Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 20.12.2007
Aktenzeichen: 1 U 95/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB a.F. § 823 Abs. 1
BGB a.F. § 847 Abs. 1
BGB a.F. § 831 Abs. 1 S. 1
BGB § 278
1. Stehen mehrere medizinisch sinnvolle und angezeigte Behandlungsmethoden zur Verfügung, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten, so muss der Patient selbst prüfen und mitentscheiden können, was er an Belastungen und Gefahren im Hinblick auf möglicherweise unterschiedliche Erfolgschancen der verschiedenen Behandlungsmethoden auf sich nehmen will.

2. Zur Pflicht der Aufklärung einer Schwangeren durch den Geburtshelfer in der laufenden 31. Schwangerschaftswoche nach Blasensprung über die Möglichkeit der Hinauszögerung der Geburtseinleitung mit Förderung der Lungenreife anstelle der bewusst eingeleiteten Frühgeburt.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

1 U 95/06 OLG Naumburg

verkündet am: 20.12.2007

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Zettel sowie die Richter am Oberlandesgericht Wiedemann und Grimm auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 22.11.2006 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer der Beklagten übersteigt 20.000 €.

und beschlossen:

Der Gebührenstreitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 230.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

A.

Der Kläger verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Gesundheitsschäden, die er im Zusammenhang mit seiner Geburt am 06.07.1994 erlitten hat.

An diesem Tag stellte sich seine damals 39 Jahre alte Mutter gemeinsam mit dem Vater des Klägers in der Frauenklinik der Beklagten vor, nachdem die Fruchtblase geplatzt war. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt in der abgeschlossenen 30. Schwangerschaftswoche. Die klinische Untersuchung der Mutter des Klägers wurde von der Ärztin Dr. Kn. durchgeführt, die keine Wehentätigkeit feststellte. Ihre Körpertemperatur betrug 37,1 Grad und stieg bis um 21:00 Uhr auf 37,5 Grad an. Ein Abstrich wies keine Infektionsparameter auf. Die Gabe wehenfördernder Medikamente führte nicht zum Erfolg, so dass die damalige Oberärztin Dr. Ke. eine Schnittentbindung anordnete.

Vor der Geburt wurde die Mutter des Klägers über die allgemeinen Risiken einer Anästhesie, einer Schnittentbindung und einer Blutübertragung aufgeklärt. Ob eine Aufklärung der Mutter über die Möglichkeit des Abwartens bis zur weiteren Reifung des Kindes stattgefunden hat, ist zwischen den Parteien streitig.

Die sectio caesarea begann um 22:20 Uhr. Um 22:29 Uhr wurde der Kläger bei einem Geburtsgewicht von 2200 Gramm und Apgarwerten von 7/8/8 (aus max. 10/10/10) geboren. Nach der Entbindung wurde das Kind dem Kinderarzt übergeben.

Aufgrund einer oberflächlichen Atmung mit Atempausen wurde sodann eine Intubation erforderlich. Am folgenden Tag wurde bei einem ersten Ultraschall eine periventrikuläre Echogenitätserhöhung beobachtet. Am 12.07.1994 zeigten sich am Ultraschall zunehmende Blutungen mit Erweiterung des Ventrikelsystems.

Der Kläger leidet heute unter einer Cerebralparese im Sinne einer schweren rechts- und beinbetonten Tetraparese. Er ist auch geistig schwer behindert. Bei ihm liegen u. a. eine statomotorische Entwicklungsstörung und eine zentrale Sehbehinderung vor.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass sowohl die Entbindung als auch die vorangegangene Behandlung der Mutter des Klägers grob fehlerhaft gewesen sei. Ohne vorherige Lungenreifediagnostik hätte in der 30. Schwangerschaftswoche keine Schnittentbindung vorgenommen werden sollen. Die Schnittentbindung sei mangels Vorliegens von Infektionsparametern nicht indiziert gewesen. Außerdem hätte er als frühgeborenes Kind umgehend in das Frühgeborenenzentrum der Beklagten verlegt, und früher intubiert werden müssen. Eine sachgerechte Risikoaufklärung der Schwangeren, so hat der Kläger ferner vorgetragen, habe ebenfalls nicht stattgefunden. Als die Oberärztin die Entscheidung zur Schnittentbindung getroffen habe, sei mit seiner Mutter nicht über die Risiken dieses Eingriffs gesprochen worden.

Die Beklagte hat behauptet, es habe eine absolute medizinische Indikation zur Schnittentbindung bestanden. Desweiteren sei auch die Aufklärung der Mutter des Klägers ordnungsgemäß und umfassend gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens, insbesondere der erstinstanzlichen Anträge und auch der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme wird auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils der 9. Zivilkammer vom 22.11.2006 Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 200.000,00 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 17.12.1997 verurteilt und außerdem festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Ersatz für sämtliche materiellen Schäden und für immaterielle Schäden aus weiteren bisher noch nicht erkennbaren unvorhersehbaren Leiden zu leisten, und zwar für Schäden, die auf der Schnittentbindung des Klägers beruhen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen.

Einen ärztlichen Behandlungsfehler als Grundlage der Klageansprüche hat die Kammer indes verneint. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere auf Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. V. sei die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass der Beklagten hinsichtlich der tatsächlichen Durchführung des Kaiserschnitts und der anschließenden Erstversorgung des Neugeborenen kein ärztlicher Kunstfehler unterlaufen sei. Mitte der 90er Jahre habe es keine eindeutigen und in Leitlinien beschriebenen Handlungsanweisungen zum Vorgehen bei vorzeitigem Blasensprung gegeben. Ob ein aktives, die Geburt einleitendes Vorgehen oder ein abwartendes, konservatives Vorgehen vorzugswürdig gewesen sei, sei in der Literatur kontrovers diskutiert worden. Der Entschluss und die Durchführung der Entbindung per Kaiserschnitt seien daher möglich und nicht fehlerhaft gewesen. Die Kammer ist den Feststellungen der Sachverständigen auch insoweit gefolgt, als der neurologische Sachverständige Prof. G. schon in seinem Gutachten vom 08.08.2001 überzeugend dargelegt habe, dass die Erstversorgung des Klägers richtig gewesen sei.

Bejaht hat das Landgericht indes eine Haftung der Beklagten wegen Aufklärungspflichtverletzung. Die Schnittentbindung und ihre Folgen stelle eine rechtswidrige und schuldhafte Körperverletzung des ungeborenen Klägers dar, der mangels wirksamer Einwilligung seiner Mutter die Rechtfertigung fehle.

Da das Abwarten mit Förderung der Lungenreife eine echte Alternative zur Schnittentbindung gewesen sei, wie der Sachverständige Prof. Dr. V. in seinem Ergänzungsgutachten vom 25.05.2006 ausgeführt habe, hätte die Mutter über diese Alternative aufgeklärt werden müssen. Dass eine derartige Aufklärung nicht stattgefunden habe, stehe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aufgrund der Aussagen der vernommenen Zeugen fest. Die Verletzung der Aufklärungspflicht sei für den Schaden des Klägers auch kausal, da sich der Zurechnungszusammenhang schon aus dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht ergebe.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die eine Verletzung der Aufklärungspflicht aus zweierlei Gründen verneint. Zum einen, so trägt sie vor, habe der Sachverständige Prof. Dr. V. ausdrücklich angemerkt, dass ein Abwarten mit Förderung der Lungenreife im vorliegenden Fall keine echte Alternative gewesen sei und deshalb die Aufklärung, eine Intrauterininfektion sei für die Prognose des Frühgeborenen ungünstiger als die Unreife und demnach sei eine rechtzeitige Schwangerschaftsbeendigung anzustreben, sachlich zutreffend und hinreichend gewesen sei. Im Übrigen habe, selbst dann, wenn man von zwei gleichwertigen Alternativen ausginge, eine entsprechende Aufklärung der Kindesmutter tatsächlich stattgefunden. Insoweit greift die Beklagte die Beweiswürdigung der Kammer an und versucht im Einzelnen darzulegen, weshalb die Aussage der Zeugin Dr. Kn. stimmig, widerspruchsfrei und glaubhaft sei. Demgegenüber seien die Angaben der Kindeseltern sehr gegensätzlich und könnten beim besten Willen nicht überzeugen.

Desweiteren wirft die Beklagte dem Landgericht vor, die Beweislast ignoriert zu haben, soweit es um die Kausalität der Aufklärungspflichtverletzung für den eingetretenen Schaden gehe. Die Beklagte meint, der Geschädigte sei voll beweisbelastet dafür, dass der vertrags- und rechtswidrige Behandlungseingriff ursächlich geworden sei für die von ihm in Anspruch genommene Schädigung. Wie der Gutachter erläutert habe, könne der notwendige Kausalbezug jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Folglich spreche die Wahrscheinlichkeit maßgeblich dafür, dass auch die vom Gutachter erwähnte Handlungsalternative den Schaden bei dem Kläger nicht verhindert hätte. Daher fehle es an der von der Gegenseite zu beweisenden Kausalität für den Schaden.

Die Beklagte beantragt,

das am 22.11.2006 verkündete Urteil des Landgerichts Magdeburg abzuändern und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache unter Aufhebung des angegriffenen Urteils und des Verfahrens an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und weist nochmals darauf hin, dass es sich bei der eingetretenen Hirnblutung um ein typisches Risiko der frühen Geburt handle. Im Gegensatz zu der Beklagten kommt der Kläger in einer Gesamtschau aller bisherigen gutachterlichen Äußerungen zu dem Ergebnis, dass der Sachverständige Prof. Dr. V. ein abwartendes Verhalten mit Förderung der Lungenreife und der Gabe von Antibiotika als eine alternative Behandlungsmöglichkeit beschrieben habe. Indem sie diese Alternative nicht gewählt, sondern die nach Ansicht der Klägerseite unnötige vorzeitige Schnittentbindung angeordnet habe, habe die Oberärztin der Beklagten einen Behandlungsfehler begangen. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Schwangerschaftsbeendigung nicht völlig falsch gewesen wäre, so läge hier jedenfalls ein grober Eingriff in die mütterliche und kindliche Integrität vor, die eine besondere Aufklärung erfordert hätte. Im Rahmen der durchgeführten Beweisaufnahme vor dem Landgericht habe die Beklagte eben nicht bewiesen, dass die Mutter über die Alternativen zur und die Folgen der aktiven Schwangerschaftsbeendigung eindeutig und hinreichend aufgeklärt worden sei.

Im Hinblick auf die Kausalität widerspricht der Kläger der Beklagten und weist darauf hin, dass die frühe Beendigung der Schwangerschaft generell geeignet sei, eine Hirnblutung herbeizuführen. Dieses Risiko habe sich im vorliegenden Fall offensichtlich auch verwirklicht. Wenn die Gegenseite behaupte, der Schaden wäre auch bei einer abwartenden Therapie nicht zu vermeiden gewesen, dann handle es sich um die Behauptung einer Reserveursache, die die Gegenseite zu beweisen habe.

Mit Beschluss vom 19.05.2007 hatte der Senat eine weitere Beweiserhebung durch Einholung eines ergänzenden ärztlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. V. angeordnet, das dieser am 17.07.2007 vorgelegt hat (Bd. IV, Bl. 71, 72 d. A.).

Da die Parteien die jüngsten Ausführungen ebenfalls angegriffen haben, wurde der Sachverständige zur mündlichen Erläuterung geladen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird daher auch auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 06.12.2007 (Bd. IV, Bl. 109, 110 d.A.) verwiesen.

B.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg.

Nach Durchführung einer ergänzenden Beweisaufnahme ist auch der Senat davon überzeugt, dass die geltend gemachten Ansprüche auf Grundlage der §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1, 831 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. begründet sind. Hinsichtlich der materiellen Schäden ergibt sich die Haftung zudem aus dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung des Arztbehandlungsvertrages i. V. m. § 278 BGB.

Die Ergänzung der Beweisaufnahme wurde erforderlich, weil das Landgericht die Frage nach der Kausalität des Aufklärungsfehlers nicht hinreichend beantwortet hatte.

I.

Einen vorwerfbaren Behandlungsfehler im engeren Sinne hat das Landgericht allerdings zu Recht verneint. Die Art und Weise der Durchführung der sectio caesarea und auch die Nachbehandlung des Kindes sind nicht zu beanstanden.

1. Wie schon der neonatologische Sachverständige Prof. G. in seinem Gutachten vom 08.08.2001 (Bd. I, Bl. 194 - 211 d. A.) festgestellt hat, war die Erstversorgung des Kindes nach der Geburt fehlerfrei und der Situation angemessen. Insbesondere sei die von dem Kläger geforderte Verlegung in eine Spezialklinik für Intensivneonatologie nicht angezeigt gewesen. Vielmehr gelte der Grundsatz "Qualität ist wichtiger als Tempo", die einer umgehenden Verlegung widersprochen habe. Deshalb sei es richtig gewesen, zunächst den Versuch zu machen, das Kind ohne Intubation respiratorisch zu stabilisieren.

Fehle initial der Atemantrieb, seien mechanische Reizungen angemessen und überbrückend eine intermittierende Maskenbeatmung durchzuführen, um durch künstliche Dehnung der Luftwege eine Atemstimulation zu erreichen. Erst wenn dies nicht zum Erfolg führe, sei eine Intubation angezeigt, wie im vorliegenden Fall geschehen.

2. Als wesentliches Kernproblem des vorliegenden Falles stellt sich die Frage dar, ob die Entscheidung für die Schnittentbindung als solche (aktives Vorgehen) einen Behandlungsfehler darstellt oder ob sie - zumindest auch - medizinisch indiziert war.

a) In seinem Gutachten vom 08.08.2001 kam der Sachverständige Prof. G. zu dem Ergebnis, das aktive Vorgehen der Oberärztin der Beklagten sei falsch gewesen. Auch wenn geeignete Richtlinien von Fachgesellschaften zu dieser Zeit noch nicht vorgelegen hätten und die Erkenntnisse über die Art konservativen Vorgehens noch uneinheitlich gewesen seien, hätten aber genügend Meinungen renommierter Experten in einschlägigen Monographien vorgelegen, die ein im Prinzip exspektatives Verhalten in der vorliegenden Situation empfohlen hätten. Prof. G. hat indes darauf hingewiesen, dass er kein Geburtshelfer sei, in dessen Fachbereich die Frage nach der Behandlungsalternative falle.

b) Der von der Kammer später beauftragte Geburtshelfer Prof. Dr. V. hat in seinem Gutachten vom 12.03.2003 ausgeführt, dass zum damaligen Zeitpunkt (1994) noch keine eindeutigen und in Leitlinien beschriebenen Handlungsanweisungen für das Vorgehen beim vorzeitigen Blasensprung existiert hätten. Die ersten deutschen Leitlinien stammten aus dem Jahr 2001. Zum Zeitpunkt der Geburt des Klägers habe in der Literatur eine kontroverse Diskussion darüber bestanden, ob bei einem vorzeitigen Blasensprung ein aktives, die Geburt einleitendes Vorgehen oder ein abwartendes, konservatives Vorgehen gewählt werden solle. Das Vorgehen bei vorzeitigem Blasensprung nach der 30. abgeschlossenen Schwangerschaftswoche mit einer Einleitung der Geburt sei 1994 eine der möglichen Vorgehensweisen gewesen.

Der Sachverständige hat deshalb den Entschluss der Durchführung der Entbindung per Kaiserschnitt für nachvollziehbar und nicht fehlerhaft gehalten. Vielmehr sieht er in der Wahl des Vorgehens eine Ermessensfrage, die der Geburtshelfer zu beantworten habe. Im vorliegenden Fall sei es nicht nur zu einem vorzeitigen Blasensprung, sondern auch zu einer Blutung gekommen, deren Ursache unbekannt gewesen sei. Beide Faktoren (sowohl der vorzeitige Blasensprung als auch die Blutung) hätten Folgen einer Infektion sein können, welche wiederum eine Sepsis und sogar den Tod von Mutter und Kind hätte zur Folge haben können. Dieses Risiko einer Infektion, dass nach Angaben des Gutachters selbst bei Fehlen pathologischer Laborparameter nicht ausgeschlossen werden könne, sei abzuwägen gewesen gegenüber den Risiken einer bewusst eingeleiteten Frühgeburt.

c) Auch der Senat folgt, wie schon das Landgericht, den Ausführungen des Geburtshelfers Prof. Dr. V. , der mehrfach und mit umfassender Begründung dargelegt hat, dass jedenfalls zum hier maßgeblichen Zeitpunkt, dem Jahre 1994, die aktive Beendigung der Schwangerschaft durch Kaiserschnitt als eine mögliche Behandlungsalternative angesehen wurde und die Therapiewahl deshalb nicht als fehlerhaft angesehen werden muss, selbst wenn man daneben auch ein abwartendes, konservatives Handeln als gleichwertige Alternative hätte billigen können.

Bei der Bewertung der oberärztlichen Entscheidung für eine rasche sectio ist außerdem zu bedenken, dass der Arzt im Falle des vorzeitigen Blasensprungs nicht in jedem Fall und auch nicht unbegrenzt abwarten darf. Denn auch ein zu langes Abwarten kann leicht zu einem Behandlungsfehler führen. (vgl. Urteil des Schleswig-Holsteinischen OLG vom 10.09.2004, OLGR Schleswig 2005, 273 ff.).

II.

Eine vorwerfbare Verletzung der Aufklärungspflicht, die zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs führt, hat das Landgericht zu Recht bejaht.

Die behandelnden Ärzte der Beklagten haben die Eltern des Klägers nicht ausreichend über die mögliche Behandlungsalternative des Abwartens aufgeklärt.

1. Jeder ärztliche Eingriff bedarf der Einwilligung des Patienten. Die Einwilligung ist nur wirksam und schließt die Rechtswidrigkeit des körperlichen Eingriffs nur aus, wenn der Patient das Wesen, die Bedeutung und die Tragweite in seinen Grundzügen erkannt hat. Dies setzt eine diagnostisch abgesicherte Aufklärung durch den Arzt voraus, die dem Stand der Wissenschaft entsprechen muss (st. Rspr., vgl. BGH, NJW 1981, 633).

Dabei muss die Aufklärung die im Großen und Ganzen bestehenden Risiken einer ordnungsgemäßen Behandlung zum Gegenstand haben (Vgl. BGH, NJW 1985, 2193). Die Intensität der Aufklärung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.

2. Die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, dem stets die Entscheidung darüber zusteht, ob und in welchem Umfange er einem ihm angeratenen ärztlichen Heileingriff mit den damit verbundenen Chancen und Risiken für seinen Körper und seine Gesundheit zustimmen will, kann darüber hinaus freilich auch die Unterrichtung über alternativ zur Verfügung stehende Behandlungsmöglichkeiten erfordern. Die Verpflichtung zur Aufklärung über Behandlungsalternativen kann zwar dann nicht verlangt werden, wenn der Patient keine echte Wahlmöglichkeit hat (BGHZ 102, 17-27). Wenn es sich bei der anderen Behandlungsmöglichkeit aus medizinischer Sicht objektiv nicht um eine echte Alternative handelt, weil sie im konkreten Einzelfall nicht indiziert ist, ein erheblich höheres Risiko, insbesondere eine höhere Mortalitätsrate aufweist, und wesentlich geringere Heilungschancen hat, so muss der Arzt über eine solche theoretische Behandlungsmöglichkeit nicht ungefragt aufklären. Stehen aber mehrere medizinisch sinnvolle und indizierte Behandlungsmethoden zur Verfügung, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten, muss der Patient - selbstverständlich nach sachverständiger und verständnisvoller Beratung des Arztes - selbst prüfen können, was er an Belastungen und Gefahren im Hinblick auf möglicherweise unterschiedliche Erfolgschancen der verschiedenen Behandlungsmethoden auf sich nehmen will (vgl. BGHZ 102, a.a.O.; NJW 1974, 1422, 1423; NJW 1986, 780).

3. Legt man diesen Maßstab hier an, so musste die Mutter des Klägers über die bestehende Alternative des Abwartens mit Förderung der Lungenreife an Stelle der bewusst eingeleiteten Frühgeburt und auch über die besonderen Risiken beider Vorgehensweisen vollständig aufgeklärt werden. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass im vorliegenden Fall ein abwartendes Verhalten nicht nur möglich, sondern medizinisch mindestens ebenso indiziert gewesen ist wie die Entbindung.

Insoweit ist zunächst auf die oben (B. I. 2) dargestellten Feststellungen zu verweisen, wonach beide Handlungswege medizinisch indiziert waren. In seinem jüngsten Ergänzungsgutachten vom 17.07.2007 hat der Sachverständige noch einmal sowohl das aktive Vorgehen als auch ein abwartendes Verhalten mit Förderung der Lungenreife als mögliche Alternativen dargestellt, die beide nicht als Behandlungsfehler gewertet werden könnten. Der Sachverständige Prof. V. hat darauf hingewiesen, dass selbst die Ärzte der Beklagten zum damaligen Zeitpunkt nicht von einer absolute medizinische Indikation zur Entbindung ausgegangen sein können, wie die Beklagte heute behauptet. Denn in einem solchen Notfall hätten sie sofort eine sectio einleiten müssen.

Das Abwarten wäre hier nach der Einschätzung des Sachverständigen Prof. G. , der sich der Senat anschließt, eine "Alternative mit anderen Risiken" gewesen. Im Rahmen seiner mündlichen Anhörung vor dem Senat hat der Sachverständige die Vor- und Nachteile der einen wie der anderen Handlungsalternative nochmals erläutert und seine Einschätzung für den vorliegenden Fall des Klägers dahin gehend zusammengefasst, dass man "so oder so hätte handeln können", die zur Wahl stehenden Wege also aus medizinischer Sicht beide richtig gewesen wären.

4. Nachdem ein Abwarten als ebenfalls medizinisch indizierte Alternative ernsthaft in Frage gekommen ist, hätten die behandelnden Ärzte die Mutter des Klägers über diese Behandlungsalternative und vor allem über die typischen Risiken einer vorzeitigen Einleitung der Geburt aufklären müssen. Denn die Frage, ob ein vorzeitiger Kaiserschnitt trotz bestehender Alternative stattfinden soll, darf in einem solchen Falle nicht ohne eine umfassende Information der Schwangeren durch die Ärzte getroffen werden.

5. Eine solche Aufklärung hat nicht stattgefunden, wie das Landgericht zu Recht festgestellt hat.

a) Für die Erteilung der erforderlichen Aufklärung ist die Beklagte beweispflichtig.

Da es eine schriftliche Aufklärung der Mutter nicht gegeben hat, kommt nur die von der Beklagten behauptete mündliche Aufklärung, insbesondere durch die Zeugin Dr. Kn. , in Betracht. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme und der Befragung der Zeugen ist das Landgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass eine solche Aufklärung auch nicht mündlich vorgenommen worden sei. Dem schließt der Senat sich an.

b) Ein Anlass zur Wiederholung oder zur Ergänzung der Zeugenvernehmung bestand nicht.

Dabei kommt es entgegen der Argumentation der Beklagten im Berufungsverfahren nicht in erster Linie darauf an, ob man der Zeugin der Beklagten, Frau Dr. Kn. , allein Glauben schenkt, oder auch die Aussagen der Eltern des Klägers für glaubhaft hält, wie das Landgericht. Selbst wenn man allein von der Aussage der Zeugin Kn. ausgehen wollte, wäre die erforderliche Aufklärung über das Für und Wider der bestehenden Handlungsalternativen nicht bewiesen. Die Zeugin hat in ihrer Aussage vom 30.08.2006 zwar angegeben, sie habe mit der Mutter des Klägers auch über die Möglichkeit eines Abwartens gesprochen, jedoch darauf hingewiesen, dass ein Kaiserschnitt erforderlich würde, wenn ein "Zusatzparameter" eintreten sollte. Ein solcher "Zusatzparameter" habe nach Auffassung der Oberärztin mit Eintreten des Temperaturanstiegs vorgelegen, so dass das Risiko (wohl gemeint: einer Infektion) nun erhöht sei. Die Zeugin Kn. hat auch bestätigt, dass der Mutter die Gefahren und Risiken erläutert worden seien.

Insoweit ergibt sich aber aus der Aussage des Zeugin Dr. Kn. selbst ein erhebliches Aufklärungsdefizit. Denn während der Kindesmutter das Risiko eines abwartenden Verhaltens, das im Wesentlichen in der Infektionsgefahr besteht, ausdrücklich genannt wurde, hat die Zeugin Dr. Kn. sie auch nach ihrer eigenen Darstellung auf die erheblichen Risiken einer vorzeitigen Schnittentbindung nicht hingewiesen, die sich insbesondere aus der fehlenden Lungenreife ergeben und - wie dem Gericht schon aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. G. vom 08.08.2001 bekannt ist (Bd. I, Bl. 207 d. A.) - in etwa 10 bis 15 % der Geburten vor der 32. Schwangerschaftswoche zu einer Cerebralparese führen, wobei 1 bis 3 % der Kinder eine so starke Hirnschädigung erleiden -, dass sie bildungsunfähig bleiben. Auf derartige Risiken hat die Mutter des Klägers auch nach der Darstellung der Zeugen der Beklagten niemand hingewiesen.

III.

1. Die Behinderungen des Klägers sind zweifellos Folge der Hirnblutung, wie schon der Neonatologe Prof. G. ausgeführt hat.

a) Der Senat hat auch keinen Zweifel, dass die Hirnblutung selbst auf die von den Ärzten der Beklagten eingeleitete Frühgeburt zurückzuführen ist. Der Gutachter Prof. G. hat ausgeführt, dass die Hirnblutung mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte vermieden werden können, wenn die Schwangerschaft nicht vorzeitig beendet worden wäre. Unter Berücksichtigung der vom Gutachter Prof. G. angeführten äußeren Umstände, die für einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Frühgeburt und dem sich darin verwirklichten, typischen Risiko einer Hirnblutung sprechen, hat der Senat keine ernsthaften Zweifel an dem Ursachenzusammenhang zwischen der Geburt und der Hirnblutung. Der Gutachter Prof. V. hat zwar betont, dass der Eintritt der Gesundheitsschäden des Klägers nicht zwangsläufig waren. Dass die Schäden letztlich durch die Geburt zumindest mitverursacht wurden, hat aber auch er nicht in Frage gestellt.

b) Welcher Einzelfaktor des gesamten, von der Beklagten zu verantwortenden Geburtsgeschehens dabei für den Schadenseintritt den Ausschlag gab, kann letztlich offen bleiben. Dass neben der eingeleiteten Geburt noch weitere Kausalbeiträge für die Entwicklung des Gesundheitsschadens des Klägers denkbar sind, steht der Haftung der Beklagten nicht entgegen. Die Mitursächlichkeit des Handels der Ärzte genügt, um dem Schädiger den gesamten Schaden zuzurechnen, wenn nicht feststeht, dass es nur zu einem abgrenzbaren Teil des Schadens geführt hat (Schleswig-Holsteinisches OLG, a.a.O. m.w.N). Die mögliche Mitursächlichkeit einer länger andauernden perinatalen Sauerstoffversorgungsstörung für den eingetretenen Hirnschaden wird von den gerichtlichen Sachverständigen nicht als ausgeschlossen erachtet, aber auch nicht ausdrücklich bestätigt.

2. Die Beklagte hat den Beweis nicht erbracht, dass es zu der Cerebralparese auch dann gekommen wäre, wenn die Schnittentbindung unterblieben wäre. Die Beweislast für diese auf eine Hypothese gestützte Behauptung trägt die Beklagte.

a) Soweit die Berufungsklägerin die Auffassung vertritt, die Klägerin müsse beweisen, dass eine abwartende, konservative Behandlung den eingetretenen Schaden verhindert hätte, was nicht zu beweisen sei, beruht dies auf einer Verkennung der Beweislast. Die Beklagte verkennt, dass die Frage, ob eine Behandlungsalternative zu einem besseren Ergebnis geführt hätte, nicht die Kausalität der tatsächlich durchgeführten Entbindung für den eingetretenen Schaden, sondern einen hypothetischen Kausalverlauf im Falle des rechtmäßigen Alternativverhaltens betrifft, für den die Beklagte beweispflichtig ist (vgl. BGH, NJW 2005, 1718; BGHZ 106, 153, 156; VersR 1959, 811, 812; VersR 1987, 667, 668; VersR 1989, 289, 290).

b) Die Beklagte räumt selbst ein, dass dieser Beweis nicht gelungen ist, auch wenn sie es für wahrscheinlich hält, dass auch die gutachterlich erwähnte Alternative den Schaden des Klägers nicht verhindert hätte. Der Sachverständige Prof. V. hat die Frage nach der hypothetischen Kausalität nicht im Sinne der Beklagten beantwortet, sondern darauf hingewiesen, dass über den hypothetischen weiteren Verlauf allenfalls spekuliert werden könnte. Zwar hält er es durchaus für möglich, dass die Geburt kurze Zeit später ohnehin hätte eingeleitet werden müssen. Aber selbst wenn man - spekulativ - unterstellen wollte, dass eine Entbindung kurze Zeit später, etwa am nächsten Tag ohnehin aus anderen Gründen hätte erfolgen müssen, so ließe sich nicht nachweisen, dass diese spätere Geburt dieselben negativen Folgen gehabt hätte.

IV.

Die Höhe des vom Landgericht zugesprochenen Schmerzensgeldes ist auch nach Ansicht des Senates angemessen. Zur Begründung wird auf die Ausführungen der Kammer zur Ermittlung der Schmerzensgeldhöhe Bezug genommen, die auch von der Beklagten im Berufungsverfahren nicht angegriffen wurden. Als weiterer Vergleich mag auch hier das oben zitierte Urteil des Schleswig-Holsteinischen OLG vom 10.09.2004 dienen, durch das dem Geschädigten ein Schmerzensgeld von ca. 180.000 € zugesprochen wurde. In einem anderen, ebenfalls vergleichbaren Fall hat das OLG Hamm für ein Kind gleichen Alters 500.000 DM Schmerzensgeld als angemessen erachtet (VersR 1999, 488).

C.

Der Zinsanspruch in Höhe von 4 % ist begründet aus §§ 284 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB a.F. und wurde von der Beklagten im Berufungsverfahren auch nicht angefochten.

D.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die weiteren Nebenentscheidungen beruhen auf § 20 Nr. 8 EGZPO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711, sowie 543, 544 Abs. 1 ZPO.

Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.

Der Streitwertbeschluss beruht auf §§ 48 Abs. 1 GKG, 3 ZPO. Ausgehend von dem bezifferten Schmerzensgeldantrag in Höhe von 200.000,00 EUR führt der Feststellungsantrag für zukünftige materielle und immaterielle Schäden zu einer Erhöhung bis zur nächsten Gebührenstufe, also 230.000,00 EUR.



Ende der Entscheidung

Zurück