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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Oldenburg
Urteil verkündet am 19.04.2004
Aktenzeichen: 15 U 5/04
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 844
BGB § 254
Wird ein Fußgänger, der nachts mit einem Blutalkoholgehalt von 3,47 g Promille auf einer Landstraße liegt, von einem PKW überfahren, so besteht ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Unfall durch die Alkoholisierung des Fußgängers verursacht wurde.
Oberlandesgericht Oldenburg Im Namen des Volkes! Urteil

15 U 5/04

Verkündet am 19. April 2004

In dem Rechtsstreit

hat der 15. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und die Richter am Oberlandesgericht ... und ...

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 15. Dezember 2003 verkündete Grundurteil der Einzelrichterin der 16. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels - dahin abgeändert, dass die Beklagten als Gesamtschuldner der Klägerin dem Grunde nach den ihr durch den Verkehrsunfall vom 12. Oktober 2002 entstandenen Schaden zu 50 % zu ersetzen haben.

Die weitergehende Klage zum Haftungsgrund wird abgewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

Die Klägerin begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, bei dem ihr Ehemann tödlich verunglückt ist.

Der Beklagte zu 1) befuhr am 12. Oktober 2002 gegen 23 Uhr mit dem auf B H zugelassenen, bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug, amtl. Kennzeichen ..., mit einer Geschwindigkeit von 74 km/h die L 872 in Richtung ..., für die dort eine Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h besteht. Ihm kam ein Fahrzeug entgegen, an dem die Scheinwerfer kurz aufgeblendet und die Warnblinkanlage eingeschaltet wurden. Der Beklagte zu 1), der nicht wusste, weshalb dies geschah, blickte in den Rückspiegel und sah, als er wieder vor sein Fahrzeug schaute, vor sich auf der Fahrbahn eine Person liegen, der er nicht mehr ausweichen konnte und die er überfuhr und dabei tödlich verletzte. Bei dem Getöteten handelte es sich um den mit einem Blutalkoholgehalt von 3,47 g Promille belasteten Ehemann der Klägerin, der vor 23 Uhr eine Geburtstagsfeier zu Fuß verlassen hatte und aus ungeklärten Gründen etwa in Höhe der - in Fahrtrichtung des Beklagten zu 1) gesehen - links gelegenen Zufahrt zu seinem Haus auf rechten Fahrbahn der L 872 lag.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie müsse sich keinesfalls ein 25 % übersteigendes etwaiges Mitverschulden des Getöteten an dem Unfall anrechnen lassen. Sie hat deshalb mit der Klage die Beklagten als Gesamtschuldner auf Ersatz von 75 % des ihr entstandenen Schadens in Anspruch genommen. Die Beklagten haben Klagabweisung beantragt und gemeint, der Ehemann der Klägerin habe den Unfall infolge alkoholbedingter Verkehrsuntüchtigkeit überwiegend verschuldet; die Betriebsgefahr des vom Beklagten zu 1) gelenkten Fahrzeuges trete dahinter zurück.

Das Landgericht hat der Klage dem Grunde nach stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten, mit der sie die völlige Klageabweisung begehren, hat teilweise Erfolg.

Die Beklagten sind dem Grunde nach verpflichtet, den aus dem Verkehrsunfall vom 12. Oktober 2002 der Klägerin entstandenen Schaden zu 50 % zu ersetzen, §§ 7 Abs. 1, 9, 18 Abs. 1 Satz 1 StVG, 3 Nr. 1, 2 PflVG, 254, 844, 846 BGB.

Das angefochtene Urteil beruht auf einem Rechtsfehler. Das Landgericht hat bezüglich der Mitverursachung und des Mitverschuldens des getöteten Ehemanns der Klägerin verkannt, dass nach Lage des Falles ein Beweis des ersten Anscheins dafür spricht, dass der Verunglückte wegen seines überaus stark alkoholisierten Zustandes auf der Fahrbahn lag und von dem vom Beklagten zu 1) gefahrenen PKW überfahren wurde.

Ein solcher Anscheinsbeweis ist in der Rechtsprechung bei einer Blutalkoholkonzentration von um die 2 g Promille angenommen worden, wenn ein alkoholisierter Fußgänger in einer Verkehrslage verunglückte, die ein nüchterner Fußgänger gemeistert hätte, siehe etwa OLG Köln, Urteil vom 23.01.2003, Aktz. 14 U 32/02; OLG Braunschweig VersR 1967, 1188, vgl. auch die Rechtsprechungsübersicht in Schönberger, SozVers 1960, 74. Soweit sich Gerichte gegen einen derartigen Anscheinsbeweis ausgesprochen haben (so etwa BGH NJW 1976, 897; OLG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16.6.1999, Aktz. 12 U 75/99), betrafen diese Entscheidungen erheblich niedrigere Alkoholisierungsgrade, als sie hier beim Ehemann der Klägerin vorlagen. Dessen Blutalkoholkonzentration von 3,47 g Promille, die schon im Bereich der häufigsten tödlichen Alkoholdosen liegt (vgl. Forster/Brettel, Praxis der Rechtsmedizin, S. 467), ist - ohne dass es hierfür auf die Festlegung eines Grenzwertes für die absolute Verkehrsuntüchtigkeit eines Fußgängers ankäme - so gravierend, dass sie zu seiner gänzlichen Verkehrsuntüchtigkeit führte. Ein solch hoher Alkoholisierungsgrad schließt infolge der Wirkungen des Alkohols auf den menschlichen Körper eine andauernd zutreffende Wahrnehmung und korrekte Bewertung der Verkehrslage und ein schnelles, sicheres und situationsgerechtes Reagieren im Straßenverkehr aus (vgl. BGH VRS 10, 245). Deshalb spricht der erste Anschein für eine Mitursächlichkeit einer Volltrunkenheit mit einer Blutalkoholkonzentration von 3,47 g Promille und damit vorliegend für ein Mitverursachen des Unfalls durch den Ehemann der Klägerin. Denn nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist anzunehmen, dass ein Fußgänger im nüchternen Zustand sich nicht trotz des ohne weiteres bemerkbaren Autoverkehrs nachts auf der Landstraße aufgehalten hätte, sondern - seiner Verpflichtung aus § 25 Abs. 1 StVO entsprechend - den zur Verfügung stehenden Fußgängerweg benutzt hätte, wodurch der Unfall vermieden worden wäre.

Diesen Anscheinsbeweis hat die Klägerin nicht erschüttert. Tatsachen, die einen abweichenden, d.h. von der Alkoholbeeinträchtigung unabhängigen Verlauf ernsthaft als möglich erscheinen lassen, sind nicht festgestellt worden und werden sich nach Lage des Falles auch nicht feststellen lassen. Die hierzu im Urteil des Landgerichts angestellte Erwägung ist rein theoretischer Natur. Dafür, dass der Ehemann der Klägerin von einem Fußgänger oder Radfahrer vom kombinierten Rad und Fußgängerweg auf die Fahrbahn gestoßen wurde, liegen keinerlei Anhaltspunkte vor. Dieser vom Landgericht als "denkbare" Möglichkeit angesehene Ablauf ist vielmehr nahezu unmöglich, jedenfalls aber im höchsten Maße unwahrscheinlich. Denn der Fußgängerweg ist an der Unfallstelle etwa 1,70 Meter breit und zudem durch einen 1,80 Meter breiten Grünstreifen von der Landstraße abgetrennt. Auch befand sich der Getötete im Zeitpunkt des Unfalls auf der gegenüberliegenden Straßenseite, mithin mindestens rund fünf Meter von dem Fußgängerweg entfernt. Im Übrigen wäre ein nüchterner Fußgänger einem solchen Zusammenstoß ausgewichen und jedenfalls nicht auf der Fahrbahn liegen geblieben.

Diesen der Klägerin zuzurechnenden Verursachungs- und Verschuldensbeitrag ihres Ehemannes, die noch - wenn auch geringfügig - durch die dunkle Kleidung des Unfallopfers erhöht werden, waren bei der erforderlichen Abwägung diejenigen des Beklagten zu 1) gegenüberzustellen.

Zu dessen Lasten ist zu berücksichtigen, dass er erheblich zu schnell fuhr, nämlich statt der maximal erlaubten 50 km/h mindestens 74 km/h. Schon das Überschreiten der maximal zulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h war - wie sich aus dem den Senat überzeugenden und von der Berufung auch nicht angegriffenen Gutachten des Sachverständigen ... ergibt - ursächlich für den Tod des Ehemanns der Klägerin. Hätte der Beklagte zu 1) seine Geschwindigkeit pflichtgemäß so eingerichtet, dass er jederzeit vor einem auf der Fahrbahn befindlichen Hindernis, wie dies hier von dem auf der Fahrbahn liegenden Ehemann der Klägerin gebildet wurde, hätte anhalten können, wäre es zu dem tödlichen Unfall nicht gekommen.

Der Senat gewichtet unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles die beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge dahin, dass hier eine Haftungsverteilung nach einer Quote von 50 : 50 sachgerecht ist.

Das angefochtene Grundurteil war auf die Berufung der Beklagten entsprechend abzuändern.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht.

Ende der Entscheidung

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