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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 21.12.2004
Aktenzeichen: 9 U 100/04
Rechtsgebiete: SGB VII, BGB


Vorschriften:

SGB VII § 8
SGB VII § 108 Abs. 2
BGB § 823
Ein Zivilprozess um die Folgen eines Unfall ist nur dann gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII auszusetzen, wenn ansatzweise erkennbar ist, dass Ansprüche nach dem SGB VII überhaupt betroffen sein können. Davon ist regelmäßig nicht auszugehen, wenn sich der Unfall im Rahmen einer reinen Gefälligkeit (hier: Tochter gegenüber der Mutter) im verwandtschaftlichen Verhältnis ereignet (im Anschluss an: BGH NZM 2004, 342;343).
OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

9 U 100/04 OLG Naumburg

Verkündet am: 21.12.2004

In dem Rechtsstreit

hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg auf die mündliche Verhandlung vom 21.12.2004 unter Mitwirkung des Richters am Oberlandesgericht Dr. Tiemann, des Richters am Oberlandesgericht Manshausen und des Richters am Oberlandesgericht Dr. Grubert für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 26.7.2004 verkündete Urteil des Landgerichts Dessau (4 O 1068/03) unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.811,34 Euro nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.2.2003 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 26 % die Beklagte und zu 74 % die Klägerin.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte (= ihre Mutter) aus einem Unfallgeschehen vom 7.6.2002 in D. (Außentreppe der S. - Bank , H. straße 146 a) in Anspruch. Die Klägerin begleitete die Beklagte aus Gefälligkeit bei einem Besuch in der genannten Bank. Beim Verlassen der Bank stürzte die Beklagte. Das Unfallgeschehen ereignete sich nach dem Inhalt der Anhörung der Beklagten durch das Landgericht (Protokoll vom 5.7.2004 - Bl. 94/95 I) wie folgt:

Es war dann so gewesen, dass ich in der Bank Geld abgehoben habe und bin dann zusammen mit meiner Tochter wieder aus der Bank herausgegangen. Außer uns gingen noch zwei oder drei Mann mit uns heraus. Jedenfalls bin ich dann in der Höhe der zweiten Stufe gestürzt. Es kam bei der zweiten Stufe zu einem Fehltritt, so dass ich ins Leere trat. Ich habe versucht, mich irgendwo festzuhalten. Dabei habe ich meine Tochter mit hinuntergerissen. Zuvor habe ich mich bei meiner Tochter nicht irgendwie eingehakt gehabt. Wie gesagt, hatte ich bei dem Sturz dann meine Tochter mit heruntergezogen. Meine Tochter kam direkt auf mir zu liegen.

Die Klägerin hat diese Darstellung bei ihrer Anhörung bestätigt (Bl. 95 I):

Zu dem von meiner Mutter geschilderten Unfallablauf habe ich als solches, was den Sturz anbetrifft, nicht(s) hinzuzufügen.

Die Klägerin erlitt bei dem Sturz eine Knochenabsplitterung im rechten Fuß. Sie war in der Zeit vom 7.6.2002 bis 3.10.2002 arbeitsunfähig. Zum Umfang der Minderung der Erwerbsfähigkeit wird Bezug genommen auf Seite 7 der Klageschrift (Bl. 7 I). Die Klägerin verlangt ein Schmerzendgeld i. H. v. 3.500,-- Euro. Insoweit will sie sich eine Zahlung der Haftpflichtversicherung der Beklagten von 500,-- Euro anrechnen lassen. Für die Zeit, in der sie keine Lohnfortzahlung, sondern Krankengeld erhalten hat (19.7.2002 - 2.10.2002), macht sie die Differenz zu ihrem Nettoeinkommen (78 Tage x 4,72 Euro = 358,72 Euro) als Erwerbsschaden geltend. Die Klägerin verlangt weiter Ersatz von Kosten im Zusammenhang mit einem Vertrag über die Nutzung eines Fitnessstudios (494,10 Euro), weil sie die Einrichtung während der Dauer ihrer Erkrankung nicht habe nutzen können. Letztlich macht sie - fiktive - Kosten einer Haushaltshilfe geltend. Die Kosten berechnet sie auf der Basis einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden und einem Stundensatz vom 6,-- Euro (netto). Sie berücksichtigt weiter den jeweiligen Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Da die Verletzungsfolgen noch nicht endgültig absehbar seien, verlangt sie zudem die Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige immaterielle Schäden.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass das Verfahren gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII bis zu einer Entscheidung der Unfallversicherung ausgesetzt werden müsse. Eine Haftung scheide zudem bereits deshalb aus, weil es sich bei dem Sturz nicht um eine Handlung im Rechtssinne, sondern lediglich um einen Reflex gehandelt habe.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Eine Aussetzung komme zwar nicht in Betracht. Die Klage sei aber unbegründet, weil es sich bei dem Sturz nicht um eine willensgesteuerte Handlung, sondern lediglich um einen Reflex gehandelt habe.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie ihren erstinstanzlichen Klageantrag weiterverfolgt (Berufungsbegründung vom 11.10.2004, Seite 1/2 - Bl. 14 15 II -). Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt Zurückweisung der Berufung.

Der Senat hat den Parteien mit Verfügung vom 19.10.2004 (Bl. 23 II) einen rechtlichen Hinweis erteilt.

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Rechtsmittel hat zum Teil Erfolg.

Der Rechtsstreit ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII auszusetzen. Die von der Beklagten zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs (NZV 2004, 342, 343) steht dieser Ansicht nicht entgegen. Eine Aussetzung kommt nur dann in Betracht, wenn ansatzweise erkennbar ist, dass Ansprüche nach dem SGB VII überhaupt betroffen sein könnten. Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen Arbeitsunfall i. S. v. § 8 SGB VII handeln könnte. Insoweit handelt es sich bei der Begleitung der Beklagten durch ihre Tochter um eine reine Gefälligkeit im verwandtschaftlichen Verhältnis, nicht aber um eine solche Tätigkeit, die unter Umständen gegen Entgelt im Geschäftsverkehr angeboten wird, wie dies für den vom BGH zu entscheidenden Fall galt (und auch für den weiter zitierten Fall OLG Frankfurt NJW-RR 1993, 412 oder den Inhalt der Verfügung des OLG Hamm - Bl. 63 I - gilt). Die Beklagte trägt insoweit auch keine konkreten Anhaltspunkte vor (Bl. 42 I). Die Klägerin hat ausdrücklich bestritten, ein Verfahren bei der Berufsgenossenschaft auch nur beantragt zu haben (Bl. 52 I; wiederholt: Schriftsatz vom 10.12.2004 - Bl. 50 II -). Die bloße Behauptung, dass Ansprüche nach dem SGB VII betroffen sein könnten, führt mangels Benennung von Anhaltspunkten, die diese Ansicht rechtfertigen könnten, nicht zu einer Aussetzung des Verfahrens.

Der Schadensersatzanspruch ist dem Grunde nach gerechtfertigt. Zur Haftung dem Grunde nach nimmt der Senat Bezug auf seinen Hinweis vom 19.10.2004 (Bl. 23 II). Zwar mag es sich bei dem Greifen der ins Stolpern geratenen Beklagten nach der Klägerin lediglich um einen unwillkürlichen Reflex gehandelt haben. Für die Frage, ob der objektive und subjektive Tatbestand von § 823 BGB erfüllt ist, kommt es aber auf das den Sturz auslösende Verhalten der Beklagten an. Unter Zugrundelegung des eigenen Vortrages der Beklagten, dass es zu einem Fehltritt kam, kann letztlich nur ihre Unaufmerksamkeit Ursache des Sturzes gewesen sein. Insoweit spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass derjenige, der auf einer Treppe stürzt, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat, sofern nicht objektive Umstände vorliegen, die eine andere, nicht von ihm zu vertretende Ursache als möglich erscheinen lassen (OLG Düsseldorf NJW-RR 1997, 1313). Zu solchen Umständen trägt die Beklagte auch in der Berufungserwiderung nicht vor (BE S. 4 - Bl. 41 II -), sie ist lediglich der Ansicht, dass die Grundsätze über einen Anscheinsbeweis nicht eingreifen würden.

Ein Anspruch ist auch nicht deshalb dem Grunde nach ausgeschlossen, weil zwischen den Parteien ein - konkludenter - Haftungsausschluss vereinbart war. Ein solcher kann auch bei nahen Verwandten ohne Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten nicht angenommen werden (BGHZ 43, 72, 76 f.)

Der Schadensersatzanspruch ist der Höhe nach nur zum Teil begründet:

Hinsichtlich des geltend gemachten Schmerzensgeldes ist der Senat der Ansicht, dass der Anspruch mit der Zahlung von 500,-- Euro durch die Haftpflichtversicherung der Beklagten erfüllt ist, und ein darüber hinaus gehender Anspruch nicht besteht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jedenfalls bei Sachverhalten wie dem Vorliegenden, bei der Beteiligung von Eltern und Kindern und einem "Ungeschick" der Beklagten, das jederzeit jede Person treffen könnte, die Genugtuungsfunktion bei der Bemessung des Schmerzensgeldes außer Betracht bleiben muss.

Gegen die Höhe des Erwerbsausfallschadens (357,72 Euro) hat die Beklagte erhebliche Einwände ebenso wenig erhoben, wie hinsichtlich der Heilmittel- und Therapiekosten (129,42 Euro).

Keinen Ersatz kann die Klägerin demgegenüber für die für sie nutzlosen Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Fitnessstudio verlangen. Es handelt sich dabei lediglich um nicht erstattungsfähige sog. frustrierte Aufwendungen (BGHZ 55, 146, 151). Bei einem längerfristigen Nutzungsvertrag ist immer damit zu rechnen, dass die Leistungen zeitweise nicht genutzt werden können.

Der Klägerin steht dem Grunde nach Ersatz der Kosten für eine Haushaltshilfe auch dann zu, wenn eine solche tatsächlich nicht beschäftigt wurde (BGH DAR 1997, 66, 67; BGH NJW 2001, 149, 151). Im Falle der Geltendmachung von fiktiven Kosten ist auf den Nettobetrag der Vergütung abzustellen (OLG Köln OLGR 2000, 274, 275):

Grundlage der Bewertung der Vergütung ist regelmäßig eine Entlohnung auf der Basis des BAT. Insoweit ist der von der Klägerin angesetzte Stundensatz von 6,-- Euro auch unter Berücksichtigung eines Abschlages gemäß BAT-O nicht zu beanstanden (s. Schulz-Borck/Hofmann, Schadensersatz bei Ausfall von Hausfrauen und Müttern im Haushalt - 6. Aufl. - Tabelle 7 a). Allerdings kann entgegen der Ansicht der Klägerin bei Erwerbstätigkeit der Geschädigten in einem 2 Personenhaushalt nicht von einer Stundenanzahl von 35/Woche ausgegangen werden, sondern unter Zugrundelegung eines Durchschnittswertes lediglich eine solche von 27,1 Stunden (Schulz-Bork u. a. a. a. O., Tabelle 8/verteilt auf 7 Tagen gerundet 4 Stunden). Dabei muss ein Anteil des Ehemannes an der Hausarbeit auch unter Berücksichtigung seiner Schichtarbeitszeit angesetzt werden. Der Umfang der Ersatzpflicht folgt zudem nicht linear dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit, sondern bemisst sich nach dem Umfang der tatsächlichen Beeinträchtigung. Die Klägerin hat insoweit selbst vorgetragen, lediglich während der Zeit nahezu vollständig in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt gewesen zu sein, während der sie einen Gipsverband tragen musste (7.6.2002 - 3.7.2002). In der Zeit danach konnte sie sich - teilweise mit Gehhilfen - demgegenüber bewegen. Im Ergebnis war mithin lediglich für die groben Arbeiten im Haushalt (und Garten) eine Hilfskraft erforderlich. Der Senat schätzt diesen Anteil (§ 287 ZPO) auf 30 %:

7.6.2002 - 3.7.2002

27 Tage x 4 Stunden x 6,-- Euro 648,-- Euro

4.7.2002 - 2.10.2002

91 Tage x 4 Stunden x 6,-- Euro davon 30 % 655,20 Euro

Gesamt 1.303,20 Euro

Damit ergibt sich ein Schadensersatzanspruch von insgesamt

- Erwerbsausfallschaden 358,72 Euro - Heilmittel-/Therapiekosten 129,42 Euro - Haushaltshilfe 1.303,20 Euro - Kostenpauschale 20,-- Euro 1.811,34 Euro.

Ein weiterer immaterieller Schaden steht der Klägerin aus den eingangs genannten Rechtsgründen nicht zu. Ein höheres Schmerzensgeld als 500,-- Euro kommt auch dann nicht in Betracht, wenn sich künftig noch Unfallfolgen zeigen sollten. Der Feststellungsantrag hinsichtlich künftiger immaterieller Schäden ist damit unbegründet.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. (3.000,-- Euro Schmerzensgeld/3.012,37 Euro Zahlungsantrag/1.000,-- Euro Feststellungsantrag/Obsiegen i. H. v. 1.811,34 Euro)

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen von § 543 ZPO nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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