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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 28.06.2001
Aktenzeichen: 1 U 13/01
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 539
ZPO § 139
ZPO § 278
ZPO § 404a
ZPO § 540
ZPO § 546
ZPO § 543 Abs. 1
1. Eine intensive Literaturrecherche, insbesondere unter Nutzung der erweiterten Informationsmöglichkeiten des Internets, ist im Rahmen der Erarbeitung einer Entscheidungsgrundlage ein geeignetes Instrument zur Vorbereitung einer Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Aus dem Studium allgemeiner Fachliteratur, gleich welcher Veröffentlichungsart, ergibt sich jedoch nicht ohne weiteres eine eigene hinreichende Sachkunde des Gerichts.

2. Im Falle der Nutzung des Internets als Informationsquelle ist jedenfalls dann zusätzlich Veranlassung gegeben ist, die Seriosität und Authenzität der aufgefundenen Texte zu prüfen, wenn das Gericht seine Sachkunde allein bzw. überwiegend hieraus bezieht.

3. Soweit das Landgericht zur Darlegung seiner eigenen Sachkunde pauschal auf persönliche Erfahrungen eines Kammermitglieds aus der Schwangerschaft seiner Ehefrau Bezug nimmt, genügt dies den Anforderungen an die Darlegung der Grundlagen der eigenen Sachkunde nicht, da es in dieser Form für die Parteien weder zu bewerten noch einer Einlassung zugänglich ist.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 13/01 Oberlandesgericht Naumburg

verkündet am: 28.06.01

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Zink, den Richter am Oberlandesgericht Geib und den Richter am Landgericht Wiedemann auf die mündliche Verhandlung vom

12. Juni 2001

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Kläger wird das am 19. Dezember 2000 verkündete Schlussurteil des Landgerichts Magdeburg, Az.: 9 O 460/00, aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens 1 U 13/01 - an die 9. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg zurückverwiesen.

Die Beschwer der Parteien übersteigt jeweils 60.000 DM nicht.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird nach § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Kläger ist zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat in der Sache mit der Maßgabe Erfolg, dass das angefochtene Urteil nach § 539 ZPO aufzuheben und die Sache an die 9. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist. Es liegen wesentliche Verfahrensmängel des ersten Rechtszuges vor, auf denen die Entscheidung des Landgerichts auch beruht. Eine eigene abschließende Entscheidung des Senats (§ 540 ZPO) ist hier nicht sachdienlich.

1.

Das Verfahren des ersten Rechtszuges bietet keine ordnungsgemäße Entscheidungsgrundlage. Das Landgericht hat versäumt, die von ihm als entscheidungserheblich herausgestellten Tatsachen fundiert festzustellen.

1.1. Die Kammer hat ihre angefochtene Entscheidung verfahrensfehlerhaft auf eine vermeintlich hinreichende eigene Sachkunde gestützt; diese ist auch aus den umfänglichen Ausführungen hierzu in den Entscheidungsgründen nicht erkennbar.

Entscheidungserheblich war für das Landgericht allein die Frage des Vorliegens bzw. Nichtvorliegens eines objektiven Behandlungsfehlers. Das Landgericht hat zur Entscheidung dieser Frage seine eigene Sachkunde für ausreichend erachtet. Es hat insbesondere keine sachverständige Beratung durch einen gerichtlich beauftragten Sachverständigen in Anspruch genommen. Seine Sachkunde hat das Landgericht auch nicht indirekt aus einem - im Wege des Urkundsbeweises einzuführenden - gynäkologischen Gutachten aus einem Schlichtungsverfahren geschöpft (vgl. zur ausnahmsweise hinreichenden Sachkunde aus Privatgutachen: Urteile des Senats vom 21.09.1999 - 1 U 77/99 - und vom 30.11.1999 - 1 U 125/99 -); im vorliegenden Falle hat ein Versuch einer einvernehmlichen Klärung unter Inanspruchnahme der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern gar nicht stattgefunden.

Allerdings hat das erstinstanzliche Gericht eine intensive Literaturrecherche, insbesondere unter Nutzung der erweiterten Informationsmöglichkeiten des Internets, betrieben und diese im Urteil - hinsichtlich der einzelnen aufgesuchten Websites nachvollziehbar - dargelegt. Eine derartige Recherche ist im Rahmen der Erarbeitung einer Entscheidungsgrundlage ein geeignetes Instrument zur Vorbereitung einer Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Sie ermöglicht etwa, die Parteien im Rahmen der §§ 139, 278 ZPO gezielt zur Ergänzung ihres Sachvorbringens anzuhalten, den Auftrag an einen ggfs. hinzuzuziehenden Sachverständigen iSv. § 404a ZPO kompetent zu fassen bzw. dessen fachlichen Ausführungen kritisch zu prüfen oder den Sachverständigen durch Vorhalte zur Ergänzung bzw. auch Korrektur seiner Stellungnahme zu veranlassen. Aus dem Studium allgemeiner Fachliteratur, gleich welcher Veröffentlichungsart, ergibt sich jedoch nicht ohne Weiteres eine eigene hinreichende Sachkunde des Gerichts (vgl. BGH NJW 1984, 1408; NJW 1993, 2378 f.; NJW 1994, 2419, 2421; Rixecker in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 23. Aufl. 2001, Kap. 37 Rn. 12; Gummer in: Zöller, Komm. z. ZPO, 22. Aufl. 2001, § 526 Rn. 3). Die Darstellungen in medizinischen Lehr- oder gar Wörterbüchern, auf Homepages von Hochschulen und Universitäten oder in allgemeinen Patienteninformationen sind notwendiger Weise generalisierend, u.U. in der zur Beurteilung des konkreten Prozess-Stoffes relevanten Frage unvollständig und jedenfalls nicht auf den zur Entscheidung stehenden Fall bezogen. Regelmäßig, so auch hier, ist weitere Sachkunde erforderlich, um die aufgefundene Fachliteratur auszuwerten und ein eigenes Urteil über Sachfragen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls zu gewinnen. Dies gilt hier vor allem, soweit das Landgericht feststellt,

* dass nicht der geringste Anhaltspunkt dafür bestehe, dass dem Beklagten bei der Durchführung und Auswertung der Ultraschalluntersuchung der Patientin S. G. ein Fehler unterlaufen sei (UA S. 6),

* dass insbesondere zum Zeitpunkt seiner Ultraschalluntersuchung ein hypoplastisches Linksherz-Syndrom beim Fetus objektiv nicht hätte erkannt werden können (UA S. 7), sowie

* dass eine Indikation für eine fetale Echokardiographie nicht bestand (UA S. 9).

Hierbei handelt es sich gerade nicht um allgemeine medizinische Fragen, sondern um fallspezifische Fragestellungen, deren überzeugende Beantwortung regelmäßig, so auch hier, einer fachlich kompetenten Prüfung bedarf. Dem Berufungsvorbringen der Kläger, dass insbesondere die zweitgenannte Feststellung auf einer äußerst schwachen Erkenntnisgrundlage beruht - zitiert ist lediglich eine Dissertation ohne Angabe, inwiefern diese den Standard der medizinischen Behandlung widerspiegelt -, vermag sich der Senat nicht zu verschließen.

Die Notwendigkeit einer Erweiterung der eigenen Sachkunde über die im angefochtenen Urteil angeführten Erkenntnisquellen hinaus ergibt sich hier zudem daraus, dass die Kläger bereits in ihrem Schriftsatz vom 05.09.2000 (vgl. Bl. 65 ff. Bd. I GA, insbesondere Bl. 66 und 68) Stimmen aus der medizinischen Fachliteratur zitiert haben, die u.U. im Widerspruch zu den vom Landgericht herangezogenen Veröffentlichungen stehen. Das Landgericht lässt eine Auseinandersetzung hiermit gänzlich vermissen, ohne dass sich eine etwaige Höherwertigkeit der Erkenntnisquellen der Kammer aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ergäbe.

Schließlich bleibt ergänzend auch darauf zu verweisen, dass im Falle der Nutzung des Internets als Informationsquelle, wie sie auch der erkennende Senat seit längerem praktiziert, jedenfalls dann zusätzlich Veranlassung gegeben ist, die Seriösität und Authenzität der aufgefundenen Texte zu prüfen, wenn das Gericht - wie hier das Landgericht - seine Sachkunde allein bzw. überwiegend hieraus bezieht. Es kann im vorliegenden Fall dahin stehen, ob es hierfür genügt, die Informationsquellen im Internet so zu zitieren, dass die entsprechenden Quellen jederzeit aufrufbar und nachprüfbar sind.

Soweit das Landgericht zur Darlegung seiner eigenen Sachkunde zudem pauschal auf persönliche Erfahrungen eines Kammermitglieds aus der Schwangerschaft seiner Ehefrau Bezug nimmt, genügt dies den Anforderungen an die Darlegung der Grundlagen der eigenen Sachkunde nicht, da es in dieser Form für die Parteien weder zu bewerten noch einer Einlassung zugänglich ist.

1.2. Die Kammer hat darüber hinaus das rechtliche Gehör beider Parteien verletzt, indem sie ihre Erkenntnisquellen erstmals im Urteil bezeichnet und damit den Parteien jegliche Möglichkeit zur Erörterung bzw. zur Erhebung von Einwendungen genommen hat.

Soweit das Gericht seine Entscheidung auf eine hinreichende eigene Sachkunde zu stützen beabsichtigt, hat es seine Erkenntnisse in geeigneter Weise in das Verfahren einzuführen und den Parteien genügende Gelegenheit zur Kenntnisnahme und etwaigen Stellungnahme einzuräumen (vgl. BGH NJW 1989, 1408; Rixecker aaO. Rn. 12 mwN.).

Die Kläger haben mit ihrer Berufung nunmehr auch tatsächlich Einwendungen gegen die Feststellungen des Landgerichts und insbesondere gegen die Aussagekraft der Erkenntnisquellen des erstinstanzlichen Gerichts vorgebracht und auf vermeintliche Widersprüche der Literaturangaben hingewiesen, denen nachzugehen ist (vgl. Rixecker aaO. Rn. 13).

1.3. Die Kammer hat es (demzufolge) versäumt, die von der beweisbelasteten Partei, den Klägern, angebotenen Beweise zum Vorliegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers des Beklagten, zu erheben. Sie hat damit Beweisanträge in einer beweiserheblichen Frage übergangen (vgl. zum Übergehen von Beweisanträgen auch Gummer aaO., § 539 Rn. 16 m.w.N.).

Dies betrifft in erster Linie die sich aus den vorgenannten Gründen ergebende Notwendigkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens durch das Tatgericht.

Das Landgericht hat darüber hinaus - ohne Begründung dieser Vorgehensweise - zwei Beweisanträge der Kläger auf Vernehmung von sachverständigen Zeugen in der Klageschrift vom 15.02.2000 nicht berücksichtigt. Die Kläger haben die Vernehmungen des Kinderkardiologen Dr. K. (Bl. 11 Bd. I GA) sowie des Stationsarztes Dr. H. A. (Bl. 13 Bd. I GA), beide Deutsches Herzzentrum Berlin, beantragt, und zwar zum Inhalt spontaner Äußerungen dieser Fachärzte, die die Patientin S. G. bzw. deren Sohn H. G. nach der Entbindung behandelten, über das Vorliegen ärztlichen Versagens des Beklagten. Die Kläger haben insoweit - mit Bezug auf BGH AHRS 6420/3 - auch zutreffend ausgeführt, dass angesichts der regelmäßig schwierigen Beweislage des Patienten solchen Äußerungen, so sie sich verifizieren lassen, eine wichtige indizielle Bedeutung zukommen kann.

2.

Die festgestellte mangelhafte Prozessführung des erstinstanzlichen Gerichts war für die angefochtene Entscheidung auch ursächlich. Die Klageabweisung wurde allein darauf gestützt, dass die Kläger genügende tatsächliche Anhaltspunkte für einen ärztlichen Behandlungsfehler nicht dargelegt hätten bzw. die von den Klägern hierzu aufgestellten Tatsachenbehauptungen (ohne Beweisaufnahme) als widerlegt anzusehen seien.

3.

Der Senat sieht es nicht als sachdienlich an, nach § 540 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden. Der Rechtsstreit ist aus den vorgenannten Gründen nicht entscheidungsreif; es besteht noch erheblicher Sachaufklärungsbedarf. Bei der Abwägung des für eine eigene Sachentscheidung des Senats sprechenden Interesses der Parteien an einer möglichst schnellen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber dem gegen eine solche Selbstentscheidung sprechenden Verlust einer Tatsacheninstanz überwiegt hier letzterer Aspekt. Bei der Erörterung dieser Frage im Termin der mündlichen Verhandlung hat sich keine der beiden Parteien gegen eine Zurückverweisung ausgesprochen.

4.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Landgericht vorbehalten.

Die weitere Nebenentscheidung beruht auf § 546 ZPO.

Ende der Entscheidung

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