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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 19.12.2006
Aktenzeichen: 2 St OLG Ss 180/06
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 59 Abs. 1 Nr. 2
StGB § 59 Abs. 1 Nr. 3
1. Die Anwendung des § 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist zwar nicht auf ganz besondere Konfliktlagen oder Fälle beschränkt, die durch eine notwehr- oder notstandsähnliche Situation in den Grenzbereich zur Straflosigkeit gerückt werden.

2. Einfache Strafmilderungsgründe und das bloße Fehlen von Strafschärfungsgründen sind allerdings - für sich allein - keine "besonderen Umstände" im Sinne des § 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB, die die Ahndung eines Vergehens durch eine Verwarnung mit Strafvorbehalt als ausreichend erscheinen lassen können.

3. Ein langfristig angelegter, systematischer Missbrauch des staatlichen Förderungssystems nach dem BAföG, durch den ein (fremdnütziger) Betrugsschaden in Höhe von € 24.822,81 über einem Zeitraum von vier Jahren entsteht, kann unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung (§ 59 Abs. 1 Nr. 3 StGB) eine bloße Verwarnung mit Strafvorbehalt ausschließen.


Oberlandesgericht Nürnberg IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

2 St OLG Ss 180/06

Der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg hat in dem Strafverfahren

wegen Betruges

aufgrund der Hauptverhandlung in der öffentlichen Sitzung vom 19. Dezember 2006 an der teilgenommen haben

1. der Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht ... sowie die Richter am Oberlandesgericht ... und der Richterin am Oberlandesgericht ...

2. als Beamter der Staatsanwaltschaft Oberstaatsanwalt Dr. Popp

3. als Verteidigerin Rechtsanwältin ...

4. als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle Justizobersekretärin ...

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts A vom 27. April 2006 mit den dem Rechtsfolgenausspruch zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts A zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht A hat den Angeklagten am 10.1.2006 wegen Betrugs in fünf Fällen verwarnt und die Verurteilung zu einer Gesamtgeldstrafe von 80 Tagessätzen zu je € 30,- vorbehalten.

Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht A am 27.4.2006 verworfen.

Mit ihrer Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts.

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig (§§ 333, 341 Abs. 1, 344, 345 SPO) und hat mit der Sachrüge Erfolg.

Die dem Senat nach wirksam erfolgter Beschränkung der Berufung allein zugängliche Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs ergibt, dass dieser rechtsfehlerhaft ist.

1. Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden.

a) Auch ohne eine entsprechende Verfahrensrüge hat das Revisionsgericht zu prüfen, ob ein mit der Revision angefochtenes Berufungsurteil über alle Entscheidungsbestandteile des vorausgegangenen amtsgerichtlichen Urteils befunden hat.

Grundsätzlich ist der Rechtsfolgenausspruch allein anfechtbar. Das gilt jedoch nur dann, wenn die Schuldfeststellungen eine ausreichende Grundlage für die Strafzumessung ergeben. Sind sie dagegen so dürftig, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat, zu dem insbesondere der Schuldumfang (vgl. § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB) zählt, nicht einmal in groben Zügen erkennen lassen, so ist eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch unwirksam (stRspr. des Senats, vgl. Beschl. v. 15.3.2005 - 2 St OLG Ss 13/05 -, S. 2 f.).

b) Die vom Landgericht als bindend seiner Entscheidung über den Strafausspruch zu Grunde gelegten Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils sind zwar teils unklar und widersprüchlich (Bl. 105 d.A. = UA S. 3 Ziff. II. 1: "wobei der Angeklagte angab, über kein Vermögen zu verfügen"; Bl. 106 d.A. = UA S. 4 Ziff. II. 2: "Schaden in dieser Höhe ist nicht entstanden"). Es handelt sich dabei aber im Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe und der durch das Landgericht getroffenen ergänzenden Feststellungen um offensichtliche - und damit unschädliche (vgl. BGHSt 5, 5, 8; BGHSt 25, 333, 336 m.w.N.) - Schreibversehen.

Bei dieser Sachlage ist die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch wirksam.

2. Die Strafzumessungsentscheidung des Landgerichts ist aber nicht frei von Rechtsfehlern. Die vom Landgericht angestellten Strafzumessungserwägungen tragen die Verwarnung mit Strafvorbehalt nicht.

a) Die Strafzumessung ist ureigene Sache des Tatrichters. Auch im Rahmen der Entscheidung über die Verwarnung mit Strafvorbehalt ist es in erster Linie Aufgabe des Tatrichters, die Prognose nach § 59 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu treffen und über die Frage zu befinden, ob die Gesamtwürdigung der Tat und der Persönlichkeit des Angeklagten besondere Umstände ergibt, nach denen es angezeigt ist, ihn von der Verurteilung zu Strafe zu verschonen (§ 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder ob nicht die Verteidigung der Rechtsordnung die Verurteilung zu Strafe gebietet (§ 59 Abs. 1 Nr. 3 StGB).

Das Revisionsgericht hat aber zu prüfen, ob der Entscheidung des Tatrichters unrichtige Argumente zugrunde liegen, sowie, ob sie sich im Rahmen dessen bewegt, was nach den zugrunde liegenden Feststellungen vertretbar ist (vgl. BayObLG NJW 1990, 58). Die Zubilligung einer Verwarnung mit Strafvorbehalt erfordert daher eine in jeder Hinsicht für das Revisionsgericht nachprüfbare sorgfältige Begründung sowohl bezüglich des Ausnahmecharakters als auch zu der Frage, ob die Verteidigung der Rechtsordnung die Verurteilung zu Strafe gebietet (KG Urt. v. 25.6.2001 - 1 Ss 92/01).

b) Daran fehlt es hier.

aa) Das Landgericht hat dem sozial voll integrierten, nicht vorbestraften und von Anfang an geständigen Angeklagten rechtsfehlerfrei eine günstige Sozialprognose i. S.d. § 59 Abs. 1 Nr. 1 StGB gestellt.

bb) Eine Verwarnung mit Strafvorbehalt kommt bei Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen aber nur unter der weiteren Voraussetzung in Betracht, dass eine Gesamtwürdigung der Tat und der Persönlichkeit des Angeklagten besondere Umstände ergibt, nach denen es angezeigt ist, ihn von der Verurteilung zu Strafe zu verschonen.

(1) Die Anwendung des § 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG NJW 1990, 58), der sich der Senat anschließt, zwar nicht auf ganz besondere Konfliktlagen oder Fälle beschränkt, die durch eine notwehr- oder notstandsähnliche Situation in den Grenzbereich zur Straflosigkeit gerückt werden. Der Ausnahmecharakter der Bestimmung bedeutet aber, dass gewöhnliche, durchschnittliche, nur einfache Strafmilderungsgründe nicht genügen. Eine Verwarnung mit Strafvorbehalt kommt deshalb nur in Betracht, wenn Umstände vorliegen, die von besonderem Gewicht sind und die die Tat aus dem Kreis vergleichbarer, gewöhnlich vorkommender Durchschnittsfälle so deutlich herausheben, dass ausnahmsweise eine Verschonung von Strafe angezeigt ist (BGH NStZ-RR 2002, 84, 85; BayObLG und KG, jeweils a.a.O.). Solche besonderen Umstände können beispielsweise in ungewöhnlich geringem Gewicht des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat, in ungewöhnlich schweren Folgen der Tat für den Täter oder in sonstigen Umständen liegen, die der Tat gegenüber Durchschnittsfällen das besondere Gepräge einer Ausnahme vom gewöhnlichen Erscheinungsbild geben.

(2) Demgegenüber hat das Landgericht nur einfache Strafmilderungsgründe und das bloße Fehlen von Strafschärfungsgründen als besondere Umstände gewertet. Allein der Umstand, dass der Angeklagte bisher nicht bestraft ist, stellt keinen besonderen Umstand i.S.d. § 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar (vgl. KG a.a.O.). Auch der - offenbar zu § 59 Abs. 1 Nr. 2 StGB - angeführte Umstand, dass das Strafverfahren den Angeklagten tief und nachhaltig beeindruckt habe, ist keine ungewöhnlich schwere Folge für den Täter, sondern ein naheliegender Effekt jedes Strafverfahrens bei einem bisher nicht vorbestraften Bürger. Die vom Landgericht im Übrigen angeführten Milderungsgründe, insbesondere der bisherige Lebensweg des Angeklagten, der vom unverschuldeten Unfalltod seiner Frau und dem Bemühen geprägt ist, seiner Tochter eine optimale Ausbildung zu ermöglichen, bieten in Anbetracht der Tatausführung keinen Anlass zu der Wertung, dass die geringste Sanktion des Strafgesetzbuches ausreicht. Fraglich erscheint auch, ob einer - vom Landgericht im Rahmen der Entscheidung nach § 59 StGB allerdings nicht mehr ausdrücklich erwähnten - Schadenswiedergutmachung aus dem Angeklagten nicht unmittelbar zugeordneten Vermögensmassen bei der Strafzumessung eine wesentliche Bedeutung zukommen kann (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 84, 85).

cc) Auch die Erwägung, mit der das Landgericht gemeint hat, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 59 Abs. 1 Nr. 3 StGB verneinen zu können, sind nicht tragfähig. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Verurteilung zu Strafe geboten, wenn eine Verurteilung zur Verwarnung mit Strafvorbehalt bei Beachtung der Besonderheiten des Einzelfalls für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen dadurch erschüttert werden könnte (BayObLG NJW 1990, 58, 59).

Ob es sich, wie der 2. Strafsenat des BayObLG (a.a.O.) meint, "hinsichtlich der Bevölkerung um die billig und gerecht denkenden, voll und zutreffend unterrichteten Bürger handelt", mag offenbleiben. Jedenfalls das Abstellen auf Personen, die auch mit "der Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Motiven" unmittelbar vertraut sind (Bl. 134 d.A. = BU S. 10), verfehlt den vom Gesetzgeber vorgegebenen Maßstab. Es kann hier nicht nur um Personen gehen, die mit den Besonderheiten des Einzelfalles in dem Sinne vertraut sind, dass sie den Angeklagten persönlich kennen. Bei dieser Auslegung würde die Anwenbarkeit der Vorschrift des § 59 Abs. 1 Nr. 3 StGB von - weitestgehend zufälligen - Umständen abhängen, die sich rationaler Erörterung entziehen.

Vor allem geht es vorliegend nicht um ein singuläres Fehlverhalten des Angeklagten. Es handelt sich vielmehr um einen langfristig angelegten, systematischen Missbrauch des staatlichen Ausbildungsförderungssystems. Bei dem Verhalten des Angeklagten, das nach den Urteilsfeststellungen nach gewisser Zeit sogar in Routine überging, handelte es sich daher nicht lediglich um ein »Kavaliersdelikt«, sondern um ein Vorgehen, das darauf abzielte, systematisch das System der staatlichen Ausbilderungsförderung zu missbrauchen (vgl. BGHR StGB § 59 Verteidigung der Rechtsordnung 1). Ziel dieses Systems ist es aber gerade, dass die Sozialleistungen nur all denen gleichmäßig zugute kommen, die auch im Sinne des Gesetzes bedürftig sind (BayObLG NStZ 2005, 172, 174). Deshalb drängt sich auf, dass es jedenfalls für die rechtstreuen Leistungsempfänger nach dem BAföG unverständlich wäre, wenn die mit unrichtigen Angaben erschlichene (fremdnützige) Ausbildungsförderung in Höhe von € 24.822,81 über einem Zeitraum von vier Jahren nicht zu einer auch zu vollstreckenden Strafe führen würde.

3. Da sich die aufgezeigten Strafzumessungsfehler auf die verhängten Einzelstrafen ausgewirkt haben können und die Verwarnung eng mit der vorbehaltenen Strafe verknüpft ist, war der Strafausspruch insgesamt mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben (vgl. BGHR StGB § 59 Gesamtwürdigung 2).

III.

Wegen des aufgezeigten Mangels (§ 337 StPO) ist das angefochtene Urteil mit den zuzuordnenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts A zurückverwiesen, die auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.

Ende der Entscheidung

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