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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Rostock
Beschluss verkündet am 08.09.2004
Aktenzeichen: 1 Ss 233/04 I 97/04
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 145 a
StPO § 353 Abs. 2
StPO § 358
StPO § 358 Abs. 2 Satz 2
StGB § 20
StGB § 21
StGB § 64
StGB § 64 Abs. 1
StGB § 223 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Rostock -1. Strafsenat- BESCHLUSS

1 Ss 233/04 I 97/04

In der Strafsache

wegen vorsätzlicher Körperverletzung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichtes Rostock durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Dally, den Richter am Oberlandesgericht Hansen sowie den Richter am Landgericht Kaffke auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 25. Kammer (Kleine Strafkammer) des Landgerichts Stralsund vom 15.04.2004 (25 Ns 222/03) nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft Rostock sowie des Angeklagten und seines Verteidigers am 08. September 2004

einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Das angefochtene Urteil wird mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts Stralsund zurückverwiesen.

2. Die weiter gehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Greifswald hat den bereits vielfach, u. a. auch wegen Trunkenheits- und Körperverletzungsdelikten strafrechtlich in Erscheinung getretenen Angeklagten am 16.09.2003 wegen einer in der Nacht vom 20.09. zum 21.09.2002 in der Diskothek "F. I. " in G. begangenen vorsätzlichen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte das Rechtsmittel der Berufung eingelegt, mit dem er seinen Freispruch, hilfsweise eine Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung erstrebte.

Die Berufung hat die 25. Kammer (Kleine Strafkammer) des Landgerichts Stralsund mit Urteil vom 15.04.2004 (25 Ns 222/03) als unbegründet verworfen. Hiergegen hat der Angeklagte durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 16.04.2004, am selben Tage beim Landgericht Stralsund eingegangen, Revision eingelegt. Das Rechtsmittel hat der gem. § 145 a StPO bevollmächtigte Verteidiger nach Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe am 12.05.2004 mit Anwaltsschriftsatz vom 10.06.2004, der am selben Tage beim Landgericht Stralsund eingegangen ist, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt, mit der näher ausgeführten Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet und die Revisionsanträge angebracht.

II.

Die Revision des Angeklagten führt zur Teilaufhebung des angefochtenen Urteils im tenorierten Sinne und zur Zurückverweisung der Sache in diesem Umfang an das Landgericht Stralsund.

Das Urteil hält im Umfang seiner Aufhebung rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1.

Der Senat hat die Revisionsbeschränkung des Angeklagten als unwirksam behandelt und das angefochtene Urteil vollinhaltlich überprüft.

a)

Zwar ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Beschränkung eines Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch grundsätzlich zulässig, setzt aber voraus, dass das angefochtene Urteil seine Prüfung ermöglicht. Eine Rechtsmittelbeschränkung ist von daher nicht wirksam, wenn das Urteil keine Gründe enthält oder diese Gründe so beschaffen sind, dass sie keine hinreichende Grundlage für die Prüfung der Rechtsfolgenentscheidung bilden. Eine unwirksame Revisionsbeschränkung ist dann unbeachtlich; das Urteil wird in vollem Umfang geprüft (vgl. zu Vorstehendem Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., §§ 344 Rdz. 7; 318 Rdz. 16, 32 m. w. N.).

b)

In dieser Hinsicht erweist sich das angefochtene Urteil als unvollständig. Die Feststellungen sind in Bezug auf die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB unklar und widersprüchlich und ermöglichen dem Senat von daher - was notwendig wäre - nicht die Überprüfung, ob die vom Angeklagten vorgenommene Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch wirksam ist.

aa)

Ergibt sich die Schuldfähigkeit zwanglos aus den Feststellungen des Urteils, ist in der Regel ihre ausdrückliche Erörterung entbehrlich. Geben jedoch tatsächliche Umstände zu Zweifeln an der - vollen - Schuldfähigkeit Anlass, so begründet die Nichterörterung im Urteil einen sachlich-rechtlichen Fehler. Für die Prüfung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB ist in solchen Fällen in der Regel auch ein Sachverständiger beizuziehen, es sei denn, dass es an tatsächlichen Grundlagen für das zu erstattende Gutachten überhaupt fehlt und er daher ein völlig untaugliches Beweismittel wäre. Auf einen Sachverständigen kann grundsätzlich nur verzichtet werden, wenn das Gericht ausnahmsweise, etwa in einfacheren Fällen der Feststellung und Bewertung der Blutalkoholkonzentration oder sonst bei Vorliegen von besonderem richterlichen Erfahrungswissen auf bestimmten Teilbereichen über die erforderliche Sachkunde verfügt, was dann im Urteil näher darzulegen ist (vgl. zu Vorstehendem Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl. § 20 Rdz. 22 ff. m. w. N.; Schönke/Schröder-Stree, StGB, 26. Aufl. § 20 Rdz. 39 ff. m. w. N.).

bb)

In vorstehendem Sinne weist die vorliegende Strafsache Unklarheiten und Widersprüche auf, die auch für die Schuldfrage (§ 20 StGB) eine Rolle spielen.

(1)

Das Urteil verhält sich zur Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit wie folgt:

"... Bereits in der Wohnung des Zeugen S. hatte der Angeklagte alkoholische Getränke zu sich genommen (Wodka-Apfel-Mixgetränke). Zum maßgeblichen Tatzeitpunkt war er betrunken. Der genaue Alkoholisierungsgrad konnte nicht festgestellt werden." ... (UA Bl. 6)

"Bei der Strafzumessung war vom Strafrahmen des § 223 Abs. 1 StGB auszugehen. Dieser war nach Maßgabe der §§ 24 (gemeint ist offensichtlich § 21 StGB), 49 Abs. 1 StGB zu mildern. Zu Gunsten des Angeklagten war anzunehmen, dass aufgrund des zuvor genossenen Alkohols seine Schuldfähigkeit bei der Tat erheblich vermindert war aufgrund einer schweren seelischen Störung durch Alkoholintoxikation."... (UA Bl. 8).

Aus der letztgenannten Formulierung wird schon nicht deutlich, ob nach Ansicht des Landgerichts die angenommene verminderte Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB aus einer erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit oder einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit resultieren soll. Dies darf der Tatrichter aber nicht offen lassen (vgl. Tröndle/Fischer a. a. O. § 21 Rdz. 5). Zudem ist es nach den Formulierungen des Landgerichts, der Angeklagte sei zum maßgeblichen Tatzeitpunkt "betrunken" gewesen, es habe bei ihm bei der Tat eine "Alkoholintoxikation" vorgelegen, zumindest nicht ausgeschlossen, dass sogar die Voraussetzungen des § 20 StGB vorgelegen haben könnten. Denn "Alkoholintoxikation" würde einen vergiftungsgleichen, medizinische Hilfe erfordernden schweren Rauschzustand bedeuten, der die Annahme des § 20 StGB durchaus erfordern könnte. Bei der weiteren Feststellung, der Angeklagte sei "betrunken" gewesen, handelt es sich um eine nicht durch Tatsachen unterlegte Leerformel der Umgangssprache.

(2)

Die den Schuldspruch betreffenden (BGH St 7, 285) Feststellungen zur Alkoholisierung des Angeklagten zum Tatzeitpunkt sind auch aus weiteren Gründen so lückenhaft und unzureichend, dass sie keine ausreichend sichere Grundlage für die Beurteilung des Tatgeschehens bilden und eine umfassende Ausschöpfung des Unrechtsgehalts der Tat nicht ermöglichen. Es ist nämlich nicht ersichtlich, dass dem Gericht überhaupt keine Beweismittel zur Verfügung gestanden hätten, die eine wenigstens einigermaßen verlässliche Einschätzung der von dem Angeklagten vor der Tat konsumierten Alkoholmengen und damit seines Alkoholisierungsgrades ermöglicht hätten. Nach den Urteilsfeststellungen hatte der Angeklagte in der Wohnung des Zeugen S. vor der Tatbegehung alkoholische Getränke zu sich genommen, und zwar Wodka-Apfel-Mixgetränke. Weiter teilt das Landgericht hierzu nur mit, der genaue Alkoholisierungsgrad des Angeklagten habe nicht festgestellt werden können. Ob und ggf. welche Angaben der Zeuge S. und der Angeklagte zur Art und Weise der Alkoholaufnahme des Angeklagten eventuell getätigt haben, teilt das Urteil hingegen nicht mit.

Nur wenn sich ein den Taten vorausgegangener Alkoholkonsum sowohl mengenmäßig als auch zeitlich jedem Versuch einer näheren Eingrenzung entzieht, was darzulegen ist, bedarf es ausnahmsweise keiner Berechnung einer Blutalkoholkonzentration. Dann muss statt dessen aber versucht werden (was dem angefochtenen Urteil ebenfalls nicht zu entnehmen ist), die Schuldfähigkeit des Täters aufgrund anderer Kriterien zu bestimmen, die in den Urteilsgründen aber ebenfalls nachprüfbar dargelegt werden müssen (BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 9, 13, 21, 22), es sei denn, auch solches wäre nicht möglich. Dass insoweit das Leistungsverhalten und andere äußere Symptome, sogenannte psychodiagnostische Kriterien (vgl. dazu Tröndle/Fischer a. a. O. § 20 Rdz. 22 m. w. N.) überhaupt nicht haben beurteilt werden können, erscheint nach den Feststellungen, nach denen der Angeklagte vor, bei und nach Begehung der Tat mit diversen Zeugen in Kontakt getreten ist, sehr unwahrscheinlich, zumal im Urteil auch Vorbelastungen wiedergegeben werden, die auf möglicherweise unkontrollierten Umgang des Angeklagten mit Alkohol hindeuten.

2.

Die vorstehenden Kriterien sind von der Berufungskammer nicht beachtet worden. Der vom Landgericht letztlich pauschal und ohne hinreichende Erörterung gezogene Schluss, bei dem Angeklagten hätten zur Tatzeit zwar die Voraussetzungen des § 21 StGB, nicht aber die des § 20 StGB vorgelegen, kann deshalb vom Revisionsgericht nicht auf mögliche Rechtsfehler zum Nachteil des Revisionsführers überprüft werden. Dieser Darlegungsmangel zwingt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im tenorierten Umfange, damit die erforderlichen Feststellungen nachgeholt werden können.

III.

Dagegen hat das Landgericht die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens rechtsfehlerfrei getroffen und dargelegt. Diese Feststellungen konnten daher Bestand haben.

Die Aufhebung der Urteilsfeststellungen ist gem. § 353 Abs. 2 StPO nur erforderlich, soweit sie von einer Gesetzesverletzung betroffen sind, die der Urteilsaufhebung zugrunde liegen. Bei Aufhebung wegen sachlich-rechtlicher Mängel gilt der Grundsatz tunlichster Aufrechterhaltung der von der Gesetzesverletzung nicht berührten Feststellungen (vgl. dazu Meyer-Goßner a. a. O. § 353 Rdz. 12, 15 m. w. N.). Ist ein Urteil wegen mangelnder Prüfung der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) aufzuheben, so berührt das in der Regel nicht die Frage, ob der Angeklagte die Merkmale des äußeren Tatbestands einer Strafvorschrift erfüllt hat. Die Feststellungen zur äußeren Tatseite können daher in solchen Fällen in der Regel bestehen bleiben (vgl. LR-Hanack, StPO, 25. Aufl. § 353 Rdz. 21 f.; KK-Kuckein, StPO, 5. Aufl. § 353 Rdz. 29, jeweils m. w. N.).

So liegt der Fall hier. Mängel werden im Übrigen auch von der Revision nicht behauptet.

IV.

Für die nach allem notwendige Neuverhandlung weist der Senat der Vollständigkeit halber darauf hin, dass sich die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer ggf. mit der Frage zu beschäftigen haben wird, ob die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB in Betracht kommen könnte.

Diese Vorschrift setzt voraus, dass der Täter den Hang hat, alkoholische Getränke im Übermaß zu sich zu nehmen, dass eine rechtswidrige Tat des Süchtigen vorliegt, die dieser im Rausch begangen hat oder die auf seinen Hang zurückgeht und dass die Gefahr besteht, dass er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Liegen die Voraussetzungen des § 64 Abs. 1 StGB vor, muss das Gericht grundsätzlich die Unterbringung anordnen (Schönke/Schröder-Stree, StGB, 25. Aufl. § 64 Rdn. 12 m. w. N.).

Mit seinen Ausführungen insbesondere zu den strafrechtlichen Vorbelastungen des Angeklagten hat das Berufungsgericht Feststellungen getroffen, die auf einen Hang des Täters hindeuten könnten, regelmäßig und möglicherweise abhängig alkoholische Getränke im Übermaß zu sich zu nehmen. Mit seinen Erwägungen, dass der Angeklagte nach seinen eigenen Bekundungen "im Zusammenhang mit Alkohol Probleme hat", könnte unter Zugrundelegung aller Umstände auch der erforderliche Gefahrzusammenhang aufgezeigt sein.

Es dürfte sich danach empfehlen, sich unter Heranziehung sachverständiger Hilfe auch des Problems einer Unterbringung nach § 64 Abs. 1 StGB in einer Entziehungsanstalt zu widmen.

Der Unterbringungsanordnung stünde das Verschlechterungsverbot des § 358 StPO nicht entgegen, § 358 Abs. 2 Satz 2.

Ende der Entscheidung

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