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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Beschluss verkündet am 04.10.2007
Aktenzeichen: 2 St OLG Ss 160/07
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 318
StGB § 46
StGB § 185
StGB § 193
1. Sind die Schuldfeststellungen so dürftig, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat nicht einmal in groben Zügen erkennen lassen, so ist eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch unwirksam.

2. Sendet ein Beschuldigter ein Schreiben an die Staatsanwaltschaft, um gegenüber dem sachbearbeitenden Staatsanwalt durch eine darin enthaltene Äußerung ("Ich nehme an, dass Sie ein Nazi sind") seine Miss- oder Nichtachtung auszudrücken, muss das Urteil ausreichende Feststellungen zur Vorgeschichte der Tat, zu den Beweggründen und Zielen des Angeklagten sowie - auch im Hinblick auf die Vorschrift des § 193 StGB - zum Maß der Pflichtwidrigkeit seiner Äußerung enthalten.


Oberlandesgericht Nürnberg BESCHLUSS

2 St OLG Ss 160/07 (intern: 84/07)

Der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg hat unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... sowie der Richter am Oberlandesgericht ... und ...

in dem Strafverfahren

gegen

...

wegen Beleidigung

am 4. Oktober 2007

einstimmig beschlossen:

Tenor:

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts ... i.d.OPf. vom 12. Juni 2007 aufgehoben.

II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entsscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts ... zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht ... hat den Angeklagten am 15.3.2007 wegen Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die gegen dieses Urteil eingelegte, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Angeklagten hat das Landgericht ... am 12.6.2007 mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts.

Die Generalstaatsanwaltschaft ... beantragt in ihrer Stellungnahme vom 9.8.2007 die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts ....

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig (§§ 333, 341 Abs. 1, 344, 345 SPO) und hat mit der Sachrüge einen zumindest vorläufigen Erfolg. Das Landgericht ist zu Unrecht von einer wirksamen Beschränkung der Berufung ausgegangen.

1. Die Berufung der Angeklagten war nicht wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden.

a) Auch ohne entsprechende Verfahrensrüge hat das Revisionsgericht zu prüfen, ob ein angefochtenes Berufungsurteil über alle Entscheidungsbestandteile des vorausgegangenen amtsgerichtlichen Urteils befunden hat. Aus diesem Grund ist vom Revisionsgericht, wenn, wie hier, das Berufungsgericht wegen der vom Berufungsführer erklärten Berufungsbeschränkung (§ 318 StPO) sich nur mit einzelnen Teilen des Ersturteils befasst hat, auch nachzuprüfen, ob und inwieweit die Berufung rechtswirksam auf diese Teile beschränkt ist (stRspr. des Senats, vgl. OLG Nürnberg ZfSch 2006, 288 f.; OLG Nürnberg StraFo 2007, 339, je m.w.N.).

Grundsätzlich ist der Rechtsfolgenausspruch allein anfechtbar. Die dem Rechtsmittel berechtigten in § 318 S. 1 StPO eingeräumte Verfügungsmacht über den Umfang der Anfechtung gebietet es, den in Rechtsmittelerklärungen zum Ausdruck kommenden Gestaltungswillen im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren. Deshalb kann und darf das Revisionsgericht regelmäßig diejenigen Entscheidungsteile nicht nachprüfen, deren Nachprüfung von keiner Seite begehrt wird. Das gilt jedoch nur dann, wenn die Schuldfeststellungen eine ausreichende Grundlage für die Strafzumessung ergeben. Sind sie dagegen so dürftig, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat, zu dem insbesondere der Schuldumfang zählt, nicht einmal in groben Zügen erkennen lassen, so ist eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch stets unwirksam (OLG Nürnberg, jew. a.a.O.; Ruß in: Karlsruher Kommentar StPO 5. Aufl. § 318 Rn. 7a). Denn Grundlage für die Strafzumessung ist die Schuld des Täters (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB); die die Schuld bestimmenden Umstände sind daher in der Regel zugleich wesentliche Strafzumessungstatsachen (vgl. § 46 Abs. 2 StGB), die - wie hier - zudem für die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung von Bedeutung sein können.

b) Die gegen diese - ständige - Rechtsprechung sowohl des BayObLG (zuletzt in NZV 2005, 592 m.w.N.) als auch des erkennenden Senats vorgebrachte Kritik vermag nicht zu überzeugen. Soweit insbesondere Gösse/(in: Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 318 Rn. 51) meint, die Rechtsprechung zur Unwirksamkeit einer Berufungsbeschränkung wegen fehlerhafter tatsächlicher Feststellungen dürfe die Tendenz erkennen lassen, eine aus der Sicht der Rechsmittelgerichte unzutreffende rechtliche Würdigung des Tatrichters des von ihm festgestellten Sachverhalts in eine fehlerhafte Sachverhaltsfeststellung umzudeuten, die dann zur Unwirksamkeit der Anfechtungsbeschränkung führe, vermag dem der Senat nicht zu folgen. Die Frage der zutreffenden rechtlichen Würdigung im Sinne beanstandungsfreier Subsumtion der Voraussetzungen des materiell-rechtlichen Straftatbestandes einerseits und die Frage der erforderlichen prozessualen Feststellungen für die Feststellung des Schuldumfanges andererseits betreffen zwei unterschiedliche Gesichtspunkte. Soweit weiterhin kritisiert wird (Gösse/ a.a.O.), die Anwendung der Vorschrift des § 318 StPO durch die Rechtsmittelgerichte führe zu weitgehender Unsicherheit über die Wirksamkeit einer Rechtsmittelbeschränkung, die ihrerseits dem von § 318 verfolgten Ziel der Verfahrensökonomie widerspreche, ist dieser inhaltliche Gesichtspunkt zwar grundsätzlich zur Auslegung des § 318 StPO zielführend. Der Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie besagt aber noch nichts darüber, warum ihm Vorrang vor dem Grundsatz der umfassenden Feststellung der für die Schuld des Täters zentralen Gesichtspunkte zukommen sollte. Ein solches Vorrangverhältnis ist dem Gesetz fremd. Es macht in § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB vielmehr die individuelle Tatschuld des Täters zur Grundlage des gesamten Strafzumessungsakts.

c) Ein Fall unwirksamer Rechtsmittelbeschränkung liegt hier vor.

aa) Das Amtsgericht (Urteil Bl. 4) hat lediglich festgestellt: "Am 10.12.2006 sandte der Angeklagte ein Schreiben an das Amtsgericht ... 'Staatsanwaltschaft', das dort am 12.12.2006 einging. In dem mit der Formel 'Sehr geehrter Herr Staatsanwalt' adressierten Schreiben schrieb der Angeklagte u.a.: 'Ich nehme an, dass Sie ein Nazi sind'. Dadurch wollte der Angeklagte gegenüber dem sachbearbeitenden Staatsanwalt seine Missachtung und Nichtachtung ausdrücken".

Im Rahmen seiner Strafzumessungsentscheidung hat das Berufungsgericht (Urteil Bl. 6, 7) ergänzend festgestellt, dass "das Bezugsverfahren, in dem es zur Beleidigungshandlung kam, einen unglücklichen Verlauf nahm, weil der Angeklagte zunächst einen Ersatzführerschein vorlegte, demzufolge die Staatsanwaltschaft von einem falschen Ausstellungsdatum ausging". Der Angeklagten, der "als Pole einer Nation angehörte, die stark unter dem nationalsozialistischen System gelitten hat", habe nicht in "einem kurzen Ausnahmezustand gehandelt".

bb) Diese Feststellungen bilden, wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 9.8.2007 zutreffend ausführt, keine ausreichende Grundlage für die Strafzumessung.

Es fehlen Feststellungen zur Vorgeschichte der Tat, zu den Beweggründen und Zielen des Angeklagten sowie - auch im Hinblick auf die Vorschrift des § 193 StGB - zum Maß der Pflichtwidrigkeit seiner Äußerung. Es kann im Zusammenhang mit dem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und den Grenzen der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG stehen (vgl. Tröndle/Fischer StGB 54. Aufl. § 193 Rn. 7; speziell zur Bezeichnung eines Dritten als "Nazi": BVerfG NJW 1992, 2013 ff. und zu ehrverletzenden Äußerungen in einer Dienstaufsichtsbeschwerde durch Anspielungen auf die NS-Zeit: BVerfG NStZ 2006, 31 f.). Zu alledem verhalten sich das Urteil des Amtsgerichts und das Urteil des Landgerichts nicht in ausreichendem Umfang. Die Strafkammer hätte daher über alle Tat- und Rechtsfragen ohne Rücksicht auf die vom Angeklagten erklärte Berufungsbeschränkung neu befinden müssen.

III.

Wegen der aufgezeigten Mängel (§ 337 StPO) wird das angefochtene Urteil auf die Revision des Angeklagten und auf den Antrag der Staatsanwaltschaft mit den Feststellungen aufgehoben (§ 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts ... zurückverwiesen, die auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.

Die Entscheidung ergeht durch einstimmig gefassten Beschluss gemäß § 349 Abs. 4 StPO.

IV.

Für das weitere Verfahren wird bemerkt:

Im Falle einer erneuten Verurteilung des Angeklagten wird sich das Berufungsgericht eingehender als bisher mit der Vorschrift des § 47 Abs. 1 StGB auseinanderzusetzen haben. Soweit es hierzu auf die Vorbelastungen des Angeklagten abstellt, sind diese im Urteil so genau mitzuteilen, dass dem Revisionsgericht die Nachprüfung ermöglicht wird, ob diese im Hinblick auf ihre Bedeutung und Schwere sowie (nicht gegebene) Einschlägigkeit für den Strafausspruch richtig bewertet worden sind. Hierzu bedarf es in der Regel einer zwar knappen, aber noch aussagekräftigen Feststellung der den Vorverurteilungen zugrunde liegenden Sachverhalte (OLG Nürnberg ZfSch 2006, 288/289).

Ende der Entscheidung

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