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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Beschluss verkündet am 19.02.2001
Aktenzeichen: 10 Wx 6/01
Rechtsgebiete: AuslG, FEVG, FGG


Vorschriften:

AuslG § 103 Abs. 2 Satz 1
AuslG § 55 Abs. 2
FEVG § 3 Sätze 1 u. 2
FEVG § 7 Abs. 1
FEVG § 5 Abs. 1 Satz 1
FGG § 29 Abs. 2
FGG § 22 Abs. 1
FGG § 12
1. Von der persönlichen Anhörung eines Ausländers, dem die Freiheit entzogen werden soll, kann im Beschwerdeverfahren nur dann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn der Sachverhalt schon vom Amtsgericht umfassend aufgeklärt und der Betroffene bereits in erster Instanz zu allen für die Haftentscheidung maßgeblichen Punkten gehört wurde, so dass ausgeschlossen erscheint, dass die erneute Anhörung durch das Beschwerdegericht zur Feststellung weiterer entscheidungserheblicher Tatsachen führt.

2. Die Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger vietnamesischer Staatsangehöriger nach Vietnam unterliegt der Besonderheit, dass den deutschen Ausländerbehörden eine Abschiebung vietnamesischer Staatsangehöriger nur im Rahmen des - völkerrechtlich verbindlichen - Abkommens über die Rückübernahme von vietnamesisichen Staatsangehörigen (BGBl. II, 744 Rückübernahmeabkommen) möglich ist.

3. Daraus ergibt sich - ungeachtet der tatsächlichen Einhaltung der vorgesehenen Fristen und der schleunigen Abwicklung aller Verfahrensschritte - jedenfalls, dass für Personen, die nicht mindestens auf der Liste A aufgeführt sind, eine Rückführung nach Vietnam innerhalb von drei Monaten oder nahe dieser Frist ausgeschlossen erscheint.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG BESCHLUSS

10 Wx 6/01 OLG Naumburg

In der Abschiebungshaftsache

betreffend den vietnamesischen Staatsangehörigen

...

hat der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Neuwirth, den Richter am Oberlandesgericht Rüge und den Richter am Landgericht Wiedemann am 19. Februar 2001 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Magdeburg vom 23. Januar 2001 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über den Ersatz der Auslagen im Verfahren der weiteren Beschwerde - an das Landgericht Magdeburg zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Betroffene reiste erstmals im Januar 1993 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde mit Bescheid vom 21. April 1993 - bestandskräftig seit dem 26. Januar 1994 nach rechtskräftiger Abweisung der dagegen eingereichten Klage durch das Oberverwaltungsgericht Magdeburg - abgelehnt. Da der Betroffene keinen Pass besaß, wurde die Rückführung nach Zustimmung der vietnamesischen Behörden über das Rückübernahmeabkommen eingeleitet und am 13. Oktober 1998 vollzogen.

Der Betroffene reiste nach eigenen Angaben am 10. Oktober 2000 erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er wurde am 24. Oktober 2000 zur Vollstreckung einer 4-monatigen Freiheitsstrafe wegen Verstoßes gegen die Abgabenordnung in Haft genommen. Sein am gleichen Tag gestellter Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag) wurde durch Beschluss des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 17. November 2000 abgelehnt. Der Beschluss ist seit dem 2. Dezember 2000 bestandskräftig.

Der Beteiligte betrieb sodann die Abschiebung (Rückführung) des Betroffenen. Da sich dieser weigerte, die hierfür nach dem deutsch-vietnamesischen Rückübernahmeabkommen erforderlichen Antragsformulare auszufüllen, übergab der Beteiligte am 22. Dezember 2000 an die Grenzschutzdirektion ein Rückübernahmeersuchen mit den alten Antragsformularen des Betroffenen zur Weiterleitung an die vietnamesischen Behörden.

Der Beteiligte beantragte am 2. Januar 2001 die Anordnung der Sicherungshaft des Betroffenen bis zu drei Monaten. Diesem Antrag entsprach das Amtsgericht Halberstadt nach Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom 5. Januar 2001. Die dagegen am 11. Januar 2001 eingelegte sofortige Beschwerde des Betroffenen vom gleichen Tage wies das Landgericht Magdeburg mit Beschluss vom 23. Januar 2001 zurück, ohne den Betroffenen anzuhören. Dagegen richtet sich die am 26. Januar 2001 mit anwaltlichem Schriftsatz vom gleichen Tage eingelegte weitere sofortige Beschwerde des Betroffenen. Der Betroffene rügt die Annahme des Landgerichts, dass eine Rückübernahme des Betroffenen innerhalb von drei Monaten möglich sei, als spekulativ und völlig unrealistisch. Dies sei vielmehr nur in längerer Zeit als sechs Monaten zu erwarten. Zudem sei die Freiheitsentziehung erst zulässig, wenn die Bestätigung des Betroffenen auf der Liste B nach dem Rückübernahmeabkommen vorliege.

II.

1. Die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen ist zulässig.

Sie ist gemäß §§ 103 Abs. 2 Satz 1 AuslG, 3 Sätze 1 und 2, 7 Abs. 1 FEVG, 29 Abs. 2 FGG statthaft. Der Betroffene ist durch die Beschwerdeentscheidung in seinen Rechten beeinträchtigt, weil sie die Fortdauer der Abschiebungshaft bewirkt (§§ 29 Abs. 4, 20 Abs. 1 FGG). Die vorgeschriebene Form der Einreichung der Beschwerde (§§ 29 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGG) ist durch Unterzeichnung des Beschwerdeschriftsatzes durch Rechtsanwalt O. gewahrt. Die Beschwerdefrist gemäß § 22 Abs. 1 FGG ist eingehalten.

2. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Es führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht, weil die Beschwerdeentscheidung auf einer Gesetzesverletzung beruht.

Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts beruht auf einer Gesetzesverletzung (§ 27 Abs. 1 FGG in Verbindung mit §§ 550, 551 ZPO), weil das Landgericht den Betroffenen nicht angehört hat und nicht aufgeklärt hat, welche konkreten Maßnahmen der Beteiligte nach dem deutsch- vietnamesischen Rückübernahmeabkommen eingeleitet hat und in welcher Frist danach die Rückführung des Betroffenen konkret zu erwarten ist.

Eine Gesetzesverletzung liegt vor, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (§ 550 ZPO). In dieser Hinsicht hat der Betroffene keine konkreten Rügen vorgebracht. Ungeachtet dessen ist der Senat als Gericht der weiteren Beschwerde jedoch befugt und verpflichtet, die Beschwerdeentscheidung einer Prüfung dahin zu unterziehen, ob sie auf einer Gesetzesverletzung beruht oder beruhen kann.

Die angefochtene Entscheidung beruht auf den zwei genannten Verfahrensfehlern.

Entgegen § 5 Abs. 1 Satz 1 FEVG hat das Beschwerdegericht den Betroffenen nicht persönlich angehört. Nach dieser Vorschrift hat das Gericht die Person, der die Freiheit entzogen werden soll, mündlich zu hören. Diese Pflicht besteht nach allgemeiner Ansicht (vgl. Senat, FGPrax 2000, 210, 211; BayObLG, Beschluss vom 1. Februar 1999 - 3 Z BR 40/99; OLG Karlsruhe, FGPrax 1998, 116; OLG Hamm, FGPrax 1997, 77; OLG Brandenburg, NVwZ- Beil. I 2/2000, 22; Saage/ Göppinger, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 3. Aufl., FEVG, § 5 Rn. 2) auch für das Beschwerdegericht. Von dieser Anhörung kann nur dann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn der Sachverhalt schon vom Amtsgericht umfassend aufgeklärt und der Betroffene bereits in erster Instanz zu allen für die Haftentscheidung maßgeblichen Punkten gehört wurde, so dass ausgeschlossen erscheint, dass die erneute Anhörung durch das Beschwerdegericht zur Feststellung weiterer entscheidungserheblicher Tatsachen führt (Senat, aaO).

Ein solcher Ausnahmetatbestand lag entgegen der formelhaften Darlegung des Beschwerdegerichts, der Betroffene sei durch das Amtsgericht umfassend angehört worden und es sei keine weitere Sachaufklärung zu erwarten, nicht vor. Das Land-gericht durfte deshalb nicht ohne Verstoß gegen §§ 5 Abs. 1 Satz 1 FEVG, 12 FGG von der Anhörung des Betroffenen absehen. Die persönliche Anhörung des Betroffenen dient nicht etwa nur der Gewährung des verfassungsmäßig verbürgten rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Sie ist vielmehr zugleich ein wesentlicher Teil der zur Tatsachenfeststellung erforderlichen und von Amts wegen durchzuführenden Ermittlungen im Sinne des § 12 FGG (OLG Brandenburg, aaO). Bei Durchführung der Anhörung unter der gebotenen Teilnahme des Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen wäre das Landgericht mit dem Einwand des Betroffenen konfrontiert worden, seine Abschiebung sei nach der Verfahrensweise entsprechend dem Rückübernahmeabkommen nicht binnen drei Monaten, sondern erst zu ungewisser Zeit möglich. Es hätte dann durch Befragung des anwesenden Vertreters des Beteiligten oder auf andere Weise ermitteln müssen, welche Maßnahmen der Beteiligte konkret eingeleitet hat und in welchem Stadium sich das Rückführungsverfahren befindet. Daraus wären hinreichend genaue Rückschlüsse darauf möglich gewesen, ob der Betroffene innerhalb von drei Monaten abgeschoben werden kann, wie es der Beteiligte pauschal behauptet, oder ob der Zeitpunkt der Rückführung ungewiss ist und deswegen ein Duldungsanspruch des Betroffenen nach § 55 Abs. 2 AuslG in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 1997, BVerwGE 105, 232, 234 ff.).

Die Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger vietnamesischer Staatsangehöriger nach Vietnam unterliegt der Besonderheit, dass die SR Vietnam die zwangsweise Abschiebung ihrer Staatsangehörigen dorthin in der Vergangenheit nicht hingenommen hat. Deswegen ist am 21. Juli 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam das Abkommen über die Rückübernahme von vietnamesischen Staatsangehörigen (BGBl. II, 744 - Rückübernahmeabkommen) geschlos-sen worden. Den deutschen Ausländerbehörden ist eine Abschiebung vietnamesischer Staatsangehöriger nur im Rahmen dieses - völkerrechtlich verbindlichen - Abkommens möglich (BVerwG aaO). Der Beteiligte hat in seiner Stellungnahme an den Senat vom 8. Februar 2001, die bis auf das Datum seiner Stellungnahme im Beschwerdeverfahren wörtlich entspricht und sich mit dem Vorbringen der weiteren Beschwerde nicht auseinandersetzt, bestätigt, dass der Betroffene unter das Rückübernahmeabkommen fällt. Er hat ferner nur bekundet, es sei aus der Erfahrung heraus damit zu rechnen, dass mit Zustimmung der Behörden in Vietnam die Abschiebung innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Rückübernahmeersuchens vollzogen werden könne. Weitere Anhaltspunkte hierzu hat er nicht mitgeteilt. Tatsächliche Umstände, aus denen das Landgericht nachvollziehbar schließen konnte, der Betroffene könne innerhalb von drei Monaten abgeschoben werden (Beschluss S. 3), sind hieraus nicht ersichtlich.

Nach Art. 11 des Rückübernahmeabkommens werden die Einzelheiten der Durch-führung der Rückführung in einem Durchführungsprotokoll geregelt. Dieses Protokoll (BGBl. 1995 II, 746) sieht nach Art. 1 Nr. 1 zur Rückführung vietnamesischer Staatsangehöriger vor, dass die zuständigen deutschen Behörden über die deutsche Botschaft in Hanoi beim vietnamesischen Innenministerium ein Übernahmeersuchen stellen. Verweigert der vietnamesische Staatsangehörige - wie hier - seine Mitwirkung an der Ausfüllung des vorgesehenen Personalfragebogens gemäß Anlage 1 zum Protokoll, so sollen mindestens die Angaben entsprechend dem als Anlage 2 dem Protokoll beigefügten Formular (Antrag auf Ausstellung eines Passersatzes der Grenzschutzdirektion) gemacht werden (Art. 1 Nr. 2 Abs. 1 Satz 3 des Protokolls). Dieses Ersuchen, die damit zusammenhängenden Unterlagen sowie eine Liste der vietnamesischen Rückkehrer (Liste A) werden sodann von der deutschen Seite den zuständigen vietnamesischen Behörden übergeben (Art. 1 Nr. 3, Art. 2 Nr. 1 des Protokolls). Die Übergabe der Liste A, die höchstens 350 Personennamen umfassen soll, wird sofort quittiert (Art. 2 Nr. 1 Prot.). Nach dem Erhalt dieser Unterlagen und der Liste A werden die vietnamesischen Behörden sie unverzüglich prüfen und bei vietnamesischen Staatsangehörigen, bei denen die Staatsangehörigkeit nachgewiesen ist, innerhalb von sechs Wochen, bei Personen, bei denen die vietnamesische Staatsangehörigkeit glaubhaft gemacht ist, sowie bei allen übrigen Personen innerhalb von drei Monaten eine Liste der Personen übergeben, bei denen die Überprüfung die vietnamesische Staatsangehörigkeit ergeben hat und die deshalb nach Vietnam zurückkehren können (Liste B- Art. 2 Nr. 2 Prot.). Anhand dieser Liste B erstellt die deutsche Seite gemäß Art. 2 Nr. 3 Prot. eine Liste der rückzuführenden Personen (Liste C), denen die vietnamesische Seite einen Passierschein ausstellt. Diese Passierscheine leiten die vietnamesischen Behörden der deutschen Seite über die deutsche Botschaft in Hanoi zu. Sodann teilt die deutsche Seite der vietnamesischen Seite nach Art. 2 Nr. 4 Prot. vierzehn Tage vor dem vorgesehenen Rückführungsflug die Rückkehrer auf der Grundlage dieser Listen mit und bereitet zum Rückführungstermin eine Liste der tatsächlichen Rückkehrer vor (Liste D), die sie der vietnamesischen Seite übergibt.

Daraus ergibt sich - ungeachtet der tatsächlichen Einhaltung der vorgesehenen Fristen und der schleunigen Abwicklung aller Verfahrensschritte - jedenfalls, dass für Personen, die nicht mindestens auf der Liste A aufgeführt sind, eine Rückführung nach Vietnam innerhalb von drei Monaten oder nahe dieser Frist ausgeschlossen erscheint. Der Beteiligte hat noch nicht einmal behauptet, dass der Betroffene in der Liste A eingetragen worden und dass und wann diese Liste den vietnamesischen Behörden übermittelt worden ist. Hierzu sind weitere Ermittlungen erforderlich und möglich, da die vietnamesische Seite die Übergabe der Liste A jeweils sofort zu quittieren hat (Art. 2 Nr. 1 Satz 2 Prot.). Diese bisher unterlassenen, indes nach § 12 FGG gebotenen Ermittlungen versetzen das Landgericht erst in die Lage, nach den konkreten Umständen der Fallgestaltung zu beurteilen, ob in angemessener Frist eine Abschiebung des Betroffenen nach Vietnam erwartet werden kann und deswegen die Anordnung der Abschiebungshaft verhältnismäßig ist.

Ende der Entscheidung

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