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Gericht: Oberlandesgericht Oldenburg
Urteil verkündet am 15.09.2004
Aktenzeichen: 3 U 43/04
Rechtsgebiete: VVG


Vorschriften:

VVG § 6 Abs. 3
Verletzt der Versicherungsnehmer seine Aufklärungsobliegenheit nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 S. 3 AKB, indem er in dem ihm übersandten Schadensmeldungsformular einen Vorschaden nicht angibt, so kann sich der Versicherer gleichwohl nicht auf Leistungsfreiheit berufen, wenn ihm der Vorschaden bereits zuvor bekannt war oder bei der Bearbeitung des Schadensfalls aufgrund organisatorischer Maßnahmen unweigerlich bekannt wird.

Das ist der Fall, wenn im Laufe der Neuanlage eines Schadensvorgangs per EDV etwaige Vorschäden programmbedingt automatisch angezeigt werden.


Oberlandesgericht Oldenburg Im Namen des Volkes Urteil

3 U 43/04

Verkündet am 15.09.2004

In dem Rechtsstreit

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg auf die mündliche Verhandlung vom 01.09.2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und die Richter am Oberlandesgericht ... und ... für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 11.02.2004 verkündete Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück geändert:

Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Der Rechtsstreit wird zur Verhandlung und Entscheidung über die Höhe des Klageanspruchs an das Landgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt - einschließlich der Kosten des zweiten Rechtszuges - dem Landgericht vorbehalten.

Gründe:

I.

Der Kläger verlangt Zahlung aus einer für seinen Pkw Audi A 6 bei der Beklagten abgeschlossenen Fahrzeugversicherung wegen eines Unfallschadens vom 18.05.2003.

Die zuvor in Anspruch genommene Haftpflichtversicherung der Unfallgegnerin hatte eine Schadensregulierung abgelehnt. Der Kläger wandte sich daraufhin durch seine jetzigen Prozessbevollmächtigten an die Beklagte. Diese übersandte ein Schadenmeldungsformular, das der Kläger unter dem 26.07.2003 ausfüllte. Zu den Fragen nach dem Unfallhergang, nach den beschädigten Teilen und eventuellen Vorschäden machte der Kläger keine Angaben und brachte auf dem Formular zwei Schrägstriche an.

Tatsächlich hatte das Fahrzeug im Januar 2003 einen Schaden erlitten, der mit einem Reparaturaufwand von 3.955,74 € beseitigt werden musste. Der Vorschaden war von der Beklagten reguliert worden. Im Hinblick darauf lehnte die Beklagte die Versicherungsleistung wegen unzutreffender Angaben des Klägers ab.

Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 7.762,23 € nebst Zinsen zu verurteilen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, wegen der unzutreffenden Angaben des Klägers leistungsfrei zu sein. Ferner hat sie die Schadenshöhe bestritten.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Wegen der Feststellungen und der weiteren Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Dagegen wendet sich die Berufung des Klägers, mit der er seinen erstinstanzlichen Antrag weiter verfolgt. Er meint, eine Offenbarungspflicht hinsichtlich des Vorschadens habe nicht bestanden, weil für diese nach der Regulierung des Vorschadens kein Aufklärungsinteresse bestanden habe. Die Vorsatzvermutung hinsichtlich der Falschangaben greife in seinem Fall nicht, weil er der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sei und deshalb das Formular nicht richtig verstanden habe.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

II.

Die zulässige Berufung hat in der Sache insoweit Erfolg, als die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt zu erklären war. Der Senat hat die Sache auf Antrag des Klägers zur Verhandlung und Entscheidung über die Höhe des Klageanspruchs an das Landgericht zurückverwiesen (§ 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO).

Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Beklagte gemäß § 6 Abs. 3 VVG i. V. m. § 7 Abs. V Nr. 4 AKB von ihrer Leistungspflicht freigeworden ist, weil der Kläger seine Obliegenheit zur vollständigen Aufklärung gemäß § 7 Abs. I Nr. 2 Satz 3 AKB verletzt habe. Diese Auffassung hält einer Überprüfung nicht stand.

1.) Der Kläger hat im Schadenanzeigeformular vom 26.07.2003 keine Vorschäden angegeben, obwohl an dem Fahrzeug unstreitig im Januar 2003 ein erheblicher Schaden entstanden ist, der mit einem Reparaturaufwand von 3.955,74 € beseitigt werden musste. Damit liegt eine objektiv unvollständige Angabe vor, die eine Obliegenheitsverletzung darstellt. Der Kläger hat insofern auch vorsätzlich gehandelt - er hat in der mündlichen Verhandlung ebenso wie beim Landgericht eingeräumt, dass er die Frage nach den Vorschäden verstanden habe.

2.) Die vorsätzliche Obliegenheitsverletzung führt jedoch nicht zur Leistungsfreiheit der Beklagten. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Rechtsfolge der Leistungsfreiheit nicht eintritt, wenn dem Versicherer die aufklärungsbedürftigen Tatsachen bereits bekannt sind und deshalb insoweit ein Aufklärungsinteresse des Versicherers nicht besteht (KG, ZfS 2001, 502 [503] m. w. N.).

Der Senat hat zur Frage der Kenntnis vom Vorschaden die Zeugin S... - Sachbearbeiterin der Beklagten - vernommen. Diese hat ausgesagt, dass der Schadenvorgang nach dem ersten Schreiben der Klägervertreter an die Beklagte in deren Direktion in Osnabrück angelegt und dann an die Zentrale in Hannover abgegeben wurde, wo Frau S ... die Bearbeitung übernommen hat.

Zur Neuanlage eines Schadenvorgangs hat die Zeugin angegeben, dass diese per EDV erfolgt und der Bearbeiter dabei vom Programm routinemäßig durch eine Kette von Abfragen geführt wird. In einem Arbeitsschritt werden bei der Neuanlage auch eventuelle Vorschäden angezeigt; es erscheint dann ggfs. eine Zeile mit Schadensdatum, SchadenNr. und Zahlbetrag des Vorschadens. Die Neuanlage erfolgt in der Regel durch Servicekräfte, bisweilen aber auch durch Sachbearbeiter. Bei einem späteren Aufruf des Schadensvorgangs werden die Vorschäden nicht mehr automatisch angezeigt, sind aber durch einen entsprechenden Mausklick abrufbar. In der zu einem Schadenvorgang angelegten Akte (die Bearbeitung bei der Beklagten erfolgt papierarm, aber nicht papierlos) wird der Vorschaden nicht vermerkt.

Nach Eingang der Sache bei ihr habe Frau S... zunächst bei der Klägervertreterin angefragt, ob der Schaden polizeilich aufgenommen worden sei und dann - nach verneinender Antwort - die Absendung eines Schadenanzeigeformulars an den Kläger verfügt. Von dem Vorschaden habe sie erst bei der weiteren Bearbeitung (nach Rücksendung des Schadenanzeigeformulars) zwischen dem 01. und dem 14.08.2003 erfahren.

Daraus ergibt sich, dass die Beklagte bereits zu Beginn der Bearbeitung des Schadenfalles Kenntnis von dem Vorschaden hatte. Dies folgt zwingend aus der Schilderung der Ablaufroutine bei der Neuanlage eines Schadenvorgangs. Der oder die Bearbeiterin der Beklagten hat durch die Anzeige des Vorschadens zwangsläufig Kenntnis von diesem genommen. Dieses Wissen muss die Beklagte sich zurechnen lassen.

Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Anlage durch eine Servicekraft oder einen Sachbearbeiter erfolgte. Auch die Abgabe des Vorgangs nach Hannover ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Die Beklagte hat selbst ein EDVProgramm eingeführt, das Vorschäden schon bei der Erstbearbeitung automatisch anzeigt und dem Bearbeiter damit zur Kenntnis bringt. Damit hat sie Kenntnis vom Vorschaden. Dass dieses Wissen durch den weiteren Ablauf wieder verloren gehen kann und auch im vorliegenden Fall der Vorschaden der letztlich zuständigen Sachbearbeiterin bei Eingang der Schadenanzeige nicht bekannt war, rechtfertigt keine andere Würdigung.

Zwar muss der Versicherer sich grundsätzlich darauf verlassen können, dass der Versicherungsnehmer in der Schadensanzeige von sich aus richtige und lückenlose Angaben über den Versicherungsfall macht, damit der Versicherer in der Lage ist, sachgerechte Entschlüsse zu fassen. Insbesondere muss der Versicherer nicht seine Archive auf etwaige frühere Angaben durchsehen oder gespeicherte Daten abfragen. Eine Obliegenheitsverletzung ist daher nicht allein deshalb zu verneinen, weil der Versicherer die verschwiegene Tatsache aufgrund eines früheren Versicherungsfalls selbst kennen könnte (OLG Saarbrücken, ZfS 1998, 227 f. m. w. N.; OLG Bremen, VersR 1998, 1149 [1150]).

So liegt der Fall hier aber nicht. Die Beklagte hatte nicht nur die theoretische Möglichkeit zur Kenntnisnahme vom Vorschaden durch eine EDVAbfrage oder sonstige Recherchen. Vielmehr ist automatisch zu Beginn der Bearbeitung eine Abfrage erfolgt, aus der sich zwangsläufig die Kenntnis vom Vorschaden ergeben hat. Bei dieser Sachlage ist ein Aufklärungsinteresse des Versicherers hinsichtlich der Vorschäden nicht ersichtlich.

3.) Abgesehen davon ist die Beklagte auch deshalb nicht leistungsfrei, weil die Voraussetzungen der sogenannten RelevanzRechtsprechung nicht vorliegen.

Das Verschweigen des Vorschadens war zwar geeignet, bei der Beklagten falsche Vorstellungen über den Wert des Fahrzeugs hervorzurufen und eine unzutreffende - möglicherweise überhöhte - Entschädigungszahlung herbeizuführen. Dem Kläger kann aber nicht der gleichfalls erforderliche erhebliche Verschuldensvorwurf gemacht werden (vgl. BGH VersR 1970, 241 [242]; VersR 1975, 752 [753]). Dem stehen die besonderen Umstände des Falles entgegen:

Im Hinblick auf den erst kurze Zeit zuvor von der Beklagten regulierten Vorschaden lässt sich kaum annehmen, dass der Kläger eine Täuschung der Beklagten für aussichtsreich hielt. Seine Erklärung, er sei aufgrund von sprachlichen Schwierigkeiten nicht in der Lage gewesen, die Frage nach den Vorschäden schriftlich zu beantworten und habe im übrigen angenommen, der Vorschaden sei der Beklagten bekannt, ist durchaus plausibel.

Dagegen spricht auch nicht, dass der Kläger bei der Frage nach Vorschäden einen Strich angebracht hat, anstatt das Formular dort ganz frei zu lassen. Es fällt auf, dass der Kläger auch die Frage nach dem Unfallhergang mit einem Strich versehen hat. Der Strich auf der zweiten Seite bei der Frage nach den Vorschäden ist bis in die darüber liegende Zeile gezogen ("Was wurde beschädigt?"). Zu all diesen Fragen hat der Kläger nichts geschrieben. Er hat das Formular nur insoweit ausgefüllt, als darin nach Schadensdatum, zeit und -ort sowie nach weiteren Angaben gefragt wird (amtliches Kennzeichen, FahrzeugIdentifizierungsNr., Telefonnummer, etc.) für die es keiner besonderen schriftlichen Kenntnisse der deutschen Sprache bedarf.

Bei dieser Sachlage folgt der Senat der Erklärung des Klägers, er habe die Beklagte nicht täuschen wollen und angenommen, der Vorschaden sei dort bekannt. Für die Annahme eines erheblichen Verschuldens ist damit kein Raum.

4.) Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Der Kläger hat aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen F... vom 21.05.2003 den Fahrzeugschaden in Höhe von (7.133,65 € Reparaturkosten abzgl. Wertverbesserung von Ersatzteilen in Höhe von 78,20 € =) 7.055,45 € (ohne Mehrwertsteuer) zzgl. der Gutachterkosten sowie einer Auslagenpauschale geltend gemacht.

Die Beklagte hat die Höhe des Fahrzeugschadens bestritten und darauf verwiesen, dass dem Sachverständigen F... ausweislich des Gutachtens die Vorschäden nicht bekannt waren. Vor diesem Hintergrund wird die Höhe des Schadens - ggfs. nach sachverständiger Beratung - näher aufzuklären sein, falls die Parteien insoweit nicht zu einer gütlichen Einigung kommen sollten.

5.) Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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