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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 20.12.2001
Aktenzeichen: 8 U 2749/01
Rechtsgebiete: RVO, SGB VII


Vorschriften:

RVO § 636 a. F.
SGB VII § 104 Abs. 1
SGB VII § 106 Abs. 1
SGB VII § 2 Abs. 1 Nr. 8
1. Zu den Voraussetzungen eines unprovozierten körperlichen Angriffs auf einen Mitschüler als schulbezogene Handlung.

2. Das Erfordernis des "doppelten Vorsatzes" für den Wegfall des Haftungsprivilegs nach den ehemaligen §§ 636 ff. RVO gilt für die nunmehr einschlägige Regelung gem. §§ 104 ff. SGB VII fort.


Oberlandesgericht Nürnberg IM NAMEN DES VOLKES ENDURTEIL

8 U 2749/01

Verkündet am 20. Dezember 2001

In Sachen

hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Endmann und die Richter am Oberlandesgericht Horn und Krauß aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8.11.2001

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 17.7.2001 wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung seitens des Beklagten im Kostenausspruch gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 15.000,- DM abzuwenden, sofern nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Sämtliche Sicherheiten können auch durch selbstschuldnerische Bürgschaft einer in der BRD niedergelassenen Bank oder Sparkasse erbracht werden.

IV. Die Beschwer des Klägers beträgt DM 175.000,-.

Beschluß:

Der Streitwert wird auf 175.000,- DM festgesetzt.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um Ansprüche wegen der Folgen einer Schulrauferei.

Am 13. November 2000 kam es im Gymnasium in P i.d.OPf. zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und dem Beklagten, welche beide die dortige 5. Klasse besuchten.

Als die Beteiligten sich während des Stundenwechsels gegen 10.40 Uhr vor dem Klassenzimmer auf dem Gang aufhielten, schlug der Beklagte dem Kläger mit beiden Fäusten gegen den Hodensack. Infolge dieses Vorfalls mußte der Kläger, der an heftigen Schmerzen litt, am Abend in ein R Krankenhaus eingeliefert werden, wo ihm am darauffolgenden Tag mittels einer Operation der linke Hoden entfernt werden mußte.

Der Kläger hat ausgeführt:

Der Beklagte könne sich nicht auf die Haftungsprivilegierung aus §§ 106 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 1 Nr. 8 b i.V.m. § 104 Abs. 1 SGB VII berufen. Zum einen liege kein schulbezogener Unfall vor. Zudem habe der Beklagte vorsätzlich gehandelt. Nach der Neuregelung der Haftungsprivilegierung durch das SGB sei für die Begründung des Vorsatzes nicht mehr erforderlich, daß sich dieser auch auf die Folgen der Verletzungshandlung beziehe. Dies ergebe sich aus § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII, der hier analog anzuwenden sei.

Der Kläger hat beantragt:

I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld zu zahlen von 25.000,- DM nebst 8,42 % Zinsen ab 11.12.2000.

II. Es wird festgestellt, daß der Beklagte für zukünftigen immateriellen Schaden infolge der Schadenszufügung vom 13.12.2000 einzustehen hat.

Der Beklagte hat

Klageabweisung

beantragt.

Er hat die Meinung vertreten, daß die Verletzung des Klägers durch eine schulbezogene Handlung erfolgt sei. Eine vorsätzliche Verletzung im Sinn des § 104 Abs. 1 SGB VII liege nicht vor, da sein Verletzungsvorsatz nicht auch die Verletzungsfolgen umfasst habe. Schließlich sei für eine analoge Anwendung des § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII kein Raum.

Das Landgericht hat mit Endurteil vom 17.7.2001 die Klage abgewiesen.

In den Entscheidungsgründen hat es sich der Rechtsauffassung des Beklagten angeschlossen. Wegen der Einzelheiten wird gemäß § 543 Abs. 2 ZPO auf das Ersturteil Bezug genommen (Seite 6 ff, Bl. 20 ff d.A.).

Gegen dieses ihm am 26.7.2001 zugestellte Endurteil hat der Kläger am 9.8.2001 durch seinen Prozeßbevollmächtigten Berufung eingelegt und diese zugleich begründet.

Er wiederholt seine erstinstanzliche Rechtsauffassung und rügt, daß diese durch die Entscheidungsgründe des Ersturteils nicht entkräftet sei.

Der Kläger beantragt:

I. Das Endurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 17.7.2001 wird abgeändert.

II. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld zu zahlen von DM 25.000,- nebst 9,26 % Zinsen ab 11.12.2000.

III. Es wird festgestellt, daß der Beklagte für zukünftigen immateriellen Schaden sowie materiellen Schaden infolge der Schadenszufügung vom 12.11.2000 einzustehen hat.

Der Beklagte beantragt

Zurückweisung der Berufung.

Er macht sich die Ausführungen des angefochtenen Urteils zu eigen und wiederholt im übrigen seinen erstinstanzlichen Sachvortrag.

Wegen der Einzelheiten des gegenseitigen Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien Bezug genommen.

Ferner wird - zur Information- auf die von den Parteien vorgelegten Urkunden verwiesen.

(Eine Beweisaufnahme hat im Berufungsverfahren nicht stattgefunden).

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung des Klägers ist zulässig, §§ 511 ff ZPO.

II.

In der Sache selbst hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.

Das Landgericht hat die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen. Hierauf kann zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen werden (§ 543 Abs. 2 ZPO).

Die vom Kläger gegen das Ersturteil erhobenen Einwendungen greifen nicht durch:

1. Zu Recht geht das Landgericht davon aus, daß der Kläger vom Beklagten durch eine schulbezogene Handlung verletzt wurde:

a) Grundsätzlich setzt die Haftungsprivilegierung des Beklagten gemäß § 104 Abs. 1, 106 Abs. 1 SGB VII i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 8 SGB VII das Vorliegen eines sogenannten Schulunfalls voraus. Ein solcher ist nur dann anzunehmen, falls die schädigende Tätigkeit des Beklagten schulbezogen gewesen ist (vgl. BGH VersR 88, 167; 92, 854; Geigel-Schlegelmilch-Kolb, "Der Haftpflichtprozeß", 23. Aufl., Kap. 31 Rz. 114).

b) Es ist deshalb darauf abzustellen, ob die Verletzungshandlung schulbezogen war. Das ist sie dann, wenn sie auf der typischen Gefährdung aus dem engen schulischen Kontakt beruht und deshalb einen inneren Bezug zum Besuch der Schule aufweist. Im Gegensatz hierzu steht ein Vorfall, zu dem es nur "bei Gelegenheit" des Schulbesuchs gekommen ist (vgl. BGH a.a.O.; OLG Celle, VersR 99," 1550; Kolb, a.a.O.).

Hierzu zählen nicht nur die üblichen Verletzungshandlungen, die aus Spielereien, Neckereien und Raufereien unter den Schülern hervorgegangen sind. Hierunter fallen auch Verletzungshandlungen, die auf übermütigen und bedenkenlosen Verhaltensweisen eines Schülers in einer Phase der allgemeinen Lockerung der Disziplin, insbesondere in den Pausen, beruhen (vgl. BGH, a.a.O.; BSG NJW 96, 62078; Kolb, a.a.O.).

Entgegen der Auffassung des Klägers ist es deshalb nicht erforderlich, daß der Verletzungshandlung des Beklagten eine Provokation oder sonstige Veranlassung seitens des Klägers vorangegangen ist (vgl. BGH VersR 88, 1767). Entscheidend ist allein, daß die schultypische Gruppensituation und die dadurch geprägte Gefahrenlage noch nicht aufgehoben war (BGH, a.a.O.; VersR 92, 854).

Diese Voraussetzungen hat das Landgericht zutreffend bejaht. Die Verletzungshandlung des Beklagten war im Streitfall gerade durch die Freisetzung der während der Unterrichtsstunde aufgestauten Aggression und die allgemeine Lockerung der Disziplin während der Schulpause bedingt.

2. Nicht zu beanstanden ist auch, daß das Landgericht dem Beklagten die genannte Haftungsprivilegierung gewährt hat:

a) Während der Geltung der entsprechenden Vorschriften der RVO (§ 636 ff RVO) war es unstreitig, daß eine vorsätzliche Schädigung, die zu einer Entsperrung der Haftungsprivilegierung führte, nur dann anzunehmen war, falls sich der Vorsatz des Schülers auch auf die Verletzungsfolgen erstreckte (vgl. BGH NJW 80, 996; OLG Koblenz NJW-RR 93, 97).

b) Hieran hat sich durch die Neuregelung der Materie in §§ 104 ff SGB VII der Sache nach nichts geändert:

Etwas anderes folgt weder aus dem Wortlaut der §§ 104 Abs. 1, 106 Abs. 1 SGB VII noch aus der Begründung des Gesetzesentwurfs. Diese enthält keinen Hinweis darauf, daß das Haftungsprivileg des Schädigers im Verhältnis zum Geschädigten eingeschränkt werden sollte (Bundestagsdrucksache 1/2204). im Gegenteil wird zu den §§ 104 bis 106 SGB VII jeweils auf die Rechtslage zu den §§ 636 ff RVO verwiesen. Daraus folgt, daß der Gesetzgeber mit der Überleitung der §§ 636 RVO in das 7. Sozialgesetzbuch keine materiellrechtliche Änderung des Vorsatzbegriffs im Unterschied zu der alten Regelung, beabsichtigt hat (vgl. OLG Hamburg RUS 2000, 329; OLG Celle VersR 99, 1550).

Eine andere Rechtsfolge läßt sich -entgegen der Aufassung des Klägers- auch nicht aus der Neuregelung des § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII herleiten. Diese Vorschrift regelt lediglich den Regreß des Sozialversicherungsträgers gegen den schädigenden Schüler. Sinn dieser Regelung war ausschließlich, die unter der Geltung des alten Rechts aufgetretene Streitfrage zu klären, ob das Haftungsprivileg des Schädigers für den Regreß des Sozialversicherungsträgers bereits dann entsperrt sei, falls sich das Verschulden des Schädigers nur auf die Verletzungshandlung bezog (vgl. OLG Celle VersR 99, 1550; Krasney in Brackmann, Handbuch des gesetzlichen Unfallsicherungs-Rechts, Rdz. zu § 110 SGB VII). Eine Rückwirkung auf die Grundnorm des § 104 Abs. 1 SGB VII war damit nicht bezweckt (vgl. OLG Celle, a.a.O.; Krasney a.a.O.; Falkenkötter NZS 99, 379).

Dieses Ergebnis ist auch interessengerecht. Durch die abweichende Regelung zum Vorsatzbegriff in § 110 Abs. 1 Satz § SGB VII sollte nämlich vermieden werden, daß bei einem Regreß des Sozialversicherungsträgers wegen des strengen Vorsatzbegriffs in § 104 Abs. 1 SGB VII der Schaden auf alle in der Berufgenossenschaft zusammengeschlossenen Unternehmer verteilt wird (vgl. Krasney, a.a.O., Rz. 3 zu § 110 SGB VII). Für schulbezogene Unfälle hat der Gesetzgeber insoweit keine Ausnahme gemacht.

Ferner sollte nach der Intention des Gesetzgebers auch eine Präventionswirkung erzielt werden (vgl. OLG Celle, a.a.O.; Krasney, a.a.O.).

Schließlich hat der strenge Vorsatzbegriff in § 104 Abs. 1 SGB VII gerade die Zweckrichtung, die Schüler durch die Haftungsbegrenzung vor unter Umständen allzu hohen finanziellen Forderungen zu schützen, die ihre Zukunft belasten könnten (vgl. Leube, VersR 2000, 951). Auch die Wahrung des Schulfriedens ist als Schutzzweck zu beachten (vgl. Leube a.a.O.).

Diese Gründe lassen es als gerechtfertigt erscheinen, die Regelung in § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII auf den Regreß des Sozialversicherungsträgers zu beschränken (vgl. OLG Hamburg, OLG Celle, Geigel-Schlegelmilch-Kolb, jeweils a.a.O.; Falkenkötter NZS 99, 379).

c) Eine Entsperrung des Haftungsprivilegs käme deshalb im Streitfall nur dann in Betracht, falls sich der Vorsatz des Beklagten auch auf die eingetretene Schadensfolge bezogen hätte:

Auch dies hat das Landgericht mit zutreffender Begründung vereint. Bei Verletzungshandlungen eines Schülers, die -wie hier- durch aufgestaute Aggressionen und bedenkenloses Verhalten geprägt sind, kann die Annahme eines qualifizierten Vorsatzes nur anhand besonderer Indizien bejaht, werden. Derartige Umstände liegen aber im Streitfall nicht vor.

3. Damit hat das Landgericht die Klage zu Recht in vollem Umfang als unbegründet abgewiesen.

Das hiergegen gerichtete Rechtsmittel des Klägers ist somit zurückzuweisen.

III.

Kosten: § 97 Abs. 1 ZPO.

IV.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 108 ZPO.

V.

Die Festsetzung der Beschwer folgt aus § 546 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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