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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 19.12.2001
Aktenzeichen: 1 U 46/01
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 539
ZPO § 540
ZPO § 141
ZPO § 282
ZPO § 264 Nr. 2
ZPO § 296 Abs. 2
ZPO § 138 Abs. 3
ZPO § 288 Abs. 1
ZPO § 543 Abs. 1
ZPO § 546 Abs. 2
1. Die ärztlichen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AMWF) haben unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundierung derzeit lediglich Informationscharakter für die Ärzte selbst. Einer weiter gehenden Bedeutung, etwa als verbindlicher Handlungsanleitung für praktizierende Ärzte, steht zumindest derzeit die anhaltende Diskussion um ihre Legitimität als auch um ihre unterschiedliche Qualität und Aktualität entgegen.

2. Forensisch betrachtet sind diese Leitlinien der AMWF wegen ihres abstrakten Regelungsgehalts grundsätzlich auch nicht geeignet, ein auf den individuellen Behandlungsfall gerichtetes Sachverständigengutachten zu ersetzen.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 46/01 Oberlandesgericht Naumburg

verkündet am: 19.12.2001

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Zink, den Richter am Oberlandesgericht Geib und den Richter am Landgericht Wiedemann auf die mündliche Verhandlung vom

11. Dezember 2001

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 16. März 2001 verkündete Urteil des Landgerichts Halle, Az.: 6 O 468/95, teilweise aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Anträge zu Ziff. 1), zu Ziff. 2) und zu Ziff. 3) des Schriftsatzes der Klägerin vom 25. Juni 2001 sowie auch über die Kosten des Berufungsverfahrens an das Landgericht Halle zurückverwiesen.

Die Beschwer beider Parteien übersteigt 60.000 DM nicht.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird nach § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat in der Sache mit der Maßgabe Erfolg, dass das erstinstanzliche Urteil im Umfange der zuletzt aufrecht erhaltenen Anfechtung durch die Klägerin aufgehoben und der Rechtsstreit insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens an das Landgericht Halle zurückverwiesen wird.

Das Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Halle beruht insoweit auf wesentlichen Verfahrensfehlern, § 539 ZPO. Eine eigene Entscheidung des Senats ist nicht sachdienlich, § 540 ZPO.

1. Der Umfang der Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils ergibt sich aus den Schriftsätzen der Klägerin vom 25.06.2001 (Bl. 28 ff. Bd. III GA) und vom 25.09.2001 (Bl. 69 Bd. III GA).

Mit der Berufungsbegründung vom 25.06.2001 hat die Klägerin dabei den Antrag zu Ziff. 2) (Feststellungsantrag hinsichtlich des Vorbehalts der Geltendmachung künftiger Schadenersatzansprüche) zulässig nach § 264 Nr. 2 ZPO erweitert; zugleich hat sie das erstinstanzliche Urteil unangefochten gelassen hinsichtlich der Abweisung ihres Antrages aus dem Schriftsatz vom 14.06.2000 (Bl. 188 Bd. I GA), betreffend einen angeblichen Verdienstausfall der Klägerin selbst in den Jahren 1993 und 1994. Mit weiterem Schriftsatz vom 25.09.2001 hat die Klägerin ihre Berufung vor Beginn der mündlichen Verhandlung nochmals beschränkt; hierdurch ist die Abweisung ihres Zahlungsantrages in Höhe von 7.000,00 DM, betreffend den angeblichen Verdienstausfall ihres Ehemannes während der ersten sechs Lebensmonate des gemeinsamen Kindes, in Rechtskraft erwachsen.

2. Das erstinstanzliche Urteil beruht auf einer unvollständigen Aufklärung und Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen. Die Kammer hat in ihrer Entscheidung einzelne medizinische Vorgänge, die die Klägerin als möglicherweise fehlerhaft iSd. Haftungsrechts angesprochen hat, unbehandelt gelassen bzw. hierüber mehr oder weniger pauschal Feststellungen getroffen, ohne die erforderliche Sachaufklärung betrieben zu haben. Die Kammer hat in diesem Zusammenhang z.T. versäumt, die Parteien zu ergänzenden Stellungnahmen zu einzelnen Fragen aufzufordern - was, wie das Vorbringen beider Parteien in der Berufungsinstanz zeigt, zu einer Substantiierung des Sachvortrags beider Parteien geführt hätte -, z.T. hat die Kammer vorhandene Beweisantritte übergangen. Im Einzelnen:

2.1. Mit Schriftsatz des Rechtsanwalts T. vom 14.06.2000 hat die Klägerin in Zweifel gezogen, ob die durchgeführte kieferchirurgische Behandlung überhaupt medizinisch indiziert gewesen sei (vgl. insbesondere GA Bd. I Bl. 186 f.). Sie hat angeregt, den - bereits erteilten - Gutachtenauftrag für den gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Dr. L. (bzw. für den von ihm einbezogenen weiteren Sachverständigen Dr. Lg. ) um die Frage der Indikation der durchgeführten Operation zu ergänzen (GA Bd. I Bl. 187 Mitte). Zu diesem Zeitpunkt war das schriftliche Gutachten vom 01.09.2000 noch nicht erstellt; eine entsprechende Erweiterung des Beweisthemas wäre ohne Weiteres möglich gewesen.

Die Kammer hat den gesamten vorgenannten Sachvortrag ignoriert. Sie hat weder, wie beantragt, den Gutachtenauftrag entsprechend ergänzt noch hat sie sich mit der Frage der Indikation der Operation vom 07.02.1992 im Verlaufe der Erörterung der Sach- und Rechtslage im weiteren Rechtsstreit sowie in ihrem Urteil überhaupt befasst. Die Kammer hätte der Frage, ob die Operation vom 07.02.1992 überhaupt indiziert war, bzw. hilfsweise, ob statt eines kieferchirurgischen Eingriffs ggfs. auch eine konservative, insbesondere eine kiefernorthopädische und parodontale Behandlung in Betracht gekommen wäre, nachgehen müssen. Denn sowohl die Durchführung einer medizinisch nicht notwendigen Operation als auch eine objektiv fehlerhafte Therapiewahl können u.U. den Vorwurf eines medizinischen Behandlungsfehlers begründen. Das Übergehen des o.a. Sachvortrags der Klägerin einschließlich des hierzu erfolgten Beweisantritts wiegt hier umso schwerer, weil die Frage der Indikation der Operation nicht nur unter dem Aspekt eines eigenständigen Behandlungsfehlers relevant ist, sondern auch für das Maß der so genannten Risikoaufklärung sowie der so genannten Verlaufsaufklärung, die die Klägerin jeweils als unzureichend gerügt hat, erhebliche Bedeutung besitzt. Der Senat geht dabei davon aus, dass die Parteien im Falle der Erörterung dieser Fragen sowie auf entsprechende gerichtliche Auflage ihren Sachvortrag ergänzt hätten, und zwar zumindest in dem Umfange, wie sie es in der Berufungsinstanz tatsächlich getan haben.

Die Kammer wird der Frage der Indikation der am 07.02.1992 durchgeführten Operation nach der Zurückverweisung nachzugehen haben. Im Rahmen der weiteren Sachaufklärung wird die Kammer, den prozessualen Besonderheiten des Arzthaftungsprozesses insoweit Rechnung tragend, der Klägerin zunächst aufzugeben haben, ihre Krankenunterlagen von der sie an die Beklagte überweisenden Zahnärztin, Frau Dr. E. aus B. , zu den Akten zu reichen sowie ihren Sachvortrag zu ergänzen. Der Klägerin wird aufzugeben sein, ihre gesundheitliche und psychische Verfassung im Hinblick auf die Kiefernfehlstellung in der Zeit von 1984 (erste Konsultation des Prof. Dr. G. in H. ) bis Anfang 1992 (Empfehlung von Prof. Dr. Sch. in H. ) - dies ggfs. im Rahmen einer persönlichen Anhörung nach § 141 ZPO sowie ggfs. in Anwesenheit des gerichtlichen Sachverständigen - ausführlich darzulegen. Für die Frage der Indikation könnten auch Einzelheiten der zahnärztlichen Behandlung in B. bei Frau Dr. E. , hier insbesondere der Anlass und Hintergrund der Überweisung an die Beklagte, sowie Hintergrund, Verlauf und Ergebnis der Konsultation des Dipl.-Stomatologen R. aus B. (vgl. Schriftsatz vom 24.09.2001, S. 6, Bd. III Bl. 75 GA) von Interesse sein. Die Kammer wird sodann die von der Beklagten angetretenen Beweise (sachverständiges Zeugnis der Frau Dr. L. als behandelnde Kiefernorthopädin sowie des Prof. Dr. Sch. als behandelnder Arzt, vgl. Berufungserwiderung der Beklagten vom 16.08.2001, S. 4 ff., GA Bd. III Bl. 58 bis 60) zu erheben haben, ggfs. ebenfalls in Anwesenheit des gerichtlichen Sachverständigen. Der Beklagten ist aufzugeben, die beiden nunmehr aufgefundenen Modelle des Kiefers der Klägerin vom 08.04.1991 und vom 14.06.1991 als Asservate vorzulegen (vgl. Schriftsatz vom

19.11.2001, GA Bd. III Bl. 90). Schließlich wird wohl die Einholung eines ergänzenden Sachverständigengutachtens zu dieser Beweisfrage erforderlich sein, wie sie inzwischen von beiden Parteien wechselseitig beantragt wurde.

Die Parteien des Rechtsstreits sind in diesem Zusammenhang jedoch auf Folgendes hinzuweisen:

Dem Landgericht ist es im Rahmen seiner Beweiswürdigung in dieser Sachfrage nicht verwehrt, die Prozessgeschichte, insbesondere Entwicklung des Sachvortrages der Parteien, angemessen zu berücksichtigen. Dies betrifft hier insbesondere den nicht erklärten Wechsel im Sachvortrag der Klägerin, die in ihrer Klageschrift vom 19.07.1995 noch selbst Funktionsstörungen als Mit-Auslöser eines eigenen Wunsches nach kieferchirurgischer Korrektur angegeben hatte (vgl. S. 2 der Klageschrift, GA Bd. I Bl. 10) und sich nunmehr in der Berufungsinstanz zunehmend hiervon distanziert (vgl. Berufungsbegründung vom 25.06.2001: die Operation sei so gut wie nie indiziert und wäre hier überflüssig gewesen, GA Bd. III 32; Schriftsatz vom 24.09.2001: "geringfügig störende Ästhetik", nicht vergleichbar mit dem Krankheitsbild einer Progenie, GA Bd. III Bl. 71 f.), sowie den Umstand, dass sich die Klägerin erst relativ spät im Prozess auf eine vermeintlich fehlende medizinische Indikation berufen hatte.

Gegen die Pflichtwidrigkeit der Indikation aus ex ante-Sicht könnte zudem sprechen, dass die Klägerin nicht nur mit der Überweisung nach H. einverstanden war und sich um die Verabredung eines Behandlungstermins bei der Beklagten möglichst vor ihrem 24. Geburtstag bemüht hatte, sondern dass sie nach eigenen Angaben zuvor eine konservative Behandlung durch den Dipl.-Stomatologen R. abgelehnt hatte.

Soweit sich die Klägerin in diesem Zusammenhang auf Ärztliche Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AMWF) beruft, ist anzumerken, dass diese Leitlinien unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundierung derzeit lediglich Informationscharakter für die Ärzte selbst haben und haben sollen. Einer weiter gehenden Bedeutung, etwa als verbindlicher Handlungsanleitung für praktizierende Ärzte, steht zumindest derzeit die anhaltende Diskussion um ihre Legitimität als auch um ihre unterschiedliche Qualität (siehe Bemühungen um ihre schrittweise Implementierung nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin) und Aktualität (angesichts des teilweise rasanten Fortschritts in der medizinischen Wissenschaft und Praxis) entgegen. Forensisch betrachtet sind diese Leitlinien der AMWF wegen ihres abstrakten Regelungsgehalts grundsätzlich auch nicht geeignet, ein auf den individuellen Behandlungsfall gerichtetes Sachverständigengutachten zu ersetzen (vgl. Urteil des Senats vom 25.06.2001 - 1 U 13/01 -). Im Übrigen wäre es, für den Fall, dass sich eine Prozesspartei auf diese Leitlinien berufen will, deren Sache, diese dem Gericht in geeigneter Form zur Verfügung zu stellen, wobei weiter zu beachten wäre, dass grundsätzlich natürlich nur die Leitlinie in der zum Behandlungszeitpunkt geltenden Fassung von Bedeutung sein kann. Im vorliegenden Fall könnte eine weitere Berufung der Klägerin auf die Leitlinien der AMWF daher schon daran scheitern, dass im Jahre 1992 eine Leitlinie im Bereich der Kiefer-, Mund- und Gesichtschirurgie möglicherweise noch gar nicht vorlag. Das Programm der AMWF begann nach Kenntnis des Senats erst im Jahre 1995, mithin erheblich nach Abschluss der streitgegenständlichen Behandlung der Klägerin durch die Beklagte.

2.2. Die Entscheidung des Landgerichts über die Frage der Ordnungsmäßigkeit der Verlaufsaufklärung, hier über die von der Klägerin aufgeworfenen Frage einer ggfs. pflichtwidrigen, weil gänzlich unterlassenen Aufklärung über Behandlungsalternativen, beruht, soweit sie überhaupt getroffen wurde, auf unvollständiger tatsächlicher Grundlage.

Allerdings hat sich die Beklagte zu Recht darauf berufen, dass eine Aufklärung über Behandlungsalternativen grundsätzlich nur dann erforderlich ist, wenn entweder die gewählte Methode nicht die Methode der Wahl ist oder aber wenn eine echte Alternative mit gleichwertigen Chancen, aber andersartigen (!) Risiken besteht (d.h. z.Bsp. konservativ statt operativ). Gerade hierauf aber hat sich die Klägerin zuletzt, nämlich mit Schriftsatz des Rechtsanwalts T. vom 15.11.2000 (vgl. GA Bd. II Bl. 82 f.) sowie später in ihrer Berufungsbegründung vom 25.06.2001 (vgl. GA Bd. III Bl. 35 f.) berufen. Die Beklagte hat dem u.a. entgegen gehalten, dass eine "echte" operative Behandlungsalternative wegen der besonderen Kieferfehlstellung bei der Klägerin sowie wegen einer vorhandenen Zahnlücke nicht bestanden habe (vgl. Schriftsätze vom 07.03.2001, S. 2, siehe GA Bd. II Bl. 101; und vom 16.08.2001, dort GA Bd. III Bl. 59 bis 61). Danach hatte die Kammer zunächst der Frage nachzugehen, ob hier eine Verpflichtung der Beklagten zur Aufklärung über Behandlungsalternativen überhaupt bestanden hat; erst nach Bejahung dieser Frage kommt es darauf an, worüber die Klägerin im Rahmen der unstreitig stattgefundenen Verlaufsaufklärung einige Tage vor der Operation konkret aufgeklärt wurde (Beweisantritte der Beklagten: a) Urkundsbeweis Krankenunterlagen; b) sachverständiges Zeugnis Prof. Dr. Dr. Sch. , Dr. S. , GA Bd. I Bl. 50; Dr. Se. , GA Bd. III Bl. 59; gegen"beweislich" Anhörung der Klägerin persönlich).

Das schriftliche Sachverständigengutachten vom 01.09.2000, welches lediglich am Rande auf einen Teilaspekt der erstgenannten Frage eingeht (vgl. Gutachten S. 54 f., GA Bd. II Bl. 55 f.), enthält hierzu wegen der erkannt unvollständigen tatsächlichen Grundlage keine abschließenden Aussagen. Hiermit hätte sich die Kammer nicht zufrieden geben dürfen; vielmehr hätte es der Nachfrage bei den Parteien und beim Sachverständigen bedurft. Soweit zweifelhaft sein mag, ob die Kammer in ihrem angefochtenen Urteil den Vorwurf der fehlerhaften Verlaufsaufklärung überhaupt beschieden hat (vgl. UA S. 10), kann dies aufgrund der vorgenannten wesentlichen Verfahrensfehler dahin stehen.

2.3. Das angefochtene Urteil beruht, soweit hierin über die Pflichtmäßigkeit der so genannten Risikoaufklärung, insbesondere der Aufklärung über das Risiko einer Pseudoarthrose, befunden wurde, ebenfalls auf unzureichender tatsächlicher Grundlage. Das Landgericht hat über diese Frage entschieden, ohne die von der Beklagten hierzu angebotenen Beweise (siehe Ziff. 2.2. dieser Entscheidungsgründe) zu erheben und sodann - aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit - die Klägerin persönlich hierzu anzuhören. Die Kammer hat eine solche Tatsachenfeststellung aufgrund überzogener Anforderungen an die Substantiierungslast der Klägerin und mithin verfahrensfehlerhaft für entbehrlich erachtet. Dabei hat das erstinstanzliche Gericht vor allem versäumt, auf eine entsprechende Ergänzung des Sachvortrages der Klägerin hinzuwirken. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, bevor ein Parteivortrag wegen mangelnder Substantiierung unbeachtet bleiben darf.

2.4. Die Kammer hat schließlich das Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz des Rechtsanwalts T. vom 15.11.2000 (vgl. GA Bd. II Bl. 85) zu Unrecht als verspätet iSv. §§ 296 Abs. 2, 282 ZPO zurückgewiesen.

Allerdings ist der Beklagten insoweit zu folgen, dass der Umstand, dass im Vorfeld der Nachuntersuchung vom 09.03.1992 eine Gewalteinwirkung auf den Unterkiefer der Klägerin stattgefunden hatte, im Rechtsstreit zunächst unstreitig war, weil es die Beklagte vorgetragen und die Klägerin nicht bestritten hatte, § 138 Abs. 3 ZPO. Dem anfänglichen Nichtbestreiten durch die Klägerin kam jedoch keine Geständniswirkung iSv. § 288 Abs. 1 ZPO zu; dies hat auch das erstinstanzliche Gericht so gesehen.

Das spätere Bestreiten im Schriftsatz vom 15.11.2000 war wirksam; die Frage der Traumatisierung des Unterkiefers der Klägerin während der kieferchirurgischen Behandlung bei der Beklagten ist auch entscheidungserheblich. Denn nach den insoweit zutreffenden Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts liegt ein ärztlicher Behandlungsfehler in der unzureichenden Reaktion auf die deutlichen Anzeichen einer sich ausbildenden Pseudoarthrose anlässlich der Entfernung der Retentionsplatten am 04.09.1992 (vgl. auch schriftliches Gutachten vom 01.09.2000, S. 61, 63; GA Bd. II Bl. 62, 64), weshalb im Rahmen der Kausalitätsbetrachtungen der erstmals vom gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Dr. L. in die allgemeine Aufmerksamkeit gerückte Umstand einer behaupteten Traumatisierung erhebliche Bedeutung zukommt.

Es kann dahin gestellt bleiben, ob das "späte" Bestreiten der Traumatisierung durch die Klägerin eine Verletzung der Prozessförderungspflicht darstellt, wie das Landgericht meint. Hiergegen könnte allerdings sprechen, dass sich im Arzthaftungsprozess sehr oft genauere Problem- und Fragestellungen erst aus dem Gutachten des Sachverständigen ergeben und typischerweise die Parteien erst auf dieser Grundlage ihr Vorbringen präzisieren. Ungeachtet dessen hätte hier eine ordnungsgemäße Behandlung des neuen Sachvortrages durch die Kammer den Eintritt einer Verzögerung des Rechtsstreits vermeiden können. Der Kammer wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, im Rahmen der Verfahrensleitung die Beklagte zur kurzfristigen Stellungnahme hierzu aufzufordern und für den mehr als dreieinhalb Monate (!) nach Eingang des o.g. Schriftsatzes anberaumten Verhandlungstermin das persönliche Erscheinen der Klägerin anzuordnen, ggfs. in dieser Frage benannte Zeugen (wie nunmehr den Bruder der Klägerin, vgl. Schriftsatz der Klägerin vom 24.09.2001, GA Bd. III Bl. 74) sowie den gerichtlichen Sachverständigen zur Erläuterung und mündlichen Ergänzung seines Gutachtens, auch zu der von der Beklagten mit der Berufungserwiderung vom 16.08.2001 aufgeworfenen Frage (vgl. GA Bd. III Bl. 57), zu laden.

Die Parteien des Rechtsstreits sind in diesem Zusammenhang allerdings darauf hinzuweisen, dass derzeit vieles für die von der Beklagten behauptete und vom gerichtlichen Sachverständigen als Alternativursache für die Nichtausheilung des Unterkiefers angesehene Traumatisierung spricht. Denn die Traumatisierung ist nicht nur in den Krankenunterlagen dokumentiert, sondern die Klägerin hat auch eingeräumt, dass im zeitlichen Vorfeld dieser Eintragung tatsächlich zumindest eine geringfügige Gewalteinwirkung durch einen "leichten" Kopfstoß des Bruders gegen ihren Unterkiefer erfolgt ist. Sie hat mithin den ursprünglichen Sachvortrag der Beklagten weit gehend bestätigt, streitig ist inzwischen nur noch die Intensität der Gewalteinwirkung. Insoweit aber kann im Rahmen der Beweiswürdigung auch Berücksichtigung finden, dass die damaligen Angaben der Klägerin gegenüber dem sie am 09.03.1992 untersuchenden Arzt offensichtlich im Widerspruch zu ihrem derzeitigen Sachvorbringen im Prozess stehen.

3. Der Senat hat erwogen, die Sache selbst zu entscheiden, § 540 ZPO. Er hat hiervon abgesehen, da gerade hinsichtlich des wesentlichsten Punktes dieses Rechtsstreits, der Indikation der durchgeführten Operation, die streitentscheidenden tatsächlichen Fragen ungeklärt sind. Es ist den Parteien des Rechtsstreits trotz der erheblichen bisherigen Verfahrensdauer nicht zuzumuten, insoweit auf eine Tatsacheninstanz zu verzichten. Die Parteien des Rechtsstreits haben im Rahmen der Erörterung dieser Frage in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einer überwiegenden Aufhebung und Zurückverweisung auch nicht widersprochen.

4. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Landgericht vorbehalten.

Die Festsetzung der Beschwer beruht auf § 546 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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