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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 15.10.2007
Aktenzeichen: 1 U 46/07
Rechtsgebiete: ZPO, BGB


Vorschriften:

ZPO § 287
ZPO § 412
ZPO § 540 Abs. 1 Nr. 1
BGB § 847 a.F.
Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 € bei einer mangels wirksamer Einwilligung des Patienten (unzureichende Risikoaufklärung) rechtswidrigen Implantation einer Morphinpumpe, die wegen einer Blutung in den Hirnwasserraum der Wirbelsäule zu dauerhaften Funktionsstörungen (Harninkontinenz, Impotenz, schwere Gangstörung) geführt hat.
OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 46/07

Oberlandesgericht Naumburg

verkündet am: 15. Oktober 2007

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Zettel und die Richter am Oberlandesgericht Wiedemann und Grimm auf die mündliche Verhandlung

vom 11. Oktober 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das am 18. April 2007 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg, 9 O 361/05, wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Zwangsvollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer des Beklagten übersteigt 20.000 EUR.

und beschlossen:

Der Kostenwert des Berufungsverfahrens beträgt 50.000 EUR.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt vom Beklagten Schmerzensgeld für die nachteiligen Folgen einer neurochirurgischen Operation.

Der am 10. September 1955 geborene Kläger ist verheiratet und hat drei Kinder. Bis zu einem Arbeitsunfall im Jahre 1997 hatte er zuletzt als Trockenbau-Monteur gearbeitet. Seit dem Unfall litt er an einem chronischen, schwer zu beeinflussenden Schmerzsyndrom, war arbeitsunfähig und zog sich zunehmend aus dem sozialen Leben zurück. Wegen des Versagens konservativer Schmerztherapien empfahl der Beklagte dem Kläger die Implantation einer Morphinpumpe. Die Kammer hat durch ihr rechtskräftiges Grund- und Teilurteil vom 22. Oktober 2002 festgestellt, dass der Beklagte es pflichtwidrig versäumte, den Kläger vor Einwilligung in diese Operation über das Risiko einer - ggfs. partiellen - Querschnittslähmung aufzuklären. Statt dessen hatte er nur verharmlosend auf das sehr seltene und durch professionelle Durchführung der Operation mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vermeidbare Risiko eines Blutergusses in der Nähe von Nervengewebe hingewiesen. Am 18. Januar 2000 legte der Beklagte beim Kläger einen Schlauch in die Rückenmarkshaut (Implantation eines sog. intrathekalen Katheters) zur rückenmarksnahen Morphinapplikation. Nach dem vorgenannten Urteil steht weiter fest, dass es infolge dieser Operation zu einer Blutung in den Hirnwasserraum der Wirbelsäule (sog. subarachnoidale Blutung) im mittleren und oberen Brustwirbelsäulenbereich kam.

Im Betragsverfahren streiten die Prozessparteien darum, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers überhaupt bestehen, welche dieser Beeinträchtigungen auf die subarachnoidale Blutung zurückzuführen sind und in welcher Höhe ein Schmerzensgeldbetrag hierfür angemessen ist.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen PD Dr. med. J. O. , Ltd. Oberarzt der Klinik für Neurochirurgie des Klinikums H. , vom 16. Juni 2006 (vgl. GA Bd. III Bl. 22 bis 30) sowie durch ein schriftliches Ergänzungsgutachten vom 28. Dezember 2006 (vgl. GA Bd. III Bl. 50 bis 54).

Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen der widerstreitenden Rechtsauffassungen der Parteien des Rechtsstreits und wegen des Verlaufs des Verfahrens in erster Instanz, nimmt der Senat auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

Das Landgericht Magdeburg hat im Ergebnis seiner Beweisaufnahme den Beklagten zur Zahlung von 50.000 EUR Schmerzensgeld an den Kläger verurteilt und diese Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass beim Kläger eine Blasenstörung (Harninkontinenz), eine sexuelle Funktionsstörung (Impotenz) und eine schwere Gangstörung vorlägen und eindeutig operationsbedingt seien; gleiches gelte für die festgestellten Empfindungsstörungen und Schmerzen an Rumpf und Beinen. Für die Bemessung des Schmerzensgeldes hat die Kammer weiter berücksichtigt, dass der Kläger zwar bei Eintritt der Schädigung bereits gesundheitlich vorgeschädigt gewesen und dass der Eingriff ohne Behandlungsfehler vorgenommen worden sei, der Beklagte jedoch insbesondere auch nach Rechtskraft des Grund- und Teilurteils nicht einmal teilweise eine Schadensregulierung begonnen habe. Für die Bemessung des Schmerzensgeldes hat es sich auf insbesondere zwei Entscheidungen gestützt, wobei es die maßgebenden Umstände im ersten Fall (OLG Celle, Urteil v. 11. Februar 1991, 1 U 71/89 = VersR 1992, 749) geringer und im zweiten Fall (OLG Schleswig, Urteil v. 13. Januar 1995, 4 U 243/86 = NJW-RR 1996, 348) schwerer als im hier vorliegenden Fall bewertete.

Der Beklagte hat gegen das ihm am 23. April 2007 zugestellte Urteil mit einem am 22. Mai 2007 beim Oberlandesgericht vorab per Fax eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese Berufung innerhalb der Berufungsbegründungsfrist auch begründet.

Mit seiner Berufung wendet sich der Beklagte gegen die Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts. Er ist insbesondere der Auffassung, dass der gerichtliche Sachverständige keine sicheren Feststellungen habe treffen können, sondern nur eigene Vermutungen angestellt habe. Er beantragt hilfsweise die Einholung eines neuen Gutachtens. Zudem beanstandet der Beklagte die Ermessensausübung der Kammer zur Höhe des Schmerzensgeldes und äußert Zweifel an einer tatsächlichen Berücksichtigung der mindernden Faktoren. Hinsichtlich der das Schmerzensgeld erhöhenden Umstände rügt er, dass er die lange Prozessdauer nicht zu vertreten habe und dass es an einer Vergleichbarkeit des vorliegenden Falls mit den von der Kammer herangezogenen Entscheidungen fehle, weil hier die Behandlung fehlerfrei erfolgt sei und "lediglich" eine Aufklärungspflichtverletzung habe festgestellt werden können.

Der Beklagte beantragt,

unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils

die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er verteidigt im Wesentlichen das erstinstanzliche Urteil und führt weitere Vergleichsfälle an, die s.E. geeignet seien, die getroffene Entscheidung zu stützen.

Der Senat hat am 11. Oktober 2007 mündlich zur Sache verhandelt; wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls des Senats vom selben Tage Bezug genommen.

II.

Die Berufung des Beklagten ist zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Das Landgericht ist zutreffend von erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers infolge der Operation vom 18. Januar 2000 ausgegangen; die Bemessung des Schmerzensgeldes ist in seiner Höhe nicht zu beanstanden.

Nach dem rechtskräftigen Grund- und Teilurteil des Landgerichts Magdeburg vom 22. Oktober 2002 war davon auszugehen, dass der Beklagte gegenüber dem Kläger für dessen sämtliche gesundheitlichen und sonstigen Beeinträchtigungen zum Schadenersatz verpflichtet ist, die sich auf den - mangels wirksamer Einwilligung des Patienten rechtswidrigen - Eingriff vom 18. Januar 2000 zurückführen lassen. Die tatsächlichen Feststellungen der Kammer zum Ausmaß dieser Beeinträchtigungen des Klägers begegnen keinen Zweifeln an ihrer Richtigkeit und Vollständigkeit.

Entgegen der Darstellung des Beklagten ergibt sich aus den Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen, PD Dr. med. J. O. , Ltd. Oberarzt der Klinik für Neurochirurgie des Klinikums H. (insbesondere Gutachten vom 16. Juni 2006, S. 8 - vgl. GA Bd. III Bl. 29) eindeutig, dass der Kläger dauerhafte Funktionsstörungen (Blaseninkontinenz, Impotenz und schwere Gehstörungen) erlitten hat. Aus dem Gutachten vom 16. Juni 2006 ist weiter zu entnehmen, dass durch den rechtswidrigen Eingriff erhebliche Empfindungsstörungen und Schmerzen in Rumpf und Beinen zumindest mitverursacht worden sind, mit deren Nachlassen nicht zu rechnen ist. Schließlich ist auch die 100 %-ige Minderung der Erwerbsfähigkeit des z.Zt. des Eingriffs 44-jährigen Klägers auf die subarachoidale Blutung zurückzuführen. Zu einer gleichen Bewertung ist im Übrigen auch die Landesversicherungsanstalt des Landes Sachsen-Anhalt gekommen, die dem Kläger mit Wirkung ab dem 1. Februar 2000 eine zuvor abgelehnte Erwerbsunfähigkeitsrente zuerkannt hat.

Der Beklagte ignoriert in seiner Berufung die unmissverständlichen Ergebnisse der gerichtlichen Gutachten, welche im Übrigen mit den außergerichtlichen medizinischen Bewertungen der behandelnden Ärzte des Klägers in Übereinstimmung stehen. Zum Teil gibt er diese Ergebnisse entstellend wieder. Er verkennt auch das Beweismaß: Für den Nachweis der haftungsausfüllenden Kausalität ist § 287 ZPO maßgeblich, d.h. dass es der Kammer selbst dann, wenn der gerichtliche Sachverständige sich tatsächlich zurückhaltender zu den Beweisfragen geäußert hätte, nicht verwehrt gewesen wäre, entsprechende Feststellungen zu treffen. Der Senat sieht keine Veranlassung, ein weiteres Gutachten einzuholen. Der Beklagte hat die Voraussetzungen des § 412 ZPO nicht dargelegt; sie liegen auch nicht vor.

Die Kammer hat bei der Bemessung eines angemessenen Schmerzensgeldes das ihr durch § 847 BGB a.F. und § 287 ZPO eingeräumte Ermessen ausgeübt und hierbei keine Fehler, jedenfalls nicht zu Lasten des Beklagten gemacht. Die Kammer hat insbesondere zu Recht Schmerzensgeld erhöhend das Regulierungsverhalten des Beklagten berücksichtigt. Der Beklagte hat mehr als sechseinhalb Jahre nach dem Schadensereignis und mehr als viereinhalb Jahre nach Rechtskraft des Grundurteils noch immer keinerlei Ausgleichsleistungen an den Kläger bewirkt. Er verfolgt auch trotz eindeutiger und seriös nicht angreifbarer Feststellungen zur haftungsausfüllenden Kausalität im Berufungsverfahren das Ziel einer vollständigen Klageabweisung. Seine Verhandlungsangebote an den Kläger waren während der gesamten Prozessdauer ohne Substanz und erscheinen retrospektiv als ein bloßes Hinhalten des Geschädigten und eine Verzögerung der Sachentscheidung in diesem Rechtsstreit. Im angefochtenen Urteil hat keine Erwähnung gefunden, dass der Kläger sich langwierigen ambulanten und auch stationären Folgebehandlungen stellen musste, die allein wegen des schicksalhaft ungünstigen Verlaufs des Eingriffs vom 18. Januar 2000 erforderlich geworden sind.

Der Beklagte verkennt u.U. auch die Bedeutung seiner Aufklärungspflichtverletzung. Zwar hat er den Eingriff vom 18. Januar 2000 fehlerfrei durchgeführt. Er hat aber quasi eigenmächtig einen mit bestimmten Risiken verbundenen operativen Eingriff vorgenommen, weshalb er für alle verwirklichten Risiken des Eingriffes, das Risiko von Behandlungsfehlern und zusätzlich das Risiko schicksalhafter Verschlechterungen des Gesundheitszustandes des Patienten durch den Eingriff, einzustehen hat. Denn die Aufklärung des Klägers über die mit einem geplanten Eingriff verbundenen Risiken hätte dazu dienen sollen, den personalen Charakter der medizinischen Versorgung zu wahren, d.h. den Kläger nicht als bloßes Objekt zu behandeln, sondern - soweit möglich - ihn selbst entscheiden zu lassen, welche Risiken er bereit ist, auf sich zu nehmen. Hierfür wird zwar regelmäßig, aber nicht notwendig in jedem Falle die zuvor aus medizinischer Sicht vorgenommene Abwägung zwischen den Heilungs- bzw. hier Schmerzminderungschancen und den Folgen bzw. Risiken der Nichtbehandlung einerseits und den Risiken der Behandlung andererseits maßgeblich sein. Für den Beklagten wäre es hier darauf angekommen, dem Kläger die Gründe seiner medizinischen Risiko-Nutzen-Bewertung in den Grundzügen plausibel zu machen und den Kläger (mit-)entscheiden zu lassen, ob er weiter mit seinen Schmerzen leben kann und will oder ob er die Chance zur Schmerzlinderung wahrnimmt und bewusst das Risiko eingeht, dass im schlechtesten Fall intrathekale Blutungen zur partiellen Querschnittslähmung führen können. Übernimmt letztlich ein Arzt, wie hier der Beklagte, die vom Patienten zu treffende Entscheidung, indem er ihn - auch nur fahrlässig - unvollständig aufklärt, so muss er auch - zumindest finanziell - für die nachteiligen Folgen dieser Entscheidung zum Eingriff einstehen.

III.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 26 Nr. 8 EGZPO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 sowie 543, 544 Abs. 1 S. 1 ZPO.

Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.

Ende der Entscheidung

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