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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 16.09.2004
Aktenzeichen: 4 U 38/04
Rechtsgebiete: VVG, AKB, StVO


Vorschriften:

VVG § 61
AKB § 12 Nr. 1 II a
StVO § 5
Ein Überholmanöver stellt auch für einen nicht alkoholisierten Fahrer erhöhte Anforderungen an sein Fahrverhalten (§ 5 StVO). Führt ein Fahrer im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit ein Überholmanöver durch, hat er als Versicherungsnehmer und damit Gegner des für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 61 VVG beweisbelasteten Versicherers dadurch noch keine Umstände für die Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs nachgewiesen, dass er durch das Ausscheren eines vor ihm fahrenden PKW im Rahmen des Überholvorgangs überrascht worden sein will.
OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

4 U 38/04 OLG Naumburg

verkündet am: 16. September 2004

In dem Berufungsrechtsstreit

wegen Versicherungsleistung

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg auf die mündliche Verhandlung vom 2. September 2004 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Klußmann, des Richters am Oberlandesgericht Feldmann und der Richterin am Oberlandesgericht Mertens

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 8. März 2004 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Stendal abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer des Klägers und der Streitwert für den Berufungsrechtszug werden auf 7.167,66 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen.

Der Kläger macht gegen die Beklagte einen Anspruch auf Versicherungsleistung aus einer Vollkaskoversicherung geltend, die er für den PKW der Marke Nissan Primera, amtliches Kennzeichen ... bei der Beklagten unterhielt.

Der Kläger befuhr mit seinem PKW am 23. Januar 2003 die Ortsverbindungsstraße L 8 von W. kommend in Richtung E. . In Höhe des Kilometers 0,2 wollte er vor ihm fahrende Fahrzeuge überholen, was aber zunächst wegen Gegenverkehrs nicht möglich war. In Höhe der Einmündung St. setzte der Kläger dann zum Überholen an.

Der PKW des Klägers erlitt in der Folge des Unfalls einen Totalschaden über einen gutachterlich festgestellten Wert von 7.500,00 Euro.

Zur Unfallzeit betrug die Blutalkoholkonzentration des Klägers 1,15 Promille. Gegen ihn erließ das Amtsgericht Salzwedel wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung durch Trunkenheit seit dem 18. September 2003 einen Strafbefehl über 50 Tagessätze, entzog die Fahrerlaubnis und sprach eine Sperrfrist von 12 Monaten aus. Wegen des weiteren Inhalts der Ermittlungsakten wird auf die beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft Stendal, Geschäftszeichen 571 Js 2878/03 Bezug genommen.

Unter Bezugnahme auf die Alkoholisierung des Klägers lehnte die Beklagte ihre Einstandspflicht ab.

Der Kläger hat behauptet,

sein Fahrverhalten zur Unfallzeit sei nicht alkoholbedingt gewesen. Das Ausscheren des vor ihm befindlichen Fahrers G. habe ihn instinktiv mit einem Ausscheren nach Links handeln lassen. Dies habe keinen Fahrfehler dargestellt, sondern sei eine normale menschliche Reaktion gewesen, denn im Zweifel weiche ein Fahrer einer Gefahrenquelle aus und fahre nicht auf diese zu. Er hat die Auffassung vertreten, unter Berücksichtigung des Schadens über 7.500,00 Euro und seiner Selbstbeteiligung von 332,34 Euro sei die Beklagte zu einer Versicherungsleistung von 7.167,66 Euro verpflichtet.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.167,66 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 8. Oktober 2003 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet,

der Fahrer E. G. habe sein Überholmanöver abgebrochen, bevor er die Mittellinie der Fahrbahn überquert habe. Infolgedessen habe sich für den Kläger keine Situation ergeben, die ein Ausweichen erforderlich gemacht habe. Das Fahrverhalten des Klägers sei eindeutig auf alkoholbedingte Ausfallerscheinungen zurückzuführen. Insbesondere das starke Übersteuern nach rechts sei ein Indiz dafür, dass der Kläger den Verlauf der Fahrbahn und die Reaktion seines Fahrzeugs nicht ordnungsgemäß eingeschätzt habe.

Die 1. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Stendal hat auf der Grundlage der prozessleitenden Anordnung vom 13. November 2003 (Bl. 25 rück d. A.) in der mündlichen Verhandlung vom 2. Februar 2004 Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen N. O. und U. G. . Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift (Bl. 31 ff. d. A.) Bezug genommen.

Die Kammer hat die Beklagte mit dem am 8. März 2004 verkündeten Urteil verurteilt, an den Kläger 7.167,66 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 8. Oktober 2003 zu zahlen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, grundsätzlich sei zwar bei absoluter Fahruntüchtigkeit nach den Regeln des Anscheinsbeweises auf ihre Ursächlichkeit für den Unfall zu schließen; damit sei hier aber nur vorläufiger Beweis erbracht. Der Kläger habe den vorläufigen Beweis erschüttert, denn er habe die ernsthafte Möglichkeit dargetan und bewiesen, dass sich der Unfall ohne Alkoholisierung in gleicher Weise hätte ereignen können. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Unfall eine Situation vorangegangen sei, die auch bei einem nicht alkoholisierten Fahrer eine Ausweichreaktion provoziert hätte. Die Beklagte habe deshalb den vollständigen Beweis einer Ursächlichkeit der Alkoholisierung für den Unfall führen müssen. Dem sei sie nicht nachgekommen.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Es sei dem Kläger nicht gelungen, den Anscheinsbeweis zu erschüttern, indem er einen anderen Kausalverlauf dargelegt habe, der einen Unfall auch dann nachvollziehbar mache, wenn er nicht absolut fahruntüchtig gewesen wäre. Ein Fahrzeugführer, der ein vor ihm fahrendes Fahrzeug überhole, das in einer Schlange befindlich sei, müsse immer damit rechnen, dass auch andere Fahrzeugführer Anstalten unternehmen, aus der Fahrzeugschlange auszuscheren. Der überholende Fahrzeugführer müsse deshalb mit besonderer Sorgfalt fahren. Das bloße Einleiten eines Fahrmanövers in Richtung der Mittellinie könne deshalb nicht sogleich dazu führen, dass der Überholende sein Lenkrad derart verreiße, dass er von der Fahrbahn abkomme.

Die Beklagte beantragt,

das am 8. März 2004 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Stendal abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die vorbereitenden Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

II.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 511, 517, 519, 520 ZPO) und in der Sache gerechtfertigt. Das angefochtene Urteil ist abzuändern und die Klage abzuweisen.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Beklagte von der Verpflichtung, gemäß § 12 Nr. 1 II a AKB für den Schadensfall Versicherungsleistung zu gewähren, frei geworden, da der Kläger den streitgegenständlichen Verkehrsunfall grob fahrlässig herbeigeführt hat (§ 61 VVG).

Unter Berücksichtigung des unstreitigen Vorliegens der Voraussetzungen für eine absolute Fahruntüchtigkeit, nämlich einer Blutalkoholkonzentration des Klägers von 1,15 Promille (BGH, VersR 1991, 1367), spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der streitgegenständliche Unfall bei einer Verkehrslage und unter Umständen geschehen ist, die ein Nüchterner in der Regel hätte meistern können (BGH, VersR 1987, 1006; 1988, 733).

Allerdings kann der Anscheinsbeweis dadurch entkräftet werden, dass der Versicherungsnehmer als Gegner des für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 61 VVG beweisbelasteten Versicherers Umstände nachweist, aus denen sich die ernsthafte, nicht nur theoretische, Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ergibt (BGH, VersR 1986, 141). Der Kläger wäre deshalb gehalten gewesen, die ernsthafte Möglichkeit darzulegen und zu beweisen, dass die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit nicht ursächlich für den Unfall war. Dies ist ihm entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht gelungen.

Im Berufungsrechtszug ist unstreitig, dass der Zeuge G. in dem Moment, in dem sich der Kläger bei seinem Überholvorgang auf seiner Höhe befand, ebenfalls ein Überholmanöver starten wollte und deshalb zum Ausscheren angesetzt hat. Entsprechend den Feststellungen des Landgerichts ist davon auszugehen, dass sich der Zeuge G. mit der Fahrerseite seines PKW kurzzeitig der Beifahrerseite des klägerischen Fahrzeugs angenähert hat. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann im Rahmen dieser Gefahrsituation jedoch nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass auch ein nüchterner Fahrer aus dieser Situation nur die Reaktion an den Tag gelegt hätte, das Lenkrad derart scharf nach links zu lenken, dass das Fahrzeug beim anschließenden Gegensteuern die komplette Fahrbahnbreite nach rechts überquert hat und schließlich rechts neben der Straße zum Stillstand gekommen war. Dem Landgericht ist zuzugeben, dass ein derartiger Fahrfehler auch einem Nüchternen unterlaufen kann, diese allgemeine Möglichkeit reicht jedoch nicht aus, den Anscheinsbeweis zu erschüttern (BGHZ 57, 509; VersR 1976, 729; 1986,141).

Vielmehr hätte der Kläger beweisen müssen, dass der Unfall durch eine andere Ursache herbeigeführt worden ist, die auch ein nüchterner Fahrer nicht hätte vermeiden können. Dies hat beispielsweise das OLG Hamm in einer Entscheidung vom 7. August 1985 bei einem Unfall durch auf der Fahrbahn liegende Holzkeile angenommen (VersR 1986, 1185).

Der Kläger hat jedoch bereits nicht dargelegt, wieso er den Überholvorgang durch eine Reduzierung der Geschwindigkeit nicht abbrechen konnte. Auch hat er nicht dargelegt, wieso er nicht von der Möglichkeit den Zeugen G. durch Betätigung der Hupe zu warnen, Gebrauch gemacht hat. Schließlich ist davon auszugehen, dass der Kläger deutlich schneller als der Zeuge G. gefahren ist, denn diesem nüchternen Fahrer gelang es nach den Schleuderbewegungen des klägerischen Fahrzeugs sein Fahrzeug unbehindert und ohne Kollision zum Stehen zu bringen. Insofern hätte sich dem Kläger als Alternativverhalten auch das weitere Beschleunigen anbieten können, um den Überholvorgang gefahrlos zu beenden. Letztlich ist nach wie vor unklar, wieso der Kläger nur das Ausweichmanöver nach links als Möglichkeit, einen Unfall zu vermeiden, angenommen hat. Diese Unklarheiten gehen aber entgegen der Auffassung des Landgerichts zu Lasten des Klägers, der - wie ausgeführt - Umstände nachzuweisen hat, aus denen sich die ernsthafte und reale Möglichkeit ergibt, dass auch ein nüchterner Autofahrer in die streitgegenständliche Unfallsituation geraten wäre.

Vorliegend ist ferner davon auszugehen, dass der Kläger ohne vorherigen Alkoholgenuss allgemein vorsichtiger gefahren wäre und den Unfall dann vermieden hätte. Insofern ist ohne Bedeutung, ob jeder alkoholisierte Fahrer grundsätzlich dazu neigt, schneller zu fahren oder ob alkoholisierte Fahrer eher dazu neigen, besonders langsam zu fahren. Tatsächlich hat der Kläger sein Fahrzeug im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit enthemmt bewegt, ohne dass ernsthaft in Betracht kommt, dies stehe mit dem Alkoholgenuss nicht in Zusammenhang (vgl. auch OLG Düsseldorf, NJW-RR 2001, 101, 103). Immerhin hat er selbst dargelegt, von der Lenkbewegung des Zeugen G. derart aus der Fassung gebracht worden zu sein, dass er nur ein ruckartiges Ausweichen nach links als Ausweg gesehen habe. Hätte der Kläger aber beim Überholvorgang entsprechend § 5 StVO auch auf den vor ihm fahrenden, zu überholenden PKW des Zeugen G. geachtet, und die nicht fernliegende Möglichkeit in Betracht gezogen, dass auch dieser in der Kolonne ein Überholmanöver beabsichtigen könnte, wäre die von ihm geschilderte Überraschungssituation nicht eingetreten.

Schließlich ist zu bedenken, dass die konkrete Situation auch für einen nicht alkoholisierten Fahrer bereits erhöhte Anforderungen an sein Fahrverhalten stellte. Das Überholen stellt nach der StVO ein gefährliches Fahrverhalten dar, was sich aus den umfangreichen Hinweisen des § 5 StVO ergibt. Der Fahrer hat demnach auf nachfolgenden, vorausfahrenden und Gegenverkehr zu achten, so dass an sein Reaktionsvermögen erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Im übrigen sei bemerkt, dass die offensichtlich anzunehmende starke Lenkbewegung eine typische Reaktion für einen betrunkenen Autofahrer darstellt. Ein nüchterner Autofahrer ist grundsätzlich in der Lage, besonnener zu reagieren. Nochmals: Dass der Unfall auch einem nüchternen Autofahrer hätte geschehen können, ist unerheblich. Entscheidend ist, ob ein nüchterner Autofahrer die Situation besser hätte meistern können. Hiervon ist entsprechend den obigen Ausführungen aber auszugehen, so dass die Beklagte von der Verpflichtung zur Versicherungsleistung frei geworden ist.

Sonstige Gründe, welche der Klage zum Erfolg verhelfen könnten, sind nicht ersichtlich, so dass das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Wertfestsetzung ergibt sich aus §§ 2, 3 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO; Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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