große Gefährdungspotential rechtfertigte nach Auffassung des Gesetzgebers bereits vor über 130 Jahren und auch noch nach Auffassung des modernen Gesetzgebers eine Gefährdungshaftung.

Als diese Gesetzt geschaffen worden sind, gab es die jetzt vorhandene Zweiteilung des Bahnbetriebes, d.h. den sog. "dualistischen Eisenbahnbegriff" noch nicht. Wieder einmal bedingt durch das europäische Zusammenwachsen und bedingt durch die Vorstellungen der EG- nämlich dass Eisenbahnnetze europaweit für den Wettbewerb geöffnet werden sollten -, erfolgte eine Zerlegung des früher einheitlichen Bahnbetriebes (früher Reichsbahn, dann Bundesbahn, dann Bahn-AG): Es entstand der sog. Eisenbahnverkehrsunternehmer und der Eisenbahninfrastrukturunternehmer (siehe § 1 und § 2 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes aus dem Jahre 1993 BGBl I, 2396 ff). Aus dieser Zerlegung resultiert auch die Tatsache, dass sich heute auf der Klägerseite die ... Bahnbetriebs-GmbH als eigentliche Eisenbahnverkehrsunternehmerin und auf der anderen Seite die ... AG als Eisenbahninfrastrukturunternehmerin gegenüber stehen.

Es ist also ein Gesetz anzuwenden, dem diese Aufteilung völlig fremd war. Daraus folgt die Schwierigkeit, mit einem Gesetz arbeiten zu müssen, welches einen Betriebsunternehmerbegriff aus vergangenen Zeiten enthält, den es so heute nicht mehr gibt. Der Senat ist deshalb der Meinung, dass der Unternehmensbegriff im Sinne des § 1 HPflG nicht mit dem im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 AEG, nämlich dem des Eisenbahninfrastrukturunternehmersbegriffes identisch ist. Anknüpfungspunkt für diese strenge Haftung war, wie bereits oben dargelegt, die besondere Gefährlichkeit, die mit dem eigentlichen Zugbetrieb einher geht. Dies schließt die Subsumion des Infrastrukturunternehmers unter den Begriff des Unternehmers im Sinne des § 1 HPflG eigentlich aus.

2. Hier muss sich der Senat natürlich mit dem Argument der Gegenseite auseinandersetzen, dass die Schienengebundenheit auch ein Teil des Gefahrenpotentials ist, welches zur Begründung der Gefährdungshaftung geführt hat: Da der Infrastrukturunternehmer die Sicherheit des Betriebes im Gefolge der Sicherheit seiner Schienenwege doch ganz erheblich beeinflussen könne, führe die tatsächliche Möglichkeit der Beherrschung der Infrastruktur dazu, auch den Infrastrukturunternehmer als Betriebsunternehmer zu qualifizieren. So argumentiert offensichtlich das OLG Stuttgart (a.a.O.) unter Hinweis auf die von ihm zitierte Dissertation von T. Dem ist jedoch Folgendes entgegenzuhalten:

Ohne tatsächlichen Betrieb verwirklicht sich ein Gefahrenpotential nicht. Es ergibt sich durch den Zustand der Schienen. Dann aber reicht es aus, mit der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht zu argumentieren, eines Rückgriffs auf die Gefährdungshaftung bedarf es nicht.

Auch der außenstehende Dritte ist bei diesem Verständnis des Unternehmerbegriffes hinreichend geschützt:

Er hat nach wie vor über § 1 HPflG einen Anspruchsgegner, nämlich den eigentlichen Bahnverkehrsunternehmer. Bei Verletzung der Verkehrssicherungspflicht bezogen auf die Infrastruktur kann er auch Ansprüche gegen den Infrastrukturunternehmer erheben.

Im übrigen ist es auffallend, dass es einer absolut gesicherten Rechtsprechung entspricht, an die Bereitstellung der Infrastruktur als solche gerade keine Gefährdungshaftung zu knüpfen. Keiner kommt auf die Idee, z.B. dann, wenn ein Radfahrer oder ein Fußgänger im - wie auch immer gearteten - "Infrastrukturbereich" stürzt, auf das Haftpflichtgesetz zurückzugreifen. Hier wird immer nur geprüft, ob eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht vorliegt (dazu in jüngster Zeit z.B. OLG Köln, Urteil vom 10.12.1993 - Az.: 19 U 81/93, OLGR 1994, 34).

3. Auch der Vergleich mit den Haftungsregelungen im Straßenverkehr ist bei der Interpretation des Betriebsunternehmerbegriffes im Sinne des § 1 HPflG heranzuziehen:

Die Gefährdungshaftung im Straßenverkehr knüpft allein an den tatsächlichen Betrieb von motorisierten Fahrzeugen an. Auch hier tritt eine Schadensersatzverpflichtung des "Infrastrukturunternehmers", d.h. meist des zuständigen Baulastträgers, allein dann ein, wenn sich durch schuldhafte Vernachlässigung der Verkehrssicherungspflicht das Gefahrenpotential, das vom eigentlichen Betrieb auf der Straße ausgeht, nochmals zusätzlich durch den Zustand der Infrastruktur erhöht hat. Nach Auffassung des Senats besteht Anlass, die Wertung, die in einem Gesetz, bei dem Verkehrsweg und eigentlicher Betrieb schon immer getrennt waren (so beim StVG), getroffen war nun, auch auf die Auslegung des Haftpflichtgesetzes bei grundsätzlicher geänderter und damit vergleichbarer Struktur anzuwenden.

4. Auch der Hinweis der Klägervertreterin auf die "einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr - CUI Anhang E zum Übereinkommen" (Bundesgesetzblatt II vom 2.9.2002, Seite 2264) führt zu keinem anderen Ergebnis:

Aus der Gesamtheit der einheitlichen Rechtsvorschriften., die als Anhang E zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9.5.1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 3.6.1999 nun existieren, ist zu entnehmen, dass hier europaweite Vertragstypen für alle im internationalen Eisenbahnverkehr möglichen Konstellationen getroffen werden soll. Konsequenter Weise musste dann auch wie geschehen in der Anlage E = CUI - die vertragliche Beziehung zwischen dem sog. Betreiber, d.h. demjenigen, der die Eisenbahninfrastruktur in Form von Schienenwege bereit stellt, und dem Beförderer, der Sachen und Personen auf diesen Schienenwegen befördert (siehe Art. 3 CUI) geregelt werden. Es ist durchaus richtig, dass Art. 8 § 1 CUI eine offensichtlich weitgehend verschuldensunabhängige Haftung auch für Schäden der vorliegenden Art vorsieht. Im Gegensatz zum Haftpflichtgesetz geschieht dies allerdings im Rahmen vertraglicher Beziehungen, nicht aufgrund eines gesetzlichen Schuldverhältnisses. Der Analogieschluss von einer verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung innerhalb vertraglicher Beziehungen auf eine gesetzliche Gefährdungshaftung ist wegen des grundlegenden Unterschiedes jedoch nicht erlaubt. Im diesem Zusammenhang ist es übrigens auch bezeichnend, dass die Klägervertreterin selbst in ihrem Schriftsatz vom 12.12.2003 unter Punkt 4 auf eine "vereinbarte" und damit vertragliche "Nutzungsberechtigung" hinweist.

Im übrigen steht es dem Parteien, was aber offensichtlich nicht geschehen ist, frei, im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit eine erweiterte Haftung gerade für Fälle der vorliegenden Art zu begründen. Irgendeine offensichtliche Regelungslücke, die in einem Analogieschluss zwingen würde, ist aber unter diesen Umständen nicht ersichtlich.

5. Die Neufassung der von der Klägervertreter zitierten Verordnung über die Haftpflichtversicherung von Eisenbahnen vom 25.8.1998 (Bundesgesetzblatt I, 2431) spricht mit seinem geänderten § 1 mit der Überschrift "Versicherungspflicht" gerade für die Meinung des Senats. In der ursprünglichen, von der Klägervertreterin vorgelegten Fassung (siehe Verordnung vom 21.12.1995, Bundesgesetzblatt I, 2101) war im Gegensatz zur aktuellen Fassung der Verordnung einer Versicherungspflicht lediglich für Ansprüche nach dem Haftpflichtgesetz angeordnet worden. Wie Filthaut in seiner Anmerkung zur Neufassung der Verordnung ausführte (siehe NZV 1999, 7l ff), lief die Verordnung in dieser Fassung bezogen auf den Infrastrukturunternehmer ins Leere. Sinnvoll wird also diese Verordnung nur, wenn sie sich auf eine außerhalb des Haftpflichtgesetzes bestehende Haftung beziehen kann, die Neufassung ist somit ein weiteres Argument für die hier vertretene Auffassung.

6. Auch der wiederholt in der Diskussion genannte Hinweis auf ein angebliches "Leerlaufen" des § 13 HPflG vermag nicht zu überzeugen. Es kann insoweit auf die Beispiele von Filthaut in VersR 2003, 1512 rechte Spalte) Bezug genommen werden.

Die Berufung erweist sich somit insgesamt als unbegründet. Sie ist mit der Kostenfolge des § 97 ZPO zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO.

Angesichts der unterschiedlichen Rechtsauffassung des Senats zur Entscheidung des OLG Stuttgart und der Tatsache, dass sich die streitgegenständlichen Haftungsfragen mit Sicherheit in Zukunft häufig stellen werden, ist die Revision zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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