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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Beschluss verkündet am 02.12.2008
Aktenzeichen: 1 Ws 674/08
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 121
StPO § 121 Abs. 1
StPO § 122
StPO § 264
StGB § 53
1. Auch wenn die Akten dem Senat nicht zur Durchführung der Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO vorgelegt worden sind, kann über die Haftfortdauer nach § 121 Abs. 1 StPO entschieden werden (Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 122 Rdnr. 1).

2. Der von dem Tatbegriff des § 264 StPO oder des § 53 StGB abweichende Begriff "dieselbe Tat" i. S. v. § 121 Abs 1 StPO ist nach der in Rechtsprechung und Literatur herrschenden Meinung so zu verstehen, dass ihr alle Straftaten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an zuzurechnen sind, in dem sie angesichts des jeweils zu bejahenden dringenden Tatverdachts gegen den Beschuldigten "bekannt" gewesen sind und daher, einen Haftgrund unterstellt, in einem Haftbefehl hätten aufgenommen werden können (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., § 121, Rdnr. 11f.; OLG Stuttgart, StV 2008, 85f. m. w. Nw.). Dies gilt unabhängig davon, ob die Straftaten Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Dies folgt aus dem Normzweck des § 121 StPO, der sicherstellen soll, dass die Dauer der Untersuchungshaft aus verfassungsrechtlichen Gründen zeitlich begrenzt wird und die Strafverfolgungsorgane das oder die Strafverfahren beschleunigt betreiben. Dieses Ziel wird allein erreicht, wenn alle Taten, die Gegenstand eines Haftbefehls sein könnten, begrifflich unter § 121 StPO eingeordnet werden (vgl. OLG Zweibrücken, StV 1998, 556, 557). Nur so kann der Umgehung des von § 121 Abs. 1 StPO gewährten Schutzes des Beschuldigten durch die sogenannte "Reservehaltung" von Tatvorwürfen entgegen getreten werden. Der spätere Erlass eines zweiten Haftbefehls aufgrund der "in Reserve gehaltenen" Tatvorwürfe hätte zumindest eine zeitliche Verschiebung, wenn nicht gar die vollständigen Verhinderung - nämlich nach Erlass eines auf Freiheitsentziehung lautenden Urteils in dem weiteren Verfahren - der an sich veranlassten Haftprüfung durch das Oberlandesgericht zur Folge.

3. Ob eine Tat Gegenstand eines bereits vollstreckten Haftbefehls hätte sein können, richtet sich danach, ob und wann hinsichtlich dieser Tat dringender Tatverdacht bestand, was voraussetzt, dass mit großer Wahrscheinlichkeit von der Täterschaft oder Beteiligung des Beschuldigten auszugehen ist. Dabei kommt es zur Erreichung des Normzwecks nicht darauf an, ob und wann die Staatsanwaltschaft den dringenden Tatverdacht bejaht hat. Entscheidend ist vielmehr der Zeitpunkt, an dem sie ihn hätte bejahen können (vgl. OLG Zweibrücken a. a. O.).


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG BESCHLUSS

1 Ws 674/08 OLG Naumburg

In der Strafsache

wegen Vergewaltigung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg am 02. Dezember 2008 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Krüger, den Richter am Oberlandesgericht Sternberg und den Richter am Oberlandesgericht Halves

beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Halle vom 16. Oktober 2008 wird aufgehoben.

Der Angeklagte ist in dieser Sache auf freien Fuß zu setzen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte befand sich zunächst aufgrund des von der Staatsanwaltschaft Halle beantragten Haftbefehls des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 20. September 2007 (303 Ls 270 Js 27620/07), der auf den dringenden Tatverdacht des Betruges in sieben Fällen und den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt war, vom 08. Oktober bis 13. November 2007 in Untersuchungshaft. Zur Vollstreckung des Restes der Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Halle-Saalkreis vom 29. August 2003 (350 Ds 601 Js 6333/03) wurde die Untersuchungshaft vom 14. November bis 18. Dezember 2007 unterbrochen. Seit dem 19. Dezember 2007 befand sich der Angeklagte mit Ausnahme des 18. April 2008, als ein Tag Erzwingungshaft vollstreckt worden ist, wiederum in jener Sache in Untersuchungshaft. Mit Urteil des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 12. Juni 2008 wurde gegen ihn wegen Betruges in zwölf Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt und mit Beschluss vom selben Tag der Haftbefehl vom 20. September 2007 nach Maßgabe des Urteils aufrechterhalten. Bis zum Erlass des Urteils hatte der Angeklagte beinahe sieben Monate Untersuchungshaft erlitten. Gegen das Urteil legte der Angeklagte das Rechtsmittel der Berufung ein. Mit Beschluss vom 21. Oktober 2008 hob die 9. Strafkammer - Berufungskammer - des Landgerichts Halle den Haftbefehl mit der Begründung auf, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr in Wegfall geraten sei, da zum einen die Regelung des § 329 StPO den Fluchtanreiz mildere und zum anderen in anderer Sache gegen den Angeklagten inzwischen Haftbefehl erlassen worden sei.

Die in der vorliegenden Sache mit Datum vom 14. April 2008 erhobene Anklage der Staatsanwaltschaft Halle (Az.: 170 Js 22053/07), mit welchem dem Angeklagten zwei Vergewaltigungen (Tatzeiten: 12. Mai und 07. Juni 2007) zur Last gelegt werden, hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Halle nach Eingang der Akten am 26. Mai 2008 mit Beschluss vom 11. September 2008 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Der Beginn der Hauptverhandlung ist auf den 16. Januar 2009 bestimmt worden.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 22. Oktober 2008 aufgrund des von der Staatsanwaltschaft am 09. Oktober 2008 beantragten und zunächst in Überhaft notierten Haftbefehls der 4. Strafkammer des Landgerichts Halle vom 16. Oktober 2008 (24 KLs - 170 Js 22053/07 -8/08), der auf den dringenden Tatverdacht der Vergewaltigung (Tatzeit: 07. Juni 2007) und den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt ist, in Untersuchungshaft.

Der gegen den Haftfehl vom 16. Oktober 2008 gerichteten Beschwerde des Angeklagten mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 17. November 2008 hat die Strafkammer nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die hier gemäß §§ 121, 122 StPO vorzunehmende Haftprüfung führt zur Aufhebung des Haftbefehls des Landgerichts Halle vom 16. Oktober 2008.

Das besondere Haftprüfungsverfahren hat Vorrang gegenüber der vom Angeklagten eingelegten Haftbeschwerde (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 122, Rdnr. 18). Auch wenn die Akten dem Senat nicht zur Durchführung der Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO vorgelegt worden sind, kann über die Haftfortdauer nach § 121 Abs. 1 StPO entschieden werden (Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 1).

Hier ist die Frist des § 121 StPO bereits verstrichen. Die Haftbefehle in den jeweils bei der Staatsanwaltschaft Halle geführten Verfahren 270 Js 27620/07 und 170 Js 22053/07 betreffen "dieselbe Tat" i. S. d. § 121 StPO. Der von dem Tatbegriff des § 264 StPO oder des § 53 StGB abweichende Begriff "dieselbe Tat" ist nach der in Rechtsprechung und Literatur herrschenden Meinung so zu verstehen, dass ihr alle Straftaten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an zuzurechnen sind, in dem sie angesichts des jeweils zu bejahenden dringenden Tatverdachts gegen den Beschuldigten "bekannt" gewesen sind und daher, einen Haftgrund unterstellt, in einem Haftbefehl hätten aufgenommen werden können (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., § 121, Rdnr. 11f.; OLG Stuttgart, StV 2008, 85f. m. w. Nw.). Dies gilt unabhängig davon, ob die Straftaten Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Dies folgt aus dem Normzweck des § 121 StPO, der sicherstellen soll, dass die Dauer der Untersuchungshaft aus verfassungsrechtlichen Gründen zeitlich begrenzt wird und die Strafverfolgungsorgane das oder die Strafverfahren beschleunigt betreiben. Dieses Ziel wird allein erreicht, wenn alle Taten, die Gegenstand eines Haftbefehls sein könnten, begrifflich unter § 121 StPO eingeordnet werden (vgl. OLG Zweibrücken, StV 1998, 556, 557). Nur so kann der Umgehung des von § 121 Abs. 1 StPO gewährten Schutzes des Beschuldigten durch die sogenannte "Reservehaltung" von Tatvorwürfen entgegen getreten werden. Der spätere Erlass eines zweiten Haftbefehls aufgrund der "in Reserve gehaltenen" Tatvorwürfe hätte zumindest eine zeitliche Verschiebung, wenn nicht gar die vollständigen Verhinderung - nämlich nach Erlass eines auf Freiheitsentziehung lautenden Urteils in dem weiteren Verfahren - der an sich veranlassten Haftprüfung durch das Oberlandesgericht zur Folge.

Ob eine Tat Gegenstand eines bereits vollstreckten Haftbefehls hätte sein können, richtet sich danach, ob und wann hinsichtlich dieser Tat dringender Tatverdacht bestand, was voraussetzt, dass mit großer Wahrscheinlichkeit von der Täterschaft oder Beteiligung des Beschuldigten auszugehen ist. Dabei kommt es zur Erreichung des Normzwecks nicht darauf an, ob und wann die Staatsanwaltschaft den dringenden Tatverdacht bejaht hat. Entscheidend ist vielmehr der Zeitpunkt, an dem sie ihn hätte bejahen können (vgl. OLG Zweibrücken a. a. O.).

Danach sind vorliegend die Voraussetzungen für die Entscheidung nach §§ 121, 122 StPO gegeben. Die Tat, die Gegenstand des Haftbefehls vom 16. Oktober 2008 ist, soll der Angeklagte vor Erlass des Haftbefehls vom 20. September 2007 begangen haben. Diese Tat war bei Eingang der Akten am 06. Juli 2007 der Staatsanwaltschaft Halle bis auf die Vernehmung des - damals - Beschuldigten ausermittelt. Nach der Gewährung von Akteneinsicht für den Verteidiger des Beschuldigten am 07. August 2007 und dem ergebnislosen Verstreichen der dem Beschuldigten gesetzten Frist zur Einlassung vom 31. August 2007 fanden keine weiteren Ermittlungshandlungen statt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Tatvorwurf der Vergewaltigung am 07. Juni 2007 der Staatsanwaltschaft im Sinne eines dringenden Tatverdachts bekannt. Aufgrund des bereits damals feststehenden Ermittlungsergebnisses hat die Staatsanwaltschaft unter dem Datum des 14. April 2008 Anklage auch wegen der Tat vom 07. Juni 2007 erhoben und am 09. Oktober 2008 Haftbefehl gegen den Angeklagten beantragt. Die Tat vom 07. Juni 2007 hätte deshalb bereits in den am 20. September 2007 vom Amtsgericht Halle (Saale) erlassenen Haftbefehl aufgenommen werden können.

Anstatt diesen Haftbefehl auch auf die Tat vom 07. Juni 2007 zu erstrecken, hat die Staatsanwaltschaft - was an sich nicht zu beanstanden ist - zwei getrennten Verfahren geführt. Diese Verfahrensweise darf jedoch nicht dazu führen, dass die besondere Haftprüfung des § 121 StPO umgangen wird. Deshalb ist in die zu berechnende Sechs-Monats-Frist sowohl der Zeitraum des Untersuchungshaftvollzuges vom 08. Oktober 2007 bis zu dem auf Freiheitsentziehung lautenden Urteil des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 12. Juni 2008, wovon die Zeiten der Vollzugsunterbrechung vom 14. November bis 18. Dezember 2007 sowie am 18. April 2008 in Abzug zu bringen sind, als auch die Zeit des Vollzuges des zweiten Haftbefehls ab dem 22. Oktober 2008 nach Aufhebung des ersten Haftbefehls einzurechnen. Nicht zu berücksichtigen ist dagegen die Zeit zwischen dem 12. Juni 2008 und dem 21. Oktober 2008, in welcher der die abgeurteilten Taten betreffende Haftbefehl vom 20. September 2007 vollzogen worden ist, da dies hinsichtlich dieser Taten nach einem auf Freiheitsentziehung erkennendem Urteil geschah. Unter Abzug dieser Zeiten befindet sich der Angeklagte bereits über acht Monate wegen "derselben Tat" in Untersuchungshaft, ohne dass bisher eine Aktenvorlage bzw. eine Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO hinsichtlich der Tat vom 07. Juni 2007 stattgefunden hätte, die nunmehr veranlasst ist.

Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft ist unzulässig. Es liegen bereits die allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft nach § 112 StPO nicht vor.

Zwar besteht gegen den Angeklagten aufgrund der in der Anklageschrift vom 14. April 2008 aufgeführten Beweismitteln dringender Tatverdacht bezüglich der allein den Gegenstand des Haftbefehls vom 16. Oktober 2008 bildenden Tat vom 07. Juni 2007. Auch mag der dem Haftbefehl zugrundegelegte Haftgrund der Fluchtgefahr mit der im vorliegenden Verfahren gegebenen Straferwartung unter weiterer Berücksichtigung des dem Angeklagten drohenden Strafvollzuges in dem Verfahren 270 Js 27620/07 sowie infolge des zu erwartenden Bewährungswiderrufs bezüglich des Gesamtstrafenbeschlusses des Amtsgerichts Blomberg vom 18. Juni 2006 (1 Ds 22 Js 633/05) gerechtfertigt sein.

Der angefochtene Haftbefehl ist jedoch aufzuheben, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft wegen Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots unverhältnismäßig ist, § 120 Abs. 1 S. 1 StPO.

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen umfasst das gesamte Strafverfahren (BVerfG, Beschluss vom 22.02.2005 - 2 BVR 109/05 -; BVerfG, Beschluss vom 29.12.2005 - 2 BVR 2057/05 -). An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert (vgl. BGHSt 38, 43; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18.08.1982 - 1 Ws 607/82 -; Senat, Beschluss vom 07. November 2006 - 1 Ws 533/06 -). Dabei kann - je nach Sachlage - bereits eine vermeidbare Verfahrensverzögerung von rund zwei Monaten mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen unvereinbar sein (vgl. BVerfG a. a. O.; OLG Schleswig, Beschluss vom 02.04.1992 - 1 HEs 14/92-; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 07.03.1985 - 2 Ws 90/85 H -; OLG Köln, Beschluss vom 18.08.1992 - HEs 136/92 -; OLG Koblenz, Beschluss vom 28.04.2000, StV 2000, 515; Senat, Beschluss vom 19. Mai 2008 - 1 Ws 294/08 - m. w. Nachw.).

So liegt es hier. Die Staatsanwaltschaft hat nach der Inhaftierung des Angeklagten erst unter dem Datum des 14. April 2008 Anklage erhoben, ohne dass für diese Verzögerung ebenso wie für den erst sechs Wochen späteren Eingang der Akten bei Gericht am 26. Mai 2008 ein sachlicher Grund erkennbar wäre. Auch der Eröffnungsbeschluss vom 11. September 2008 ist erst dreieinhalb Monate nach Eingang der Akten bei Gericht ergangen. Der Beginn der Hauptverhandlung ist erst für den 16. Januar 2009 und damit mehr als vier Monate nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses anberaumt worden. Im Ergebnis ist hier ohne Belang, dass diese Terminierung laut den Ausführungen der Nichtabhilfeentscheidung - neben der Belastung der Kammer - in erster Linie der terminlichen Verhinderung des Verteidigers des Angeklagten geschuldet ist. Vielmehr zwingt die in den Verantwortungsbereich der Justiz und nicht des Angeklagten fallende insgesamt erhebliche Verfahrensverzögerung zur Aufhebung des angefochtenen Haftbefehls.

Ende der Entscheidung

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