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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 16.11.2004
Aktenzeichen: 11 U 44/04
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO


Vorschriften:

VwGO § 106
VwGO § 106 Satz 2
ZPO § 278 Abs. 6
Zumindest seit der Reform des Zivilprozesses kann der unter Widerrufsvorbehalt geschlossene Prozessvergleich sowohl gegenüber dem Gericht als auch gegenüber der anderen Partei widerrufen werden.
OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

11 U 44/04 OLG Naumburg

verkündet am: 16. Nov. 2004

In dem Berufungsrechtsstreit

...

wegen Wirksamkeit eines Prozessvergleichs,

hat der 11. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg auf die mündliche Verhandlung vom 26. Oktober 2004 unter Mitwirkung der Vorsitzenden Richterin am Oberlandesgericht Goerke-Berzau, der Richterin am Oberlandesgericht Joost und des Richters am Amtsgericht Schleupner

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil der Einzelrichterin der 4. Zivilkammer des Landgerichts Halle vom 20. April 2004 abgeändert:

Der Prozessvergleich der Parteien vom 9. September 2003 ist unwirksam.

Das Verfahren ist vor der 4. Zivilkammer des Landgerichts Halle fortzusetzen.

Die Revision wird zugelassen.

und beschlossen:

Der Streitwert wird auf 19.500 € festgesetzt.

Gründe:

[ A ]

Wegen der dort getroffenen tatsächlichen Feststellungen wird zunächst auf die angefochtene Entscheidung des Landgerichts verwiesen.

Die Einzelrichterin der 4. Zivilkammer hat mit Urteil vom 20. April 2004 die Beendigung des Rechtsstreits durch den Prozessvergleich vom 9. September 2003 festgestellt. Hiergegen richtet sich das beklagte Land mit seiner Berufung und meint, den Vergleich wirksam widerrufen zu haben. Mangels ausdrücklicher Bestimmung des Widerrufsadressaten habe die Erklärung sowohl gegenüber dem Gericht als auch gegenüber der Klägerin abgegeben werden können. Es bestehe vor dem Landgericht Halle und im Allgemeinen zudem die Übung, Vergleiche ausschließlich gegenüber dem Gericht zu widerrufen.

Das beklagte Land beantragt,

das Urteil des Landgerichts abzuändern und festzustellen, dass der Rechtsstreit nicht durch den Vergleich vom 9. September 2003 beendet ist.

Die Klägerin verteidigt das Urteil des Landgerichts und beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

[ B ]

I. Die Berufung des beklagten Landes ist zulässig. Bejaht das Landgericht die Wirksamkeit des Prozessvergleichs und damit die Erledigung des Rechtsstreits, handelt es sich um ein rechtsmittelfähiges Endurteil (BGH, Urteil vom 18. September 1996, VIII ZB 28/96 = NJW 1996, 340-341; Zöller/Vollkommer, ZPO, 24. Aufl., § 303 Rdn. 5 m.w.N.; Zöller/Stöber, § 794 Rdn. 15a m.w.N.).

II. Auch in der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg. Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf einer Rechtsverletzung (§ 513 Abs. 1 Alt. 1 ZPO).

1. Die Einzelrichterin hat ausgeführt, das beklagte Land habe den Vergleich nicht wirksam widerrufen, weil die Widerrufserklärung innerhalb der vereinbarten Frist nur gegenüber dem Gericht erklärt worden sei, was zur Fristwahrung nicht ausgereicht habe. Als materiell-rechtlicher Vertrag sei der Vergleich mangels anderweitiger Vereinbarungen regelmäßig durch Erklärung gegenüber der anderen Partei zu widerrufen. Die vom Land zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 1993 beruhe auf § 106 VwGO und gebe für das zivilrechtliche Verfahren nichts her. Eine schlüssige Bestimmung des Gerichts als Widerrufsadressat lasse sich nicht ausmachen. Dabei könne dahinstehen, ob die vom Land behauptete Übung vorliege. Diese sei jedenfalls der im Ausland ansässigen Klägerin nicht bekannt. Ihr Berliner Rechtsanwalt sei erstmalig am Landgericht Halle tätig. Zudem müsse die Übung allgemein verbreitet sein, woran es für Deutschland fehle. Andere Anknüpfungspunkte für ein abweichendes Verständnis der Parteien bestünden nicht.

Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

2. Entgegen der Auffassung der Einzelrichterin hat das beklagte Land den Prozessvergleich durch rechtzeitige, dem Gericht gegenüber abgegebene Erklärung widerrufen.

(a) Zu Unrecht setzt sich das Landgericht nicht mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 1993 (1 C 29/92 = BVerwGE 92, 29-32) auseinander. Mit dem Hinweis auf § 106 VwGO ist kein nennenswerter Unterschied zur Rechtslage im Zivilprozess aufgezeigt.

Satz 1 des § 106 VwGO sieht den Vergleichsschluss zur Niederschrift des Gerichts vor. Diese Form war bis zur Reform des Zivilprozesses die einzige Möglichkeit, sich vor den Zivilgerichten zu vergleichen (§§ 794 Nr. 1, 160 Abs. 3 Nr. 1, 162 Abs. 1 ZPO). Nach § 106 Satz 2 VwGO i.d.F. des 4. VwGOÄndG kann ein gerichtlicher Vergleich auch dadurch geschlossen werden, dass die Beteiligten einen in der Form eines Beschlusses ergangenen Vorschlag des Gerichts, des Vorsitzenden oder des Berichterstatters schriftlich gegenüber dem Gericht annehmen. Insbesondere weil die Annahmeerklärungen hierbei an das Gericht zu richten sind, hat das Bundesverwaltungsgericht geschlussfolgert, nichts spreche dafür, dass im Gegensatz dazu ein etwaiger Widerruf des Vergleichs nicht gegenüber dem Gericht, sondern gegenüber dem Vergleichspartner zu erklären sei. In ergänzender Auslegung sei die Vorschrift einheitlich auszulegen, sodass alle Prozessvergleiche gegenüber dem Gericht zu widerrufen seien (BVerwG a.a.O.). Die Klage ging hier am 21. Mai 2002 beim Landgericht ein. Sie ist nach den, seit dem 1. Januar 2002 geltenden Vorschriften der ZPO zu behandeln. Mit dem Gesetz über die Reform des Zivilprozesses wurde in § 278 Abs. 6 ZPO die Möglichkeit geschaffen, einen gerichtlichen Vergleichsvorschlag durch Schriftsatz gegenüber dem Gericht anzunehmen. Dies entspricht der Konstellation, die das Bundesverwaltungsgericht veranlasste, beim Fehlen anderer Abreden das Gericht als Adressaten des Widerrufs eines Prozessvergleichs anzusehen. Auch wenn der erkennende Senat meint, das Bundesverwaltungsgericht hätte sich eher mit der Frage befassen müssen, ob etwas dafür spreche, dass der Vergleich gegenüber dem Gericht zu widerrufen sei, so weist die in seiner Argumentation zum Ausdruck kommende prozessrechtliche Sicht in die richtige Richtung und führt zum, vom Senat geteilten zutreffenden Ergebnis.

(b) Sehen die Parteien in einem Prozessvergleich die Möglichkeit des Widerrufs vor, so kommt die zur Erledigung des Rechtsstreits getroffene Vereinbarung erst mit dem Ablauf der Widerrufsfrist zustande, wenn niemand der Vergleichschließenden von der Widerrufsmöglichkeit Gebrauch gemacht hat (aufschiebende Bedingung, vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 1983, IX ZR 68/83 = BGHZ 88, 364-368; Palandt/Heinrichs, BGB, 63. Aufl., vor § 346 Rdn. 14; Palandt/Sprau, § 779 Rdn. 30; Erman/Terlau, BGB, 11. Aufl., § 779 Rdn. 31; Zöller/Stöber, § 794 Rdn. 10).

Der Prozessvergleich ist ein materiell-rechtlicher, zumeist gegenseitiger Vertrag (Palandt/Sprau, § 779 Rdn. 1a; Erman/Terlau, § 779 Rdn. 22, 31 m.w.N.; jurisPK-BGB/Bork, 2. Aufl. 2004, § 779 Rdn. 26). Hieraus wird, wie vom Landgericht, der Schluss gezogen, der Widerruf könne mangels abweichender Vereinbarung der Parteien wirksam nur gegenüber dem Vergleichspartner und nicht gegenüber dem Gericht erklärt werden (OLG Düsseldorf, Urteil vom 26. September 2001, 8 UF 87/01 = BRAK-Mitt 2002, 24; OLG Koblenz, Urteil vom 3. Juni 1997, 3 U 1450/95 = MDR 1997, 883; LG Berlin, Urteil vom 26. September 2002, 62 S 177/02 = Grundeigentum 2003, 255-256; Zöller/Stöber, § 794 Rdn. 10a). Da die Auslegung des Vergleichs häufig zu einem anderen Ergebnis führt (vgl. OLG Köln, Urteil vom 18. Dezember 1989, 13 U 150/89 = NJW 1990, 1369; OLG Brandenburg, Urteil vom 13. Juni 1995, 6 U 36/95 = NJW-RR 1996, 123) und das Landgericht nach den aus der Akte ersichtlichen Verfügungen selbst zunächst auch von einem wirksamen Widerruf ausging, geht diese Annahme mit großer Wahrscheinlichkeit bereits an der Prozesswirklichkeit vorbei (vgl. zur Üblichkeit auch BGH, Urteil vom 25. Januar 1980, I ZR 60/78 = NJW 1980, 1753; BAG, Urteil vom 21. Februar 1991, 2 AZR 458/90 = NZA 1992, 134-136; OLG Koblenz a.a.O.). Nach Auffassung des Senats ist aber zumindest seit der Reform des Zivilprozesses der mit einem Widerrufsvorbehalt geschlossene gerichtliche Vergleich im Zweifel sowohl gegenüber dem Gericht als auch gegenüber dem anderen Vertragspartner widerrufbar.

Der Prozessvergleich hat Doppelcharakter. Neben seinem materiell-rechtlichen Inhalt kommt ihm eine verfahrensbeendende und titelschaffende Funktion zu, sodass er insoweit auch Prozesshandlung ist (BGH, Urteil vom 25. Januar 1980, I ZR 60/78 = NJW 1980, 1753). Es ist daher verfehlt, das wirksame Zustandekommen des Vergleichs nur unter materiell-rechtlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Vielmehr müssen auch die verfahrensrechtlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen vorliegen. Ein aus prozessrechtlichen Gründen nicht zustande gekommener Vergleich hat ebenso wenig prozessbeendende Wirkung (Erman/Terlau, § 779 Rdn. 31).

Prozesshandlungen sind unbeachtlich, wenn sie widerrufen werden (Zöller/Greger, vor § 128 Rdn. 18). Dies muss auch für den mit einem Widerrufsvorbehalt ausgestatteten Prozessvergleich gelten. Als Adressat der Widerrufserklärung kommt nur das Gericht in Betracht, weil i.d.R. vor und gegenüber ihm prozessual gehandelt wird (Zöller/Greger, vor § 128 Rdn. 17). Diese Rolle des Gerichts macht nunmehr § 278 Abs. 6 ZPO auch für den Vergleich deutlich (BVerwG a.a.O.; OVG Lüneburg, Urteil vom 15. April 1992, 7 L 188/92 = NJW 1992, 3253-3254). Ist daher die Prozesshandlung "Vergleich" dem Gericht gegenüber widerrufen, kann der Prozess nicht als erledigt behandelt werden, es sei denn, die Parteien haben einen anderen Widerrufsadressaten bestimmt. Prozessbeendende Wirkung hat nur der materiell-rechtlich und prozessual wirksam zustande gekommene Vergleich (vgl. Zöller/Stöber, § 794 Rdn. 15). Hieran muss die Widerrufsmöglichkeit anknüpfen, sodass mangels anderweitiger Bestimmung sowohl gegenüber dem Gericht als auch gegenüber der anderen Partei widerrufen werden kann (so auch Palandt/Heinrichs, vor § 346 Rdn. 14; Palandt/Sprau, § 779 Rdn. 30; a.A. OVG Lüneburg a.a.O. - immer gegenüber dem Gericht). Nur so ist zum Ausdruck gebracht und berücksichtigt, dass der Prozessvergleich ein einheitlicher, doppelfunktionaler Prozessvertrag ist, dessen Wirksamkeit als Prozesshandlung den Regeln des Prozessrechts und als materiell-rechtlicher Vertrag dem Privatrecht folgt (vgl. jurisPK-BGB/Bork, § 779 Rdn. 26).

III. Der Senat hat daher das Urteil des Landgerichts abzuändern und festzustellen, dass der Vergleich unwirksam und vor dem Landgericht fortzusetzen ist (BGH, Urteil vom 21. Juni 1989, VIII ZR 252/88 = NJW-RR 1989, 1214-1215), was dem Antrag des beklagten Landes entspricht.

[ C ]

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, da das Verfahren noch fortzusetzen ist. Über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten des Berufungsverfahrens hat das Landgericht zu entscheiden.

Die Revision lässt der Senat zu, weil die entschiedene Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist.

Der Streitwert entspricht dem, nach dem streitigen Vergleich vom beklagten Land zu zahlenden Betrag (§§ 14 Abs. 1 Satz 1, 12 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F.; 3, 4 ZPO). Es kommt auf das Interesse des Landes, die 19.500 € nicht zahlen zu müssen, an. Deshalb ist kein Raum für einen feststellungsbedingten Abschlag.

Der nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangene Schriftsatz der Klägerin vom 15.11.2004 gab keine Veranlassung zur Wiedereröffnung derselben.



Ende der Entscheidung

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