Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 13.03.2001
Aktenzeichen: 1 U 76/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 844 Abs. 1
BGB § 1968
BGB § 844 Abs. 2
BGB § 843 Abs. 2 bis 4
ZPO § 287
ZPO § 538 Abs. 1 Nr. 3
ZPO § 304
ZPO § 301 Abs. 1
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 709 S. 1
ZPO § 546 Abs. 2
1. Nicht jeder Diagnoseirrtum ist schon als Behandlungsfehler zu werten. Ein Verschulden des Arztes ist nur dann zu bejahen, wenn er aus seiner Sicht z.Zt. der Diagnosestellung entweder Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der gestellten Diagnose hatte oder aber solche Zweifel gehabt und diese nicht beachtet hat.

2. Ein Verstoß gegen die berufsfachlich gebotene Sorgfalt kann in der Unterlassung der zwingend gebotenen unverzüglichen Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus zur Erhebung der erforderlichen Befunde für eine weiter gehende Diagnostik liegen.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 76/00 OLG Naumburg

verkündet am: 13. März 2001

In dem Rechtsstreit

...

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Zink, den Richter am Oberlandesgericht Geib und den Richter am Landgericht Wiedemann auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2001

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 28. Juli 2000 verkündete Urteil des Landgerichts Magdeburg, 8 (11) O 1680/98, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage gegen den Beklagten zu 1) ist dem Grunde nach gerechtfertigt. Der Beklagte zu 1) wird - im Wege des Teilurteils - verurteilt, an die Klägerin 4.232,88 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 10. Juli 1998 zu zahlen.

Die Klage gegen den Beklagten zu 2) wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) im ersten Rechtszuge zu tragen; im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten zu 1) gemäß der Klageanträge zu Ziff. 1) und 2) sowie über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Ko sten des Berufungsverfahrens, soweit hierüber jeweils noch nicht entschieden ist, an die 8. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg zurückverwiesen.

Die weiter gehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat auch die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) im Berufungsverfahren zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung durch den Beklagten zu 2) durch Sicherheitsleistung in Höhe von 25.000 DM abwenden, wenn nicht zuvor der Beklagte zu 2) Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.

Der Beklagte zu 1) kann die Zwangsvollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 4.500 DM abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.

Die Beschwer der Klägerin sowie des Beklagten zu 1) übersteigen jeweils 60.000 DM; der Beklagte zu 2) ist nicht beschwert.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von den Beklagten, die ihren am 27.09.1952 geborenen Ehemann M. Z. an verschiedenen Tagen im Juni 1995 zu Hause als Ärzte des kassenärztlichen Hausbesuchsdienstes medizinisch versorgten, Schadenersatz wegen schuldhafter Verletzung ihrer ärztlichen Behandlungspflichten; das Verlangen der Klägerin ist auf entgangenen Unterhalt und auf den Ersatz der Beerdigungskosten für ihren Ehemann gerichtet. Die Klägerin meint, die Beklagten hätten gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstoßen, indem sie die tatsächliche Ursache der Beschwerden ihres Ehemannes - eine nekrotisierende Pankreatitis - nicht erkannten, dementsprechend nicht adäquat behandelten und indem sie ihren Ehemann vor allem nicht sofort in ein Krankenhaus einwiesen.

Im Einzelnen:

Am Freitag, dem 16.06.1995, begann der Rücken des Ehemannes der Klägerin (im Folgenden: Patient) stark zu schmerzen. Der Stuhlgang setzte aus. Da der Hausarzt der Familie, Dr. T. , nicht zu erreichen war, wurde der Beklagte zu 2), der Dienst im Rahmen des kassenärztlichen Hausbesuchsdienstes verrichtete, zum Patienten gerufen. Der Beklagte zu 2) erschien erstmals gegen 17:00 Uhr zu einem Hausbesuch. Er untersuchte den Patienten, der ihm Schmerzen beider Nierenlager mit Ausstrahlung in den Unterbauch und Druckschmerz im Unterbauch anzeigte. Die Untersuchung durch den Beklagten zu 2) ergab einen Druckschmerz beiderseitig des Unterbauches bei freier Blase und Blutdruckwerten von 130 zu 80. Schmerzen im Nierenlager sowie ein so genannter "Gummibauch" waren zur Zeit der Untersuchung nicht vorhanden. Der Beklagte zu 2) maß eine Temperatur von 37,2 oC und diagnostizierte den Verdacht eines beginnenden Infekts.

Da die Beschwerden des Patienten in der Folgezeit nach dem Besuch des Beklagten zu 2) nicht abklangen, rief die Klägerin den Beklagten zu 2) ein zweites Mal zum Hausbesuch. Der Beklagte zu 2) erschien daraufhin gegen 21:00 Uhr. Die Schmerzen waren zu diesem Zeitpunkt kolikartig, mit Druckschmerz in beiden Nierenlagern und im Unterbauch. Fieber trat nicht auf. Daraufhin stellte der Beklagte zu 2) die Verdachtsdiagnose einer Pyelonephritis (d.h. einer Harnwegsinfektion) und verordnete die Medikamente Dolocontral, Buscopan und Ciprobay.

Zwischen den Parteien ist streitig, ob sich nach dem zweiten Hausbesuch des Beklagten zu 2) kurzfristig eine Besserung des Allgemeinbefindens des Patienten einstellte oder nicht. Die Klägerin behauptet eine Fortdauer der Beschwerden ihres Ehemannes und gibt an, dass dieser sich in der Nacht zum Samstag, dem 17.06.1995, erbrochen habe. Jedenfalls forderte die Klägerin am Nachmittag des 17.06.1995 einen erneuten Hausbesuch des Notdienstes an, den nunmehr der inzwischen Dienst habende Beklagte zu 1) gegen 17:00 Uhr durchführte. Der Beklagte zu 1) stellte bei der Untersuchung des Patienten klopfschmerzhafte Nierenlager beiderseits und einen Druckschmerz im rechten Oberbauch fest. Der Patient war ansprechbar und orientiert, der Blutdruck war mit 100 zu 60 messbar. Die Klägerin behauptet, dass das von ihrem Ehemann Erbrochene bereits am 17.06.1995 hämatinisiert, d.h. blutdurchsetzt, gewesen und der Beklagte zu 1) hierüber informiert worden sei, was dieser bestreitet. Der Beklagte zu 1) diagnostizierte einen "Verdacht des Erbrechens unklarer Genese". Er führte das Erbrechen des Patienten auf die Einnahme der Medikamente Ciprobay und Dolocontral zurück. Von einer Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus zur weiteren Untersuchung und/oder Behandlung sah der Beklagte zu 1) ab. Er verabreichte dem Patienten Paspertin, Spasmalgam und Tramal.

Wegen der Dokumentation der jeweiligen notärztlichen Behandlungen vom 16. und 17.06. 1995 wird auf die Notfallscheine (Bl. 15 bis 17 Bd. I GA) sowie auf die Stellungnahme des Beklagten zu 1) vom 15.01.1996 gegenüber der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen (Bl. 18, Bd. I GA) jeweils Bezug genommen.

Am Sonntag, dem 18.06.1995, forderte die Klägerin ein weiteres Mal den Hausbesuch des kassenärztlichen Notdienstes an. Diesmal kamen ein Notarzt und ein Rettungswagen. Im Einsatzprotokoll des Notarztes, des Arztes im Praktikum F. , vom 18.06.1995 ist vermerkt, dass der Patient seit Freitag Mittag (16.06.) ständig Schmerzen im Bauchbereich, zuerst in der Nierengegend, dann im rechten Oberbauch verspürt, seit 3 Tagen ohne Stuhlgang sei und seit Freitag an Erbrechen leide. Seit Samstagnacht (17.06.) sei das Erbrochene wiederholt kaffeesatzartig gewesen. Der Patient war zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den Notarzt am 18.06.1995 ansprechbar und orientiert, Blutdruck und Puls waren normal. Der Notarzt vom 18.06.1995 wies den Patienten in das Krankenhaus M. ein. Wegen der Dokumentation der notärztlichen Behandlung des Ehemanns der Klägerin am 18.06.1995 wird auf das Notarzteinsatzprotokoll (Bl. 111 Bd. I GA) Bezug genommen. Bei der Aufnahme im Krankenhaus gegen 8:45 Uhr war der Patient bereits in einem desolaten Allgemeinzustand mit beginnendem Multiorganversagen. Es wurden ein hypovolämischer (also durch Blutverlust verursachter) Schock, eine Verbrauchskoagulopathie mit niedrigen Trombozytenzahlen und schlechter plasmatischer Blutgerinnung (d.h. eine krankhafte Veränderung der Blutgerinnungsfaktoren), eine metabolische Dekompensation (d.h. aus dem Stoffwechsel entstandenes Nachlassen von Organfunktionen) sowie ein massiv erhöhter Kreatininwert aufgrund eines akuten Nierenversagens festgestellt. Der Blutdruck war nicht mehr messbar. Der Patient war bewusstlos und wurde beatmet. Der Abdomen war derb, gespannt und aufgetrieben. Über eine Magensonde wurden 3 bis 4 Liter hämatinisiertes Blut entleert. Bereits bei der Aufnahme wurde die Verdachtsdiagnose einer akuten Pankreatitis mit schweren Komplikationen gestellt; diese wurde mittels Computertomographie gesichert.

Der Ehemann der Klägerin wurde auf der Intensivstation des Krankenhauses versorgt. Während es zunächst gelang, den Allgemeinzustand etwas zu verbessern, schritt die Nekrotisierung des Pankreas fort. Neben der intensivmedizinischen Betreuung wurden mehrere Operationen am Patienten durchgeführt. Schließlich verstarb der Ehemann der Klägerin am 13.07.1995 an Herz-Kreislauf-Versagen in Form eines septisch-toxischen Multiorganversagens auf der Grundlage einer akuten nekrotisierenden Pankreatitis.

Die Klägerin strengte über ihren Bevollmächtigten, den Hausarzt Dr. T. , in der Folge zunächst ein Schlichtungsverfahren bei der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammern an. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde das schriftliche Gutachten des Prof. Dr. med. D. O. vom 28.08.1996 (Bl. 74 bis 86 Bd. I GA) eingeholt. Auf die Stellungnahme des Hausarztes der Familie Z. , Dr. T. , vom 19.09.1996 (Bl. 108 bis 110 Bd. I GA) für die spätere Klägerin ergänzte Prof. Dr. O. sein Gutachten mit Schreiben vom 16.10.1996 (vgl. Bl. 87 bis 91 Bd. I GA). Die Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Norddeutschen Ärztekammern kam in ihrem abschließenden Schreiben vom 30.10.1996 (vgl. Bl. 92 bis 98 Bd. I GA) zu dem Ergebnis, dass medizinische Behandlungsfehler im Vorgehen des Beklagten zu 1) bei der ambulanten Betreuung des Ehemanns der Klägerin im Bereitschaftsdienst nicht erkennbar und jedenfalls nicht beweisbar seien. Wegen der Einzelheiten des Verfahrens wird auf die genannten Anlagen Bezug genommen.

Die Klägerin begehrt in der Hauptsache von den Beklagten als Gesamtschuldner die Zahlung einer angemessenen monatlichen Geldrente, beginnend ab dem 01.07.1998 (Antrag zu Ziff. 1), die Zahlung der rückständigen Geldrente für die Monate Juli 1995 bis einschließlich Juni 1998 (Antrag zu Ziff. 2) und die Zahlung der Beerdigungskosten in Höhe von 4.232,88 DM (Antrag zu Ziff. 3). Wegen der Einzelheiten der Schadensberechnung wird auf den Inhalt der Klageschrift vom 10.06. 1998, insbesondere Seiten 5 bis 13 (Bl. 5 bis 13 Bd. I GA) nebst zugehöriger Anlagen sowie auf den Inhalt des Schriftsatzes vom 08.09.1998, dort S. 6 f. (Bl. 105 f. Bd. I GA), verwiesen.

Die Klägerin hat behauptet, dass die Beklagten zu 1) und zu 2) jeweils ihre ärztliche Sorgfaltspflicht dadurch verletzt hätten, dass sie trotz der auf eine schwere Erkrankung hindeutenden Symptome zum einen davon absahen, weitere Untersuchungen durchzuführen, und es vor allem unterließen, ihren Ehemann sofort in ein Krankenhaus einzuweisen. Insbesondere habe sie dem Beklagten zu 1) am 17.06.1995 das in der Nacht zuvor von ihrem Ehemann Erbrochene gezeigt, welches blutdurchsetzt gewesen sei. Ein Eimer mit einem kaffeesatzartigen, dunklen Mageninhalt habe auch neben dem Bett gestanden. Das dunkle Erbrochene sei zum Zeitpunkt des Besuches durch den Beklagten zu 1) im Eimer und auf dem Teppich deutlich sichtbar gewesen.

Die Klägerin hat weiter behauptet, dass ihr Ehemann bei rechtzeitiger Einweisung am 16.06. bzw. 17.06.1995 nicht verstorben wäre.

Die Klägerin hat mit ihrer dem Beklagten zu 1) am 10.07.1998 (vgl. Bl. 37 Bd. I GA) und dem Beklagten zu 2) am 13.07.1998 zugestellten (vgl. Bl. 40, Bd. I GA) Klage beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie eine monatliche Geldrente, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, beginnend ab dem 01.07.1998, jeweils vierteljährlich im Voraus zum 01.01., 01.04., 01.07. und 01.10. eines jeden Jahres bis zum 31.12.2022 zu zahlen;

2. die Beklagten als Gesamtschuldner weiter zu verurteilen, an sie die rückständige Geldrente für die Monate Juli 1995 bis einschließlich Juni 1998 nebst 4 % Zinsen hieraus jeweils seit dem 02. der oben angeführten Monate zu zahlen sowie

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, einen weiteren Betrag in Höhe von 4.232,88 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten haben jeweils beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte zu 1) bestreitet, dass ihm die Klägerin hämatinisiertes Erbrochenes gezeigt habe bzw. dass solches im Eimer oder auf dem Teppich erkennbar gewesen sei. Bei seinem Hausbesuch am 17.06.1995 sei ihm von der Klägerin zwar ein Gefäß mit Erbrochenen gezeigt worden, dieses habe aber eine klare Flüssigkeit - ohne Blutbeimischungen - enthalten.

Der Beklagte zu 2) hat die Auffassung vertreten, dass eine Entscheidung gegen eine Einweisung in ein Krankenhaus unter dem Vorbehalt einer Kontrolluntersuchung am Folgetag, am 17.06.1995, eine vertretbare Therapieentscheidung gewesen sei. Jedenfalls sei sein Unterlassen wegen der nachfolgenden Konsultation des Beklagten zu 1) nicht ursächlich geworden.

Das erstinstanzliche Gericht hat die Krankenakte des Krankenhauses M. , betreffend dem Patienten M. Z. , beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung sowie der nachfolgenden Beweisaufnahme gemacht. Das erstinstanzliche Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. M. Ms. , Direktor der Abteilung Gastroenterologie und Hepatologie des Zentrums Innere Medizin und Dermatologie der Medizinischen Hochschule H. vom 11.11. 1999 (vgl. Bl. 1 bis 15 Bd. II GA), an dem auch der Oberarzt dieser Abteilung, Dr. K. B. , mitgewirkt hat. Auf Antrag der Klägerin hat das Landgericht die vorgenannten Sachverständigen im Termin der mündlichen Verhandlung vom 05.07.2000 jeweils auch mündlich ergänzend zum schriftlichen Gutachten angehört; wegen der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll vom 05.07.2000 (Bl. 61 bis 65 Bd. II GA) Bezug genommen.

Mit seinem am 26.07.2000 verkündeten Urteil hat das Landgericht Magdeburg die Klage abgewiesen und zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, dass es der Klägerin nicht gelungen sei, den Beweis der Kausalität von Pflichtverletzungen der Beklagten für den Tod ihres Ehemannes zu führen. Das erstinstanzliche Gericht ist jeweils von einer Pflichtverletzung sowohl des Beklagten zu 1) als auch des Beklagten zu 2) ausgegangen. Dabei hat es den Verstoß des Beklagten zu 1) gegen die ärztlichen Sorgfaltspflichten als groben Behandlungsfehler bewertet. Das erstinstanzliche Gericht war jedoch nach dem Inhalt seiner Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der Ehemann der Klägerin auch bei Einweisung in ein Krankenhaus am 17.06.1995 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verstorben wäre. Bereits am 16.06.1995 habe nur noch eine geringe Überlebenswahrscheinlichkeit bestanden, am Folgetag sei die Überlebenswahrscheinlichkeit noch wesentlich geringer gewesen, und zwar insbesondere deshalb, weil bereits am Nachmittag des 16.06.1995 ein Nierenversagen vorgelegen habe. Seit diesem Zeitpunkt sei die Erkrankung des Ehemanns der Klägerin und deren Entwicklung zu einem Multiorganversagen nicht mehr umkehrbar gewesen.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 08.08.2000 zugestellte Urteil des Landgerichts Magdeburg mit Schriftsatz vom 08.09.2000, beim Oberlandesgericht Naumburg, vorab per Fax eingegangen am gleichen Tage, Berufung eingelegt und diese innerhalb der ihr bis zum 23.10.2000 verlängerten Berufungsbegründungsfrist auch begründet.

Mit ihrer Berufung macht die Klägerin geltend, dass auch der Behandlungsfehler des Beklagten zu 2) als grober Behandlungsfehler zu bewerten sei, weil der Beklagte zu 2) angesichts der ihm geschilderten Schmerzen sofort an eine Pankreatitis hätte denken müssen mit der Folge, dass eine Einweisung in eine stationäre Behandlung zur Wahrnehmung spezieller Befunderhebungsmöglichkeiten geboten gewesen wäre. Die Klägerin behauptet insoweit erstmals, dass es im Rahmen des notärztlichen Einsatzes des Beklagten zu 2) möglich und hier auch geboten gewesen wäre, bei ihrem Ehemann eine Blutprobe und eine Urinprobe jeweils zu entnehmen.

Die Klägerin greift jedoch vor allem die Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts an, wonach ihr Ehemann bei einer sofortigen Einweisung am 17.06.1995 nur noch theoretische Überlebenschancen gehabt hätte. Sie meint, dass diese gerichtliche Feststellung ohne weitere Sachaufklärung nicht begründet sei. Insbesondere sei die von dem Sachverständigen Prof. Dr. Ms. geschilderte Sterberate zu hoch. Der gerichtliche Sachverständige sei auch von einer fehlerhaften Ausgangslage bei Einlieferung im Krankenhaus ausgegangen; die Krankenunterlagen des M. Z. belegten, so die Klägerin, dass zwar am 18.06.1995 die Niereninsufizienz begonnen habe, keineswegs jedoch von einem akuten vollständigen Nierenversagen auszugehen gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des am 26.07.2000 verkündeten Urteils des Landgerichts Magdeburg, 8 (11) O 1680/98),

1. die Beklagten zu 1) und zu 2) als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie eine monatliche Geldrente, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, beginnend ab dem 01.07.1998 jeweils vierteljährlich im Voraus zum 01.01., 01.04., 01.07. und 01.10. eines jeden Jahres bis zum 31.12.2022 zu zahlen;

2. die Beklagten zu 1) und zu 2) als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin die rückständige Geldrente für die Monate Juli 1995 bis einschließlich Juni 1998, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 4 % Zinsen hieraus jeweils seit dem 02. des oben genannten Monats zu zahlen sowie

3. die Beklagten zu 1) und zu 2) als Gesamtschuldner zu verurteilen, einen weiteren Betrag in Höhe von 4.232,88 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten zu 1) und zu 2) beantragen jeweils,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen jeweils das erstinstanzliche Urteil.

Der Beklagte zu 2) meint, dass ihm entgegen der Wertung des erstinstanzlichen Gerichts nicht einmal der Vorwurf einfach fahrlässiger ärztlicher Pflichtverletzung gemacht werden könne. Er meint insbesondere, dass seine Befunderhebung am 16.06.1995 aus medizinischer Sicht nicht zu beanstanden sei. Die von der Klägerin geforderten Untersuchungen von Blut und Urin seien ärztlich nicht angezeigt gewesen. Angesichts der ihm vom Ehemann der Klägerin selbst gemachten Angaben über seinen Krankheitszustand sowie angesichts seiner eigenen Befunde habe für ihn, den Beklagten zu 2), keine Indikation einer Krankenhauseinweisung bestanden.

Hinsichtlich der Überlebenswahrscheinlichkeit bei frühzeitigerer Einweisung in ein Krankenhaus verweist der Beklagte zu 2) darauf, dass die individuelle Konstitution eines Patienten gegenüber rein statistischen Angaben wesentlich stärker zu berücksichtigen sei. Insoweit erlange die Feststellung des vorgerichtlichen Gutachters Prof. Dr. O. , dass die Pankreatitis des Patienten M. Z. wohl alkoholtoxisch ausgelöst worden sei, besondere Bedeutung, weil in solchen Fällen die Überlebenschancen als therapeutisch schwer beeinflussbar gelten.

Hilfsweise wendet sich der Beklagte zu 2) gegen das Vorbringen der Klägerin zur Höhe des vermeintlichen Schadensersatzanspruches und nimmt insoweit Bezug auf seine Ausführungen im Schriftsatz vom 05.08.1998, dort vor allem Seiten 4 bis 9 des Schriftsatzes (Bl. 58 bis 62 Bd. I GA).

Der Senat hat auf der Grundlage seines Beweisbeschlusses vom 03.01.2001 (vgl. Bl. 50 bis 52 Bd. III GA) ergänzend zur Beweisaufnahme des Landgerichts Beweis erhoben durch Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. Ms. sowie des Oberarztes Dr. K. B. . Wegen des Inhalts der Beweisaufnahme sowie des Termins der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 06.02.2001 (vgl. Bl. 83 bis 86 Bd. III GA) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie hat auch in der Sache teilweise Erfolg. Im Ergebnis der Beweisaufnahme durch den Senat ist festzustellen, dass die gegen den Beklagten zu 1) gerichtete Klage - entgegen der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts - dem Grunde nach gerechtfertigt und ihr hinsichtlich der geltend gemachten Beerdigungskosten bereits in diesem Verfahrensstadium stattzugeben ist. Wegen der weiteren Klageforderungen gegen den Beklagten zu 1) war die Sache an das erstinstanzliche Gericht zurückzuweisen. Ohne Erfolg bleibt die Berufung der Klägerin, soweit sie sich gegen die Abweisung der Klage gegen den Beklagten zu 2) wendet.

1.

Die Klägerin hat bereits dem Grunde nach keinen Anspruch auf Schadenersatz gegen den Beklagten zu 2).

1.1. Es kann dabei dahin stehen, ob dem Beklagten zu 2) bei der notärztlichen Versorgung des Ehemannes der Klägerin am 16.06.1995 nach objektiven Maßstäben ein Behandlungsfehler unterlaufen ist oder nicht. Dies ist bereits zweifelhaft.

a) Die vom Beklagten zu 2) am 16.06.1995 jeweils gestellten Diagnosen für die Erkrankung des Ehemannes der Klägerin sind jedenfalls nicht als Behandlungsfehler zu bewerten.

Zwar hat sich der Beklagte zu 2) in seinen beiden am vorgenannten Tage gestellten Diagnosen über die tatsächliche Erkrankung des Patienten geirrt. Er hat die zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegende nekrotisierende Pankreatitis nicht erkannt. Denn, wie sich aus den überzeugenden Ausführungen der beiden gerichtlichen Sachverständigen sowohl im schriftlichen Gutachten (dort Seiten 6 f) als auch in der mündlichen Anhörung vor dem Landgericht und vor dem Senat sowie - damit übereinstimmend - aus dem schriftlichen vorgerichtlichen Gutachten des Prof. Dr. O. (dort Seiten 7 f) ergibt, lag aus retrospektiver Betrachtung der beim Patienten festgestellten Befunde bereits am 16.06.1995 eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse vor. Insbesondere die Schmerzen beider Nierenlager sind deutliche Anzeichen dafür, dass gegen 21.00 Uhr die Pankreatitis bereits in ihre zweite Entwicklungsphase, die Ausbildung und Ausdehnung nicht nur peri-, sondern auch intrapankreatischer Fettgewebsnekrosen, eingetreten war. Erst in dieser Phase des Krankheitsverlaufes treten solche Schmerzen auf, wie sie beim Ehemann der Klägerin am 16.06.1995 vorlagen. Der Schweregrad der Erkrankung gegen 21.00 Uhr setzt wiederum einen bereits wenige Stunden zuvor in Gang gekommenen Krankheitsverlauf voraus.

Nicht jeder Diagnoseirrtum ist aber allein deshalb schon als Behandlungsfehler zu werten (vgl. BGH VersR 1981, 1033; BGH VersR 1988, 293; zuletzt Urt. v. 16.01.2001 - VI ZR 408/99 -; vgl. OLG Naumburg, Urt. des Senats v. 11.04.2000 - 1 U 176/99 -; Mertens in: MüKo -BGB-, 3. Aufl., § 823 Rn. 375; Steffen/ Dressler, Arzthaftungsrecht, 7. Aufl. 1997, Rn. 154 mwN. aus der Rechtsprechung; Laufs in: Laufs/ Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 2. Aufl. 1997, § 100 Rn. 6). Bei nachträglicher Betrachtung lässt sich bei fast jeder Fehldiagnose feststellen, dass und durch welche Erkenntnisquelle sie u.U. hätte vermieden werden können. Da das Erkennen von Krankheitsbildern jedoch keinen starren Regeln unterliegt, sondern jeweils stark individuell durch die Person des Patienten und den unmittelbaren Eindruck des Arztes vom Patienten geprägt ist, muss dem Arzt bei der Diagnosestellung ein Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum verbleiben, den auch das Haftungsrecht nicht nachträglich verkürzen darf (vgl. Steffen/ Dressler aaO., Rn. 153; Laufs aaO., § 99 Rn. 19 mwN.). Ein Verschulden des Arztes ist nur dann zu bejahen, wenn er aus seiner Sicht z.Zt. der Diagnosestellung entweder Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der gestellten Diagnose hatte oder aber solche Zweifel gehabt und diese nicht beachtet hat (Laufs aaO.). Dies war hier für den Beklagten zu 2) am 16.06. 1995 weder um 17.00 Uhr noch um 21.00 Uhr der Fall.

Die o.g., auf eine Pankreatitis bezogenen Beschwerden waren nach den nachvollziehbaren Angaben des Gutachters im Schlichtungsverfahren sowie beider gerichtlicher Sachverständiger unspezifisch, d.h. der Beklagte zu 2) konnte hieraus deren objektive Ursache, die fortschreitende nekrotisierende Pankreatitis, nicht erkennen. Die Befunde gegen 17.00 Uhr zeigten eine völlig diffuse Symptomatik, die keinen Rückschluss auf eine bestimmte Erkrankung zuließ. Sie durfte zugleich als Symptomatik einer Bagatellerkrankung - wie des hier vom Beklagten zu 2) vermuteten beginnenden Infekts - beurteilt werden; der Erhebung weiterer Befunde bedurfte es daher nicht. Die vom Beklagten zu 2) gegen 21.00 Uhr erhobenen Befunde sind zwar aus rückschauender Betrachtung als deutliche Anzeichen eines nekrotisierenden Übergriffs des aktivierten Pankreas-Sekrets auf die Nierenlager zu deuten, waren aber aus Sicht des Beklagten zu 2) mit verschiedenen Verdachtsdiagnosen erklärbar, von denen eine die vom Beklagten zu 2) tatsächlich gestellte Diagnose der Pyelonephritis ist. Diese Diagnose war demnach auf der Grundlage der dem Beklagten zu 2) bekannten Symptome vertretbar und stellte nach den o.a. Maßstäben keinen Behandlungsfehler dar.

b) Soweit die Klägerin in der Berufungsinstanz erstmals behauptet, dem Beklagten zu 2) hätten im Rahmen seiner Hausbesuche weitere Erkenntnisquellen zur Verfügung gestanden, insbesondere hätte er ambulant eine Urin- und ein Blutprobe entnehmen können, verkennt die Klägerin, dass die Untersuchung und Auswertung dieser Proben einer labortechnischen Einrichtung bedürfen und dass die Ergebnisse solcher Untersuchungen frühestens am nächsten Tage vorgelegen hätten, so dass sie jedenfalls auf die Diagnose sowie auf die Therapieentscheidung des Beklagten zu 2) am 16.06.1995 keinen Einfluss hätten ausüben können. Eine Auswertung dieser Proben durch den Notarzt wäre, wie der gerichtliche Sachverständige B. in seiner Anhörung vor dem Senat bestätigt hat, nicht möglich gewesen.

c) Allerdings bleibt auch im Ergebnis der Beweisaufnahme zweifelhaft, ob beim zweiten Hausbesuch des Beklagten zu 2) gleichwohl die Entnahme einer Urinprobe bzw. - darüber hinaus - eine Einweisung in ein Krankenhaus zur weiteren diagnostischen Abklärung geboten gewesen wäre.

Beide gerichtliche Sachverständige haben in ihrer Anhörung vor dem Senat, ebenso wie in ihrem schriftlichen Gutachten (vgl. Seite 8), übereinstimmend ausgeführt, dass der vom Beklagten zu 2) geäußerte Diagnoseverdacht auf ein bedrohliches Krankheitsbild gerichtet war, der eine weitere diagnostische Abklärung erforderte. Einig waren sich beide Sachverständige jedoch auch in der Bewertung, dass die Entnahme einer Urinprobe am nächsten Morgen - bei auf den gesamten Stoffwechsel bezogener Nüchternheit des Patienten - wesentlich sinnvoller und eine sofortige - abendliche - Urinprobennahme aus rein medizinischen Erwägungen nicht notwendig gewesen wäre. Der Sachverständige Dr. B. hat die Entnahme einer Urinprobe bzw. besser noch die Einweisung in ein Krankenhaus zur stationären Untersuchung aus seiner Sicht als "wünschenswert" allein deshalb beurteilt, weil der Hausbesuch an einem Freitagabend stattfand und der Beklagte zu 2) demzufolge um die erheblich eingeschränkten Möglichkeiten eines regulären Arztbesuches durch den Patienten am nächsten Morgen wusste oder wissen musste. Der Sachverständige Prof. Dr. Ms. hat demgegenüber die sofortige Urinprobenentnahme sowie eine Einweisung ins Krankenhaus als Handlungsalternativen, nicht als medizinisch notwendige Maßnahmen bewertet. Es kann jedoch offen bleiben, ob insoweit ein Behandlungsfehler vorliegt, denn für eine Haftung des Beklagten zu 2) fehlte es jedenfalls an dessen Verschulden (vgl. Abschnitt 1.2. dieser Entscheidungsgründe).

d) Die vom Beklagten zu 2) am 16.06.1995 gegen 21.00 Uhr eingeleitete medikamentöse Behandlung des Patienten war unter der von ihm gestellten Diagnose medizinisch geboten und nicht lückenhaft. Eine Einweisung zur stationären Behandlung war - wie oben ausgeführt - allenfalls zur Sicherung der Diagnose, nicht jedoch zur Gewährleistung einer adäquaten Therapie der vermuteten Erkrankung erforderlich.

1.2. Im Hinblick auf die unterlassene Entnahme einer Urinprobe bzw. die unterlassene Einweisung in ein Krankenhaus zur stationären Abklärung seiner Verdachtsdiagnose fällt dem Beklagten zu 2) jedenfalls kein Verschulden zur Last.

Fahrlässig handelt ein Arzt dann, wenn er das in Kreisen gewissenhafter und aufmerksamer Ärzte bzw. Fachärzte vorausgesetzte Verhalten unterlässt (vgl. Laufs aaO., § 99 Rn. 7 mwN.). Es gilt ein objektivierter, auf die berufsfachlich gebotene Sorgfalt bezogener Verschuldensmaßstab, der jedoch eine Differenzierung nach dem Status des jeweiligen Arztes zulässt (vgl. Laufs aaO., § 99 Rn. 11). Wenn im vorliegenden Fall zwei erfahrene Ärzte einer Medizinischen Hochschule, wie es die beiden gerichtlichen Sachverständigen sind und von denen mehr fachliche Kompetenz als von einem niedergelassenen praktischen Arzt, wie dem Beklagten zu 2), zu erwarten ist, in der Frage des gebotenen bzw. "wünschenswerten" Verhaltens auch auf Vorhalt und nachdrückliche Befragung durch den Senat unterschiedlicher Ansicht sind und bleiben, dann kann es für den Beklagten zu 2) jedenfalls nicht vorwerfbar sein, sich hier in der Situation eines Hausbesuches im Rahmen des Notdienstes für die eine oder die andere Handlungsalternative entschieden zu haben.

2.

Die Klägerin hat aber gegen den Beklagten zu 1) dem Grunde nach einen Anspruch auf Schadenersatz wegen schuldhaft fehlerhafter medizinischer Versorgung ihres Ehemannes; das anderslautende erstinstanzliche Urteil war insoweit auf die Berufung der Klägerin abzuändern.

2.1. Dem Landgericht ist darin zu folgen, dass der Beklagte zu 1) einen groben Behandlungsfehler zu vertreten hat.

a) Allerdings ist auch dem Beklagten zu 1) nicht vorzuwerfen, dass er die tatsächliche Erkrankung des Ehemannes der Klägerin, die seit dem 16.06.1995 fortschreitende nekrotisierende Pankreatitis, bei seinem Hausbesuch am 17.06.1995 gegen 17.00 Uhr nicht erkannt hat. Diese Erkrankung äußert sich, wie die gerichtlichen Sachverständigen überzeugend ausgeführt haben, nicht in typischen klinischen Anzeichen; u.U. hätte eine - vom Beklagten zu 1) als Notarzt nicht zu verlangende - profunde Kenntnis der Krankheitsgeschichte des Patienten, insbesondere Hinweise auf eine bereits vor dem 16.06.1995 angelegte Fettstoffwechselstörung, den Verdacht einer nekrotisierenden Pankreatitis näher gelegt. Ungeachtet dessen erfordert jedenfalls eine sichere Diagnosestellung regelmäßig die Nutzung der Labordiagnostik und der bildgebenden Verfahren, die einem Arzt im Notfalldienst, wie dem Beklagten zu 1) hier, nicht unmittelbar zur Verfügung stehen.

b) Ein Verstoß gegen die berufsfachlich gebotene Sorgfalt liegt hier jedoch in der Unterlassung der zwingend gebotenen unverzüglichen Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus zur Erhebung der erforderlichen Befunde für eine weiter gehende Diagnostik.

Dem Beklagten zu 1) bot sich am 17.06.1995 das Bild eines schweren Krankheitszustandes. Der Patient litt an starken, klopfartigen Schmerzen in beiden Nierenlagern, die seit dem Vortage trotz medikamentöser Behandlung erheblich zugenommen und sich auf den Bereich des Oberbauches ausgedehnt hatten. Der Patient hatte wiederholt erbrochen, so dass - ungeachtet des streitigen Umstandes, ob das Erbrochene bereits zum Zeitpunkt des Hausbesuches durch den Beklagten zu 1) blutdurchsetzt war oder nicht - jedenfalls von einem starken Flüssigkeitsverlust auszugehen war. Auch wenn der Allgemeinzustand des Patienten ausweislich der Dokumentation des Beklagten zu 1) zum Zeitpunkt des Hausbesuches gut war, sprach für schwer wiegendere gesundheitliche Probleme des Patienten auch der Umstand, dass dieser bzw. dessen Familienangehörige die Inanspruchnahme eines Notarztes innerhalb der letzten 24 Stunden bereits zum dritten Male für erforderlich gehalten hatten. Vor allem aber vermochte der Beklagte zu 1) den von ihm vorgefundenen Zustand des Patienten nicht zuverlässig zu bewerten. Die von ihm schriftlich niedergelegte Diagnose eines "Erbrechens unklarer Genese" zeigt, dass der Beklagte zu 1) eine ausreichende Verdachtsdiagnose nicht stellen konnte.

Angesichts dieser Situation sowie fehlender eigener Möglichkeiten zur weiteren Befunderhebung war der Rückgriff auf die im Rahmen stationärer Behandlung eröffnete umfangreichere Diagnostik medizinisch geboten, was für den Beklagten zu 1) auch erkennbar war. Denn in den o.g. Erscheinungen lagen Verdachtsmomente für eine ernst zu nehmende, keineswegs zu bagatellisierende Erkrankung des Patienten vor. Diese erforderten eine diagnostische Abklärung, bei der ein Arzt, auch ein Notarzt, alle ihm zu Gebote stehenden Erkenntnisquellen zu nutzen hat (vgl. Laufs aaO., § 100 Rn. 6). Dies gilt umso mehr, wenn dem Arzt, wie hier dem Beklagten zu 1), eine sichere Zuordnung nicht möglich ist (vgl. OLG Düsseldorf VersR 1986, 919).

c) Der Senat bewertet den vorgenannten Verstoß gegen medizinische Sorgfaltspflichten, ebenso wie das Landgericht, als einen groben Behandlungsfehler.

Ein grober Behandlungsfehler ist nach der ständigen Rechtsprechung des BGH nur dann anzunehmen, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. BGH NJW 1997, 798 mwN.; Laufs aaO., § 110 Rn. 1). Bei der Frage, ob ein Behandlungsfehler vorliegt und ob dieser als "grob" zu beurteilen ist, handelt es sich um eine Rechtsfrage (vgl. BGH VersR 1983, 729; BGH VersR 1995, 46; BGH VersR 1996, 1148; Laufs aaO., § 110 Rn. 4; Steffen/ Dressler aaO., Rn. 517 mwN.), die jedoch auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruht, die sich regelmäßig nur aus der medizinischen Bewertung des Behandlungsgeschehens durch einen Sachverständigen ergeben können. Dies ist schon deshalb erforderlich, weil der Richter den berufsspezifischen Sorgfaltsmaßstab in der Regel nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln kann und deshalb auch bei der Frage, ob ein Fehler nach den dargelegten Kriterien als grob anzusehen ist, die Würdigung des medizinischen Sachverständigen nicht außer Acht lassen kann (BGH aaO, Steffen/ Dressler aaO., Rn. 603).

Der Senat sieht die Pflicht des Beklagten zu 1) zur unverzüglichen Einweisung des Ehemannes der Klägerin in die stationäre Behandlung als in der gegebenen Situation derart elementar an, dass ein Unterlassen dieser Einweisung schlechthin unverständlich und nicht nachvollziehbar erscheint. Dabei stützt sich der Senat auf die übereinstimmende Einschätzung beider gerichtlicher Sachverständiger, die die Interpretation des Erbrechens als Medikamenten indiziert bereits im schriftlichen Gutachten (vgl. Seiten 10 f) als "nicht adäquat" bezeichnet und darüber hinaus ausgeführt haben, dass sich der Beklagte zu 1) mit dieser unsicheren Erkenntnis nicht hätte zufrieden geben dürfen. In ihrer Anhörung durch das Landgericht am 05.07.2000 haben beide Sachverständige die Durchführung labordiagnostischer Maßnahmen und zumindest einer Ultraschalluntersuchung für dringend geboten erachtet; der Sachverständige Dr. B. hat das Unterlassen der Einweisung durch den Beklagten zu 1) in dieser Situation aus ärztlicher Sicht als nicht mehr vertretbar beurteilt (vgl. Bl. 63 f Bd. II GA). Dieser zutreffenden Einschätzung ist nichts hinzuzufügen.

2.2. Durch den groben Behandlungsfehler des Beklagten zu 1) ist der Tod des Ehemannes der Klägerin am 13.07.1995 zumindest mit verursacht worden.

Angesichts des Vorliegens eines groben Behandlungsfehlers kommen der Klägerin hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität Beweiserleichterungen, hier sogar in Form einer Kausalitätsvermutung, zugute. Denn die unterlassene Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus zur Erhebung der dringend erforderlichen labordiagnostischen Befunde und der Nutzung bildgebender Verfahren zur Diagnostik steht der Nichterhebung elementarer Kontrollbefunde trotz eigener Möglichkeiten hierzu gleich; für letztere erkennt die Rechtsprechung seit längerem Beweiserleichterungen, auch im o.g. Umfange, an (vgl. Steffen/ Dressler aaO., Rn. 525 ff, 548 f, 551 mwN. aus der Rechtsprechung; Laufs aaO., § 110 Rn. 13 ff).

Entgegen der Beweiswürdigung durch das Landgericht ist dem Beklagten zu 1) der Gegenbeweis nicht gelungen. Der Senat hat ausweislich seines Beweisbeschlusses vom 03.01.2001 der Aufklärung des hypothetischen Kausalverlaufs bei unterstellter Einweisung des Ehemannes der Klägerin in das Krankenhaus M. bereits am 17.06.1995, gegen 17.00 bis 18.00 Uhr, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Im Ergebnis der ausführlichen Anhörung beider gerichtlicher Sachverständiger zu dieser Beweisfrage hat der Senat die Überzeugung gewonnen, dass der Patient im Falle der vorgenannten frühzeitigeren Einweisung in die stationäre Behandlung eine realistische Überlebenschance besessen hätte; die gerichtlichen Sachverständigen haben diese Überlebenschance übereinstimmend auf ca. 30 % geschätzt.

Ausgehend von einer ausführlichen Darstellung des allgemeinen Krankheitsverlaufes einer akuten nekrotisierenden Pankreatitis, der zur Behandlung dieser Erkrankung zur Verfügung stehenden therapeutischen Maßnahmen sowie der für die Beherrschbarkeit und Heilungschancen maßgeblichen Faktoren hat der Sachverständige Dr. B. , in seinen wesentlichen Ausführungen bestätigt durch den bei seiner Anhörung anwesenden und anschließend hierzu befragten Sachverständigen Prof. Dr. Ms. , ausgeführt, dass prognostisch entscheidend der Grad der Zerstörung der Bauchspeicheldrüse selbst sowie des umliegenden Gewebes ist. Innerhalb der zweiten Entwicklungsstufe der Pankreatitis schreitet der irreversible Untergang von Zellen des - in der ersten Entwicklungsstufe angeschwollenen - Pankreas voran, so dass schließlich in einer dritten Entwicklungsphase das - zu einer Selbstverdauung - aktivierte Pankreas-Sekret in die umliegende Körperhöhle mit lebenswichtigen Organen, so der Milz, der Nieren, der Darmwurzel und verschiedener Blutgefäße, ausfließen kann und die Nekrosen auf Gewebe außerhalb des Organraums der Pankreas übergreifen. Im hier vorliegenden Fall setzte dieser Übergriff auf andere Organe, insbesondere eine Umspülung beider Nierenlager durch ausfließendes Pankreas-Sekret mit der Folge einer Einschränkung der Nierenfunktion, wohl bereits am Abend des 16.06.1995 ein, worauf neben den vom Patienten geschilderten kolikartigen Schmerzen auch der am 18.06.1995 stark überhöhte Kreatininwert (als typische Folge eines mindestens 50%-igen Nierenfunktionsversagens) hindeutet. Eine um mindestens zwölf Stunden früher einsetzende konservative Behandlung, insbesondere eine Spülung bzw. Drainage im Bereich der Nierenlager und eine Absenkung des Fermentgehaltes im Pankreas-Sekret durch dessen Verflüssigung, erreichbar durch eine Nahrungskarenz und Zuführung erheblicher Mengen Flüssigkeit, hätte die weitere Ausdehnung der Nekrosen und damit des zunehmenden irreversiblen Verlustes von Gewebsmaterial ggfs. verhindert. Der Flüssigkeitsverlust des Patienten war hier durch das ständige Erbrechen besonders hoch und führte zu einer besonderen Anreicherung des Fermentgehalts im Sekret. Die beiden gerichtlichen Sachverständigen haben in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass eine frühzeitigere Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus die Gefahr einer besonderen Stimulanz der Krankheit, z Bsp. durch Aufnahme fettreicher Nahrung oder alkoholischer Getränke, aus Unwissenheit über die Krankheitsverläufe ausgeschlossen hätte.

Zugleich wären mit einem frühzeitigeren Einsetzen der Therapie die Chancen einer erfolgreichen operativen Ausräumung der - dann weniger ausgedehnten - Nekrosen höher gewesen, als nach dem tatsächlichen Krankheits- und Behandlungsverlauf.

Bei einer frühzeitiger einsetzenden stationären Behandlung hätten schließlich u.U. auch sekundäre Komplikationen, hier insbesondere die am 18.06.1995 festgestellte schwere bakterielle Infektion, verhindert werden bzw. zumindest besser beherrschbar bleiben können. Der gerichtliche Sachverständige Dr. B. hat nachvollziehbar erläutert, dass diese Infektion des Pankreas-Sekrets erst in der Nacht vom 17. zum 18.06. 1995 ausgebrochen sein kann; anderenfalls wären bereits beim Hausbesuch des Beklagten zu 1) deutliche Infektionssymptome zu erwarten gewesen. Der vom Beklagten zu 1) selbst dokumentierte gute Allgemeinzustand des Patienten wäre keinesfalls möglich gewesen. Einer Entstehung der Infektion zum vorgenannten Zeitpunkt könnte allenfalls die bei der Aufnahmeuntersuchung des Krankenhauses festgestellte Leukozytose (d.h. die - gutartige - Vermehrung der weißen Blutkörper) entgegen stehen, die häufig ein schwaches Indiz für länger andauernde infektiöse Prozesse sein kann, aber durchaus auch anderen Erklärungen zugänglich ist.

3.

Der Schadenersatzanspruch der Klägerin gegen den Beklagten zu 1) erstreckt sich nach § 844 Abs. 1 BGB auf die Beerdigungskosten.

Dieser Anspruch ist auch in der Höhe bereits entscheidungsreif, denn die Klägerin hat die Höhe der von ihr verauslagten und mit der Klage geltend gemachten Beerdigungskosten durch die Rechnung des Bestattungsunternehmens (Anlage K 13, Bl. 31 f Bd. I GA) belegt. Der Senat erachtet im Rahmen seiner Schadensermittlung nach § 287 ZPO diese Kosten als einer standesgemäßen Beerdigung des Ehemannes der Klägerin iSv. § 1968 BGB angemessen.

4.

Im Umfang der noch offenen Klageforderungen war die Sache nach § 538 Abs. 1 Nr. 3 ZPO an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen.

Der Senat hat im Hinblick auf die Klage gegen den Beklagten zu 1) ein Grundurteil nach § 304 ZPO sowie ein Teilurteil nach § 301 Abs. 1 ZPO erlassen, da die Höhe des Anspruchs auf Entrichtung einer Geldrente nach § 844 Abs. 2 BGB iVm. § 843 Abs. 2 bis 4 BGB noch der weiteren Aufklärung bedarf. Der Beklagte zu 1) hat sich hierzu noch nicht erklärt und sich in seiner Klageerwiderung vom 12.08.1998 (Bl. 69 ff <73> Bd. I GA) ausdrücklich einen Sachvortrag zur Höhe dieser geltend gemachten Ansprüche vorbehalten.

5.

Die Kostenentscheidung bezüglich der außergerichtlichen Auslagen des Beklagten zu 2) in beiden Instanzen beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Bereits jetzt steht, ohne dem Ergebnis des zurückverwiesenen Teils des Rechtsstreits vorzugreifen, fest, dass die Klägerin mit ihrem Klagebegehren teilweise obsiegt (siehe teilweise Stattgabe der Klage gegen den Beklagten zu 1)) und teilweise unterliegt (siehe teilweise Klageabweisung), so dass eine quotenmäßige Kostentragung zumindest hinsichtlich der Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in Betracht kommt. Im Hinblick auf diese Kostenquote ist jedoch ebenfalls bereits jetzt entscheidungsreif, dass die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) der Klägerin als der insoweit unterliegenden Partei aufzuerlegen sind.

Die weitere Kostenentscheidung ist dem Schlussurteil vorzubehalten.

Die sonstigen Nebenentscheidungen dieses Urteils beruhen auf §§ 709 S. 1, 546 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

Zurück