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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Oldenburg
Beschluss verkündet am 16.06.2009
Aktenzeichen: 1 Ss 101/09
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 329 Abs. 1 S. 1
StPO § 329 Abs. 1 S. 2
1. Nach vorangegangener Aufhebung eines die Berufung des Angeklagten wegen Nichterscheinens verwerfenden Urteils durch das Revisionsgericht darf eine - nach der Rechtsprechung trotz § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO an sich zulässige - erneute Berufungsverwerfung nur erfolgen, wenn der Angeklagte mit der Ladung auf diese Ausnahme vom Gesetzeswortlaut hingewiesen worden war.

2. Ein Angeklagter muss nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Gericht fahren, wenn ihm ein Verwandter versprochen hat, ihn mit dem PKW dorthin zu bringen, es sei denn, er musste an der Zuverlässigkeit der vereinbarten Mitfahrt zweifeln. Auf die Möglichkeit einer nach unerwartetem Ausbleiben des PKW-Fahrers spontan anzutretenden weiten und kostspieligen Taxifahrt zum Gericht darf der Angeklagte nur verwiesen werden, wenn er diese Fahrt bezahlen konnte.


Oberlandesgericht Oldenburg 1. Strafsenat Beschluss

1 Ss 101/09

In der Strafsache

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg am 16. Juni 2009 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und die Richter am Oberlandesgericht ... und ... nach § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 2. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aurich vom 30. März 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Aurich zurückverwiesen. Diese hat auch über die Kosten der Revision zu entscheiden.

Gründe:

Das Amtsgericht Emden hatte den Angeklagten mit Urteil vom 17. März 2008 wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.

Die hiergegen eingelegte Berufung des Angeklagten ist von der 1.kleinen Strafkammer des Landgerichts Aurich mit Urteil vom 14. Juli 2008 nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen worden, weil der Angeklagte ohne genügende Entschuldigung in der Berufungsverhandlung ausgeblieben und auch nicht in zulässiger Weise vertreten worden sei.

Dieses Urteil hat der Senat auf die Revision des Angeklagten mit Beschluss vom 29. Oktober 2008 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Aurich zurückverwiesen. Wegen der Einzelheiten und des bis dahin gegebenen Verfahrensablaufs wird auf diesen Beschluss Bezug genommen.

Nach der Zurückverweisung hat die 2. kleine Strafkammer des Landgerichts Aurich am 30. März 2009 über die Berufung des Angeklagten verhandelt. Der Angeklagte ist zu der auf 8.30 Uhr angesetzten Hauptverhandlung nicht erschienen. Er hatte um 8.05 Uhr dem Vorsitzenden der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, sein Bruder habe ihm versprochen, ihn nach Aurich zu fahren, habe ihn aber "versetzt". er könne weder diesen noch seine Verteidigerin telefonisch erreichen. Der Vorsitzende hatte dem Angeklagten daraufhin mitgeteilt, die geschilderten Umstände reichten als Entschuldigung nicht aus, er müsse mit der Verwerfung seiner Berufung rechnen.

Nachdem der Angeklagte bis 8.45 Uhr nicht erschienen war, hat die Strafkammer seine Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt und eine Verletzung von § 329 StPO gerügt.

Das Rechtsmittel ist zulässig und begründet. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten rechtsfehlerhaft verworfen, weil die Voraussetzungen von § 329 Abs. 1 StPO nicht vorlagen.

Die erneute Berufungsverwerfung war bereits unzulässig, weil das Berufungsgericht erneut verhandelt hat, nachdem die Sache vom Revisionsgericht zurückgewiesen worden war, § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO. Zwar macht die Rechtsprechung gegen den Wortlaut dieser Norm eine Ausnahme für den - hier gegebenen - Fall, dass das vom Revisionsgericht aufgehobene Urteil ein nach § 329 StPO ergangenes Verwerfungsurteil war, vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 329 Rdn. 4 m. w. Nachw.. Diese Ausnahme setzt aber voraus, dass auch hierüber der Angeklagte mit der Ladung über die Folgen seines Ausbleibens belehrt worden war. War er hingegen - wie es hier bei dem Angeklagten durch die Verwendung des Vordrucks "StP 1012", den der Senat im Freibeweisverfahren beigezogen hat, der Fall war - nur dem Gesetzeswortlaut von § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechend belehrt worden, musste er mit einer Verwerfung seiner Berufung bei seinem Fernbleiben gerade nicht rechnen, die deshalb in einem solchen Fall auch nicht ergehen darf, vgl. Senatsbeschluss vom 14. Januar 2009, StraFo 2009, 114.

Die Strafkammer hat ferner auch dadurch gegen § 329 Abs. 1 StPO verstoßen, dass sie den vom Angeklagten vorgebrachten Entschuldigungsgrund rechtsfehlerhaft als nicht ausreichend bewertet hat.

Das Landgericht hat seine Entscheidung damit begründet, der Angeklagte habe auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen können und, als klar war, dass sein Bruder nicht erschienen war, noch ein Taxi nehmen können.

Diese Argumente sind nicht ausreichend tragfähig. Ein Angeklagter muss nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Gericht fahren, wenn ihm ein Verwandter versprochen hat, ihn mit dem PKW dorthin zu bringen. Das gilt umso mehr, wenn - wie es hier aus der Akte hervorgeht - der mitnahmebereite Verwandte als Zeuge zu der Hauptverhandlung geladen ist. Etwas anderes gilt allerdings, wenn ein Angeklagter Anlass hat, an der Zuverlässigkeit der vereinbarten Mitnahme aus irgendeinem Grunde zu zweifeln. In einem solchen Fall ist er gehalten, Vorsorge dafür treffen, dass er auch bei Ausfall der geplanten PKW-Mitfahrt rechtzeitig zum Gericht kommt. Dass hier der Angeklagte an der Durchführung der mit seinem Bruder vereinbarten Fahrt zum Gericht hätte zweifeln müssen, ist aber weder aus den Urteilsgründen noch sonstwie ersichtlich.

Auf die Möglichkeit einer spontan anzutretenden Taxifahrt von Emden nach Aurich konnte der Angeklagte nur verwiesen werden, wenn sicher davon ausgegangen werden konnte, er habe eine über rund 30 km lange und entsprechend kostspielige Taxifahrt auch bezahlen können. Das wird vom Revisionsführer bestritten und war wegen seines in 1. Instanz festgestellten Sozialhilfebezuges auch für das Landgericht mindestens nicht zweifelsfrei der Fall.

Das damit hier der Beurteilung zu Grunde zu legende unvorhergesehene und unvorhersehbare Scheitern der vom Angeklagten geplanten Anreise zum Gericht war eine ausreichende Entschuldigung für sein Ausbleiben. Eine Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO kann dazu führen, dass ein erstinstanzlich zu Unrecht verurteilter Angeklagter verurteilt bleibt. Deshalb ist diese Norm eine "auf engste auszulegende Ausnahmevorschrift" (BGHSt 18, 188 (189)). Bei ihrer Anwendung darf kein zu strenger Maßstab angelegt werden, wie dies hier das Landgericht getan hat.

Ausweislich der Urteilsgründe beruht das angefochtene Urteil auf der dargestellten falschen Rechtsanwendung. Der von der Generalstaatsanwaltschaft angeführten Erwägung, das Ausbleiben des Angeklagte sei auch deshalb als nicht ausreichend entschuldigt anzusehen, weil er seine Abfahrt zum Gericht spätestens auf 7.30 Uhr hätte ansetzen müssen und dann nach dem Scheitern der geplanten Mitfahrt noch Zeit für ein alternatives Verkehrsmittel gehabt hätte, kann nicht gefolgt werden. Abgesehen davon, dass der Senat als Revisionsgericht - anders als im Beschwerderechtszug - keine eigene Sachentscheidung zu treffen, sondern nur das angefochtene Urteil auf Rechtsfehler zu prüfen hat, trifft die Erwägung der Generalstaatsanwaltschaft auch in der Sache nicht zu. Wie der im Urteil in Bezug genommenen Protokollanlage zu entnehmen ist, hätte der Angeklagte, wenn er sich eine angemessene Zeit nach 7.30 Uhr und dem Nichterscheinen seines Bruders in Emden zum Busbahnhof (ZOB) begeben hätte, keinen Bus nach Aurich mehr bekommen, der dort spätestens vor der Urteilsverkündung um 8.45 Uhr eingetroffen wäre. andere ausreichend schnelle und dem Angeklagten zumutbare alternative Verkehrsmittel sind nicht ersichtlich.

Gemäß §§ 353 Abs. 1, 354 Abs. 2 Satz 1 StPO war nach alledem das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an eine anderer kleine Strafkammer des Landgerichts Aurich zurückzuverweisen, die auch über die Kosten der Revisionsinstanz zu befinden hat.

Ende der Entscheidung

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