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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Beschluss verkündet am 12.03.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 52/07
Rechtsgebiete: StVollzG, GO


Vorschriften:

StVollzG § 86 Abs. 1 Nr. 2
GO Nr. 23 Abs. 2
Die Aufnahme von Lichtbildern eines Strafgefangenen oder Sicherungsverwahrten als erkennungsdienstliche Maßnahme zur Sicherung des Vollzugs ist auch über den in Nr. 23 Abs. 2 der Vollzugsgeschäftsordnung (VGO) genannten Umfang (Brustbilder, in Zivilkleidung) hinaus grundsätzlich zulässig. Eine entsprechende Anordnung bedarf jedoch im Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, letzteres bezogen auf die Erforderlichkeit der beabsichtigten konkreten erkennungsdienstlichen Maßnahme, einer besonderen Begründung.
2 Ws 52/07

Nürnberg, den 12.03.2007

In der Unterbringungssache

wegen Feststellung der Rechtswidrigkeit von Maßnahmen des Strafvollzugs (Anordnung der Anfertigung von Ganzkörperaufnahmen, Disziplinarmaßnahmen)

hier: Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen gem. § 116 StVollzG,

erlässt der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg durch die unterzeichneten Richter folgenden Beschluss:

Tenor:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Sicherungsverwahrten wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... mit dem Sitz in ... vom 1.12.2006 aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass die Anordnungen der Justizvollzugsanstalt ... vertreten durch den Anstaltsleiter, vom 19.1.2006 und 1.3.2006 rechtswidrig waren.

3. Es wird festgestellt, dass die am 24.1.2006 und 7.3.2006 vom Leiter der Justizvollzugsanstalt ... ausgesprochenen Disziplinarmaßnamen rechtswidrig waren.

4. Dem Beschwerdeführer wird Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren unter Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten versagt.

5. Der Beschwerdewert wird auf 400 € festgesetzt.

6. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens und die dem Rechtsbeschwerdeführer entstanden notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

I.

Der Rechtsbeschwerdeführer ist Sicherungsverwahrter in der Justizvollzugsanstalt ... Vollstreckt wurde zunächst eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten aus der Verurteilung durch die Strafkammer des Landgerichts ... vom 26.1.1996 (Az. 12 Kls 257 Js 67719/04) wegen Diebstahls und versuchten Diebstahls bis 19.6.2003. Seit 20.6.2003 wird die Maßregel vollzogen.

Am 19.1.2006 wurde der Untergebrachte von einem Vollzugsbediensteten zur Anfertigung von Ganzkörperaufnahmen aufgefordert, sich bis auf die Unterhose auszuziehen. Nachdem er dies verweigerte, wurde am 24.1.2006 als Disziplinarmaßnahme eine Einkaufsperre von einem Monat ausgesprochen und sofort vollzogen.

Am 1.3.2006 wurde der Verurteilte erneut aufgefordert, Fotos fertigen zu lassen, die ihn nur mit einer Unterhose bekleidet zeigen. Dies verweigerte er wiederum unter Hinweis auf Wahrung seiner Persönlichkeitsrechte. Am 7.3.2006 wurden deswegen folgende Disziplinarmaßnahmen angeordnet: ein Monat Beschränkung/Entzug von der Verfügung über Hausgeld und Einkauf, zwei Wochen Entzug des Fernsehempfangs, zwei Wochen getrennte Unterbringung während der Freizeit. Die Maßnahmen wurden sofort vollstreckt.

Zur Begründung dieser Maßnahmen hat die Justizvollzugsanstalt ... im Schreiben vom 7.3.2006 an die anwaltliche Vertreterin des Rechtsbeschwerdeführers u.a. auf § 86 Abs. 1 StVollzG Bezug genommen und in der Stellungnahme vom 12.4.2006 ausgeführt, dass "die Notwendigkeit der Anfertigung von Lichtbildern zur Sicherung des Vollzugs bei diesem Sicherungsverwahrten unabdingbar" und "demzufolge das Nichtbefolgen der Anordnung dieser Maßnahmen auch entsprechend als Disziplinarverstoß zu würdigen" ist.

Der Begründung zur Disziplinarentscheidung vom 24.1.2006 (vgl. angefochtener Beschluss Seite 3) ist zu entnehmen, dass "aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt Lichtbilder gefertigt und aktualisiert werden müssen". Zur Disziplinarentscheidung vom 7.3.2006 (vgl. Beschluss Seite 5) ist angeführt, dass "der Gefangene schuldhaft, rw (rechtswidrig), ohne entschuldigende Gründe die rechtmäßige Anordnung eines Bediensteten, sich zu erkennungsdienstlichen Zwecken fotografieren zu lassen, verweigerte" und es sich um einen einschlägigen, wiederholten Verstoß handelte.

Die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... mit dem Sitz in ... hat mit Beschluss vom 1.12.2006 den Antrag des Sicherungsverwahrten auf gerichtliche Entscheidung vom 23.3.2006 und den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe zurückgewiesen.

Gegen diesen, seiner Bevollmächtigten am 5.12.2006 zugestellten Beschluss richtet sich die mit Schriftsatz vom 5.1.2007 erhobene Rechtsbeschwerde, eingegangen am selben Tag, mit der Begründung, die angefochtene Entscheidung sei mit § 86 StVollzG nicht vereinbar. Außerdem wird die Aufklärungsrüge erhoben, weil die Strafvollstreckungskammer keine Feststellungen zu besonderen Kennzeichen wie Narben, Tätowierungen etc. getroffen hat, die die angeordneten Ganzkörperaufnahmen als verhältnismäßig erscheinen lassen.

Es werden folgende Anträge gestellt:

1. Der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ... mit dem Sitz in ... vom 1.12.2006 - Az. StVK 105/06 - wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass die Anordnung des Leiters der JVA ... vom 19.1.2006 und 1.3.2006, sowie die ausgesprochenen Disziplinarmaßnahmen vom 24.1.2006 und 7.3.2006 rechtswidrig waren.

3. Dem Beschwerdeführer wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten bewilligt.

Die General Staatsanwaltschaft ... hat beantragt, die Rechtsbeschwerde kostenfällig als unzulässig zu verwerfen und Prozesskostenhilfe zu versagen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss und die Begründung zur Rechtsbeschwerde Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht (§ 118 StVollzG) eingelegte Rechtsbeschwerde ist gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig.

Die Einzelfallentscheidung gibt dazu Anlass, den Anwendungsbereich und die Grenzen der Vorschrift des § 86 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG aufzuzeigen.

Die Feststellungsanträge sind zulässig (§ 115 Abs. 3 StVollzG). Das Feststellungsinteresse ergibt sich aufgrund einer Wiederholungsgefahr (Calliess/Müller-Dietz StVollzG 10. Aufl. § 115 Rn. 13 m.w.N.)

III.

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, weil die Strafvollstreckungskammer zu Unrecht davon ausgegangen ist, die Anordnungen der Ganzkörperaufnahmen und die aus der Verweigerung resultierenden Disziplinarmaßnahmen würden den Beschwerdeführer nicht in seinen Rechten verletzen.

Die rechtliche Überprüfung ergibt, dass durch die Anordnungen der Ganzkörperaufnahmen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt wurde, dass die Maßnahmen rechtswidrig gewesen sind, und dass der Rechtsbeschwerdeführer dadurch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt ist. Für die angeordneten und vollzogenen Disziplinarmaßnahmen fehlte es an schuldhaften Pflichtverstößen des Sicherungsverwahrten (§ 102 Abs. 1 StVollzG).

1. Anordnung von Ganzkörperaufnahmen

Die Aufnahme von Lichtbildern (bzw. die Anordnung hierzu) im Strafvollzug als erkennungsdienstliche Maßnahme (§ 86 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG) ist grundsätzlich zulässig, wenn Fluchtgefahr besteht, wobei diese durch eine lange Vollzugsdauer - im konkreten Fall hat der Beschwerdeführer bereits 8 Jahre und 6 Monate verbüßt und befindet sich seit 20.6.2003 in der Sicherungsverwahrung - und ein nach der Tatschwere zu bemessendes besonderes Sicherungsbedürfnis indiziert sein kann, ohne dass sonstige Anzeichen erkennbar geworden sind (OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 29). Die Anordnung liegt im Ermessen der Vollzugsbehörde (Schwind/Böhm/Jehle StVollzG 4. Aufl. § 86 Rn. 1).

Zwar ist die Ansicht des Rechtsbeschwerdeführers, dass die Anfertigung von Lichtbildern generell der Nummer 23 Abs. 2 VGO (Brustbilder, in Zivilkleidung) "zu entsprechen hat" (Beschwerdebegründung Seite 4), unzutreffend. Seine Ansicht findet auch keine Stütze in der von ihm zitierten Kommentarstelle (Arloth/ Lückemann StVollzG § 86 Rn. 1). Dort ist - in Bezug auf das Aufnahmeverfahren und nicht für die Zeit während der Vollstreckung - nur davon die Rede, dass bei erkennungsdienstlichen Maßnahmen eine Anknüpfung an eine bestimmte Vollzugsdauer nicht vorgesehen ist, der Gesetzgeber erkennungsdienstliche Maßnahmen nicht generell zum Bestandteil des Aufnahmeverfahrens machen wollte, und dass nicht in jedem Einzelfall die Notwendigkeit der Anordnung zu prüfen ist, vielmehr auch eine längere Vollzugsdauer - etwa 1 Jahr - oder ein nach der Tatschwere zu bemessendes Sicherungsbedürfnis zur Begründung der Anordnung (unter Hinweis auf OLG Frankfurt a.a.O.) ausreichend sei. Sodann wird (a.a.O.) nur festgestellt: "Dem entspricht die Regelung in Nr. 23 VGO". Ersichtlich betrifft dies lediglich den zeitlichen Aspekt in Nr. 23 Abs. 2 VGO. Bezüglich Art und Umfang von Fotografien vermag der Klammerzusatz (Brustbilder, in Zivilkleidung) in der Verordnungsvorschrift das höherrangige Gesetz (§ 86 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG) nicht einzuschränken.

Andererseits müssen Maßnahmen nach § 86 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Hierzu kann dem angefochtenen Beschluss keine ausreichende Begründung entnommen werden.

Bereits die Begründung zur Anordnung von Ganzkörperaufnahmen ist widersprüchlich. Soweit die Strafvollstreckungskammer die Grundlage der Anordnung vom 19.1.2006 in "erkennungsdienstlichen Maßnahmen" sieht (Beschluss Seite 2), setzt sie sich in Widerspruch zu den übernommenen Feststellungen der Disziplinarverfügung vom 24.1.2006 (Beschluss Seite 3), wonach die Anordnung "aus Gründen der Sicherheit und Ordnung der Anstalt" erforderlich gewesen sei. Zweck der Ermächtigung in § 86 Abs. 1 StVollzG ist allerdings die Sicherung des Vollzuges und nicht die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung der Anstalt (vgl. § 81 Abs. 2 StVollzG; OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 29 m.w.N.). Lichtbilder zur Aufrechterhaltung der Sicherung und Ordnung dürfen zwar grundsätzlich aufgrund der Ermächtigung in § 86a StVollzG aufgenommen werden; hierauf beruft sich die Justizvollzugsanstalt Straubing in ihren Stellungnahme vom 7.3.2006 (Beschluss Seite 11) jedoch nicht.

In jedem Falle hätte es einer Darlegung bedurft, aus welchen konkreten Gründen (vgl. Callies/Müller-Dietz StVollzG 10. Aufl. § 86 Rn. 1) Ganzkörperaufnahmen zur Sicherung des Vollzugs erforderlich sind. Vor der Anordnung von Lichtbildaufnahmen, die mit einer Entkleidung bis auf die Unterhose verbunden sind, bedarf es aus Gründen der Verhältnismäßigkeit konkreter Anhaltspunkte (etwa Erkenntnisse aus der Gefangenenpersonalakte aufgrund früherer körperlicher Untersuchungen oder eventuellen Operationsberichten, Erkenntnisse über selbst herbeigeführte Veränderungen des Körpers etc.), die die Annahme rechtfertigen, dass sich individuelle Identifizierungsmerkmale des Strafgefangenen bzw. hier des Untergebrachten auf dessen sonst durch Kleidung verdeckten Haut überhaupt finden lassen (z.B. Narben, Tätowierungen, Piercings etc.). Das Vorhandensein oder Fehlen individueller Merkmale hätte in die Ermessensentscheidung der Vollzugsbehörde zur Frage, ob sich erkennungsdienstliche Erhebungen auf den gesamten bis auf den Scham- und Gesäßbereich unbedeckten Körper erstrecken dürfen, einbezogen werden müssen. Hierzu verhält sich der angefochtene Beschluss nicht.

Die als noch formgerecht anzusehende Aufklärungsrüge erweist sich daher als begründet.

Eine Rückverweisung an die Strafvollstreckungskammer hat sich nicht aufgedrängt, weil ein Nachschieben von Gründen nicht mehr möglich wäre. Die Vollzugsbehörde dürfte im gerichtlichen Verfahren, das auf die Nachprüfung einer Ermessensentscheidung oder einer Entscheidung im Ermessensspielraum gerichtet ist, keine neuen, dem Gefangenen unbekannten Gründe nachschieben, auch nicht solche, dem Gefangenen bekannte Gründe, die sie bei ihrer Würdigung ersichtlich außer Betracht gelassen hatte (Schwind/Böhm/Jehle a.a.O. § 115 Rn. 4 m.w.N.).

2. Disziplinarmaßnahmen

Da sich die Anordnungen der Ganzkörperaufnahmen vom 19.1.2006 und 1.3.2006 als rechtwidrig erweisen, handelt es sich um die Verweigerung dieser Aufnahmen vom 24.1.2006 und 7.3.2006 um keine schuldhaften Pflichtverstöße, die Grundlage von Disziplinarmaßnahmen gemäß §§ 102 Abs. 1, 103 Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 5 StVollzG hätten sein können.

Es war, wie beantragt, die Rechtswidrigkeit sämtlicher Maßnahmen festzustellen (§115 Abs. 3 StVollzG).

3. Prozesskostenhilfe und Beiordnung:

Soweit der Rechtsbeschwerdeführer für das Rechtsbeschwerdeverfahren unter Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten Prozesskostenhilfe beantragt, war ihm diese - wie bereits im Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer - zu versagen, da entgegen der Ankündigung in der Rechtsbeschwerde vom 5.1.2007 eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vorgelegt worden ist (§ 120 Abs. 2 StVollzG i.V.m. § 114 ZPO).

IV.

Die Festsetzung des Beschwerdewerts ergibt sich aus §§ 60, 65, 52 GKG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 3, Abs. 4 i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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