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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 31.01.2007
Aktenzeichen: 6 U 98/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 282 a. F.
1. Der Betreiber eines Altenpflegeheimes hat aus dem Heimvertrag mit dem Heimbewohner Obhutspflichten zum Schutz dessen körperlicher Unversehrtheit.

2. Allein aus dem Umstand, dass der Heimbewohner im Bereich des Pflegeheimes gestürzt ist und sich dabei verletzt hat, kann nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Heimpersonals geschlossen werden.

3. Die Beweislastregel des § 282 BGB a. F. (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB n. F.) ist in diesem Fall nicht anwendbar. Dem Krankenversicherer als Anspruchsteller kommt deshalb keine Beweiserleichterung in Gestalt einer Beweislastumkehr zugute. Ihm bleibt die Beweislast für eine schuldhafte Pflichtverletzung des Heimpersonals (Anschluss an BGHZ 163, 53 ff.).


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

6 U 98/06 OLG Naumburg

verkündet am: 31. Jan. 2007

In dem Rechtsstreit

hat der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht v. Harbou, den Richter am Oberlandesgericht Manshausen und die Richterin am Landgericht Geyer auf die mündliche Verhandlung vom 24.01.2007 für Recht erkannt: Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 27.04.2006 verkündete Urteil des Landgerichts Halle (4 O 65/06) abgeändert und die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt aus übergegangenem Recht Schadensersatz wegen des Unfalls einer Altenheimbewohnerin.

Seit dem 01.02.1997 bewohnte die am 24.01.1906 geborene und bei der Klägerin krankenversicherte W. T. zur vollstationären Pflege und Betreuung das von dem A. Kreisverband H. e. V. (folgend: Kreisverband) betriebene Altenpflegeheim "L. " in H. , B. Straße 227. Sie erhielt auf der Grundlage der Berichte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (folgend: MDK) vom 31.07.1997 (Anlage K 1) und 10.05.2000 (Anlage K 2) Leistungen nach der Pflegestufe II.

Am 13.11.2002 schlossen der Kreisverband und die Beklagte einen Vertrag (Bl. 56 - 58, II), dessen § 3 b) lautet:

"Die A. gGmbH tritt in alle bestehenden Verträge...ein und stellt die A. e. V. frei von jeglicher Haftung. Die eventuelle Zustimmung von Vertragspartnern wird von der A. gGmbH eingeholt."

Am 31.12.2002 wurde der bestehende Heimvertrag "vom 1.7.02" von Frau T. gekündigt (Anlage B 9) und zwischen dem "A. Kreisverband H. e. V." und Frau T. ein "Bewohnervertrag" geschlossen (Anlage B 10), dessen § 1 Abs. 1 lautet:

"Aufnahme

Frau W. T.

wird ab siehe Vertrag vom 1.1.1998 in das APH "L. ", H. , B. Straße 227 aufgenommen."

Am 24.09.2000 wurde Frau T. nach der Mittagsruhe von der dort tätigen Pflegekraft, der Zeugin M. O. , aus dem Bett geholt und in einen Rollstuhl gesetzt. Frau T. stand aus dem Rollstuhl auf und fiel auf ihre Knie.

Die Klägerin hat vorgetragen, dass Frau T. in dem Moment aus dem Rollstuhl aufgestanden und gestürzt sei, als sich die Zeugin O. zwecks Öffnung der Zimmertür umgedreht habe. Frau T. habe bei dem Sturz einen Oberschenkelhalsbruch rechts erlitten, wodurch - mit der Klage geltend gemachte - Behandlungskosten von insgesamt 6.294,79 Euro entstanden seien, die sich aus Kosten für die in der Zeit vom 25.09. bis zum 10.10.2000 durchgeführte stationäre Behandlung (5.777,55 Euro), Krankentransporte (292,01 Euro), ambulante Behandlungen (114,53 Euro) und für sonstige Aufwendungen u. a. Physiotherapie (110,70 Euro) zusammensetzten. Frau T. sei zum Unfallzeitpunkt nicht gehfähig gewesen, so dass eine Sturzprophylaxe geboten gewesen wäre. Die Beklagte sei passivlegitimiert, da sie als Rechtsnachfolgerin des früheren Heimträgers für die Folgen des Unfallereignisses einzustehen habe.

Die Beklagte hat vorgetragen, Frau T. sei, obschon sie den Rollstuhl hiernach noch zeitweise genutzt habe, bereits im Jahre 1997 wieder gehfähig gewesen. Einer durchgehenden Beobachtung habe es daher nicht bedurft, zumal eine solche schon aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen sei. Der Unfall sei nicht vorhersehbar und nicht zu verhindern gewesen. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien in I. Instanz und der dort gestellten Anträge wird gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen (Bl. 126 - 128, II).

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin M. O. . Wegen des Beweisergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll vom 16.03.2006 (Bl. 103 - 108, I) Bezug genommen.

Mit am 27.04.2006 verkündeten Urteil hat das Landgericht Halle der Klage in vollem Umfange stattgegeben: Der geltend gemachte Schadensersatzanspruch stehe der Klägerin als Versicherungsträgerin aus übergegangenem Recht gemäß § 116 SGB X wegen des Unfallereignisses vom 24.09.2000 nach den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzung zu. Die Beklagte sei passivlegitimiert, da sie aufgrund eines dreiseitigen Vertrags in den zwischen dem Kreisverband und der Frau T. bestehenden Vertrag eingetreten sei. Die - aufgrund einer anzunehmenden Umkehr der Beweislast - insoweit darlegungs- und beweispflichtige Beklagte habe weder hinreichend dargetan noch bewiesen, dass die Heimleitung alles Zumutbare unternommen habe, um den Sturz zu verhindern. Es könne nicht festgestellt werden, dass sich der im Bericht des MDK vom 31.07.1997 beschriebene Zustand der Frau T. bis zum Unfalltag verändert habe. Daher habe zu diesem Zeitpunkt eine Gehunfähigkeit vorgelegen, so dass die Heimleitung verpflichtet gewesen sei, Frau T. nur unter Aufsicht aufstehen zu lassen oder auf einen Rollstuhl zu setzen, von dem ein unkontrolliertes Herunterrutschen ausgeschlossen sei. Da die Beschaffenheit des Rollstuhls, insbesondere das Vorliegen eines Haltegurtes und dessen Anlegen zum Unfallzeitpunkt, nicht geklärt werden könne, sei auf eine mangelnde Beaufsichtigung der Frau T. durch das Pflegepersonal zu schließen. Die Zeugin O. hätte durch geeignete Maßnahmen, wie etwa ein dichtes Heranfahren des Rollstuhls an die zu öffnende Tür oder das Hinzuziehen einer zweiten Pflegekraft, verhindern müssen, dass Frau T. in einem unbeobachteten Augenblick den Versuch eines Aufstehens aus dem Rollstuhl unternehme. Die geltend gemachten Schadenspositionen habe die Beklagte nicht erheblich bestritten. Die Verjährungseinrede sei unbegründet. Auf die weiteren Gründe der angefochtenen Entscheidung wird verwiesen (Bl. 128 - 132, II).

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Auf ihr Berufungsvorbringen wird Bezug genommen (Bl. 158 - 164, II).

Die Beklagte beantragt,

das am 27.04.2006 verkündete Urteil des Landgerichts Halle (4 O 65/06) abzuändern und die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Auf das Berufungsvorbringen der Klägerin wird verwiesen (Bl. 178 - 188, II).

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache Erfolg. Die Klägerin hat gegen die Beklagte aus übergegangenem Recht gemäß § 116 SGB X wegen des Unfallereignisses vom 24.09.2000 keinen vertraglichen oder deliktischen Schadensersatzanspruch in Höhe von insgesamt 6.294,79 Euro.

1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass der Heimbetreiber aus dem mit dem Heimbewohner geschlossenen Heimvertrag Obhutspflichten zum Schutze dessen körperlicher Unversehrtheit hat. Ebenso besteht eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum Schutze des Heimbewohners vor Schädigungen, die diesem wegen Krankheit oder einer sonstigen körperlichen oder geistigen Einschränkung durch ihn selbst oder durch die Einrichtung und die bauliche Gestaltung des Pflegeheimes drohen (OLG Koblenz NJW-RR 2002, 867, 868). Verletzt der Heimbetreiber diese Obhutspflichten schuldhaft, stehen dem Heimbewohner - bzw. dem Versicherer aus übergegangenem Recht - Schadensersatzansprüche sowohl aus positiver Vertragsverletzung des Heimvertrags als auch aus unerlaubter Handlung gemäß den §§ 823, 831 BGB zu.

2. Unzutreffend ist jedoch die Auffassung des Vordergerichts, dass vorliegend die Voraussetzungen für eine Umkehr der - allgemeinen - Darlegungs- und Beweislast vorliegen. Allein aus dem Umstand, dass ein Heimbewohner im Bereich des Pflegeheims gestürzt ist und sich dabei verletzt hat, kann nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals geschlossen werden. Die Beweislastregel des § 282 BGB a. F. (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB n. F.) ist nicht anwendbar. Der 3. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat klargestellt, dass dem Krankenversicherer grundsätzlich keine Beweiserleichterung in Gestalt einer Beweislastumkehr zugute kommt. Der vom 6. Zivilsenat des BGH entschiedene Sachverhalt < Urteil vom 18. Dezember 1990 - VI ZR 169/90 - NJW 1991, 1540 > betreffe einen Ausnahmefall, bei dem ein Patient gestürzt war, der von einer Krankenschwester im Krankenhaus zu einer Bewegungs- und Transportmaßnahme gerade zwecks Vermeidung eines Sturzes begleitet worden war (BGH, Urteil vom 28.04.2005 - III ZR 399/04; vgl. a. Urteil des 2. Zivilsenats des OLG Naumburg vom 31.03.2005 - 2 U 96/04 -; Urteil des Senats vom 25.05.2005 - 6 U 82/04 -; OLG Hamm NJW-RR 2003, 30, 31; OLG München VersR 2004, 618, 619).

3. Vorliegend hat die Klägerin nicht bewiesen, dass der Kreisverband am Unfalltag die gegenüber Frau T. bestehende Aufsichtspflicht verletzt hat, da die konkreten Umstände des Sturzes von Frau T. am 24.09.2000 nicht aufgeklärt werden konnten. Insbesondere sind auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme nicht die Feststellungen möglich, dass die Zimmertür geschlossen war und daher zum Herausfahren des Rollstuhls zuvor von der Zeugin O. geöffnet werden musste, dass die Zeugin O. sich beim ggf. erfolgten Öffnen der Zimmertür umdrehte und somit von Frau T. abwandte, dass der Rollstuhl über keinen Haltegurt verfügte und ein eventuell vorhandener Haltegurt nicht arretiert war. Zu keiner dieser Tatsachen hat die Zeugin bei ihrer Vernehmung ergiebige Aussagen gemacht. Die gesamte Aussage ist gekennzeichnet von Erinnerungslücken, die vor dem Hintergrund, dass der Vorgang bereits sechs Jahre zurückliegt, auch nachvollziehbar sind. Wenn diese klägerischen Behauptungen aber nicht bewiesen sind, scheidet die Annahme einer Pflichtverletzung des Kreisverbandes von vornherein aus. Das non liquet geht zulasten der Klägerin als Anspruchsstellerin.

4. Darüber hinaus ist nicht einmal eine Schlüssigkeit des klägerischen Vorbringens gegeben. Denn selbst wenn man einen Schadensverlauf unterstellte, wie ihn die Klägerin vorgetragen hat, lägen die anspruchsbegründenden Voraussetzungen einer Schadensersatzforderung nicht vor. Bei der Bestimmung des Umfangs der Obhutspflichten ist zu berücksichtigen, dass diese auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen begrenzt sind, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind (OLG München a. a. O.). Maßstab hierfür ist das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare (Urteil des 3. Zivilsenat des BGH a. a. O.). Unter Anwendung dieser Kriterien war hier weder die Hinzuziehung einer zweiten Pflegekraft noch ein Heranfahren des Rollstuhls an die Zimmertür erforderlich, um Frau T. für nicht einen Moment aus den Augen zu lassen. Frau T. befand sich nicht in einer konkreten Gefahrensituation, die gesteigerte Obhutspflichten ausgelöst hätte. Sie war nicht einer speziell für sie eingesetzten Pflegekraft anvertraut worden. Es ging lediglich um die Bewältigung eines normalen, alltäglichen Gefahrenbereichs, der grundsätzlich in der eigenverantwortlichen Risikosphäre des - alten und gebrechlichen - Heimbewohners verbleibt. Auch die Berichte des MDK vom 31.07.1997 und 10.05.2000 rechtfertigen keine andere Bewertung. Diese weisen lediglich aus, dass Frau T. gehbehindert ist, ein Stehen und Gehen nicht mehr möglich ist, ein zunehmender Hirnabbauprozess mit Verwirrtheitszuständen vorliegt und für Transfers jeglicher Art der Einsatz eines Rollstuhls erforderlich ist. Hinweise darauf, dass besondere Überwachungs- oder Fixierungsmaßnahmen, der regelmäßige Einsatz zweier Pflegekräfte oder gar eine 24-Stunden-Überwachung erforderlich gewesen wären, sind hingegen nicht vorhanden. Angesichts dessen kann sich die Beklagte darauf berufen, dass dasjenige, was sich dem MDK nicht aufdrängte, sich auch der Leitung des Pflegeheims nicht aufdrängen musste (vgl. Urteil des 3. Zivilsenats des BGH a. a. O.).

5. Aus den vorgenannten Gründen bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob die Beklagte überhaupt passivlegitimiert ist, die einzelnen Schadenspositionen in geltend gemachter Höhe von insgesamt 6.294,79 Euro feststellbar sind und ob die Voraussetzungen der Verjährung vorliegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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