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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Rostock
Beschluss verkündet am 23.07.2007
Aktenzeichen: 1 Vollz(Ws) 1/06
Rechtsgebiete: StVollzG, StGB, StPO


Vorschriften:

StVollzG § 13 Abs. 3
StVollzG § 43
StVollzG § 43 Abs. 9 Nr. 1
StVollzG § 43 Abs. 10 Nr. 1
StVollzG § 43 Abs. 11
StVollzG § 43 Abs. 11 Satz 1
StVollzG § 43 Abs. 11 Satz 2
StVollzG § 43 Abs. 11 Satz 3
StVollzG § 43 Abs. 11 Satz 3 letzter Halbsatz
StVollzG § 119 Abs. 5
StVollzG § 200
StGB § 57 Abs. 4
StPO § 454 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Rostock BESCHLUSS

I Vollz(Ws) 1/06

In der Strafvollzugssache

betreffend Gerd W., geboren am 00.00.1900 in H., zzt. in Strafhaft in der JVA B.

gegen das Justizministerium Mecklenburg-Vorpommern, Puschkinstraße 19 - 21, 19055 Schwerin

wegen Gutschrift der Ausgleichsentschädigung nach § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichtes Rostock durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Dally sowie die Richter am Oberlandesgericht Dr. Garbe und Hansen auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss der 2. Kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Rostock vom 16.11.2005 (Az.: 12 StVK 211/05) nach Anhörung des Antragsgegners am 23. Juli 2007 beschlossen:

Tenor:

1. Die Rechtsbeschwerde wird zur Fortbildung des Rechts zugelassen (§ 116 Abs. 1 StVollzG).

2. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Der Antragsgegner wird verpflichtet, die beantragte Ausgleichszahlung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats dem Eigengeld des Antragstellers gutzuschreiben.

3. Die Kosten des Verfahrens und die dem Antragsteller erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

4. Der Gegenstandswert wird auch für das Rechtsbeschwerdeverfahren auf 100 Euro festgesetzt.

5. Diese Entscheidung des Senats ist endgültig, § 119 Abs. 5 StVollzG.

Gründe:

I.

Der Antragsteller (der sich seit August 1970 ununterbrochen in Haft befindet) verbüßte seit dem 06.08.1980 eine (erste) lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Diese wurde nach Verbüßung von 15 Jahren (§ 454 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO) mit Ablauf des 06.09.1995 (der Antragsteller war in der Zeit vom 16.08.1991 bis zum 18.09.1991 flüchtig) unterbrochen. Seit dem 07.09.1995 verbüßt der Antragsteller eine weitere lebenslange Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes, derzeit in der Justizvollzugsanstalt Bützow.

Im Mai 2005 beantragte der Antragsteller die Auszahlung einer Ausgleichsentschädigung gem. § 43 Abs. 11 StVollzG mit der Begründung, dass hinsichtlich seiner individuellen Freiheitsstrafe Stichtag im Sinne des § 43 Abs. 11 StVollzG der 06.09.2005 sei. Mit Verfügung vom 20.05.2005 hat der Leiter der Justizvollzugsanstalt den Antrag ablehnend beschieden. Ausgehend von einem Vollstreckungsbeginn lebenslanger Freiheitsstrafe(n) am 06.08.1980 seien vollstreckungsrelevante 10-Jahres-Zeiträume am 05.08.1990, 05.08.2000 sowie (im Hinblick auf § 43 Abs. 11 StVollzG erstmals bedeutsam) am 05.08.2010 erreicht.

Die 2. Kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Rostock hat den Antrag des Verurteilten mit Beschluss vom 16.11.2005 als unbegründet verworfen. Das Landgericht ist mit dem Leiter der Justizvollzugsanstalt der Auffassung, dass im Hinblick auf die dem Antragsteller zustehende Ausgleichsentschädigung nach § 43 Abs. 11 StVollzG ein Vollstreckungsbeginn lebenslanger Freiheitsstrafe am 06.08.1980 zu Grunde zu legen sei, woraus sich ein erstmaliger Anspruch für eine Gutschrift von Ausgleichsgeld am 05.08.2010 ergebe.

Gegen die vorbezeichnete Entscheidung richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde des Antragstellers.

II.

Die Rechtsbeschwerde war zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, da Anlass besteht, Leitsätze für die Auslegung des § 43 Abs. 11 StVollzG aufzustellen, insbesondere, was die Frage der Festsetzung des Stichtages nach § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG bei Anschlussvollstreckung mehrerer lebenslänglicher Freiheitsstrafen hintereinander anbelangt.

III.

In der Sache hat das zugelassene Rechtsmittel Erfolg. Der Senat teilt die vom Antragsteller vertretene Ansicht, dass die ihm nach § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG zu gewährende Ausgleichsentschädigung erstmalig mit Ablauf des 06.09.2005 fällig wurde, in ihrer Höhe zu berechnen und dem Eigengeld des Antragstellers gutzuschreiben ist.

1.

§ 43 StVollzG regelt i. V. m. § 200 StVollzG die Anerkennung der von Strafgefangenen geleisteten Pflichtarbeit. Diese Vorschriften wurden durch Artikel 1 Nr. 2 und 9 des 5. Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 27.12.2000 (BGBl I 2043) neu gefasst und traten am 01.01.2001 in Kraft. Die Neuregelung dient der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 01.07.1998 (BVerfGE 98, 169), in dem das Gericht die zuvor geltende Bemessung des Arbeitsentgelts von Strafgefangenen für mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Resozialisierung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar erklärte und dem Gesetzgeber die Normierung einer angemessenen Anerkennung für geleistete Pflichtarbeit aufgab.

Die Neuregelung erhöht zum einen das Barentgelt der Gefangenen, zum anderen tritt ein Naturalentgelt hinzu, indem dem Gefangenen die Freistellung von der Arbeit ermöglicht wird, die grundsätzlich als Urlaub innerhalb oder außerhalb der Haftanstalt gewährt oder mit bis zu 6 Tagen im Jahr auf den Entlassungszeitpunkt im Sinne einer Haftzeitverkürzung angerechnet werden kann (§ 43 Abs. 6, Abs. 7 und Abs. 9 StVollzG).

§ 43 Abs. 11 Satz 1 StVollzG gewährt für den Fall, dass eine Anrechnung der erarbeiteten Freistellungstage auf den Entlassungszeitpunkt nicht möglich ist, einen 15-prozentigen Zuschlag zum Arbeitsentgelt als Ausgleichsentschädigung, wobei der Anspruch auf Auszahlung nach § 43 Abs. 11 Satz 2 StVollzG erst mit der Entlassung entsteht. Da bei Gefangenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe und bei Sicherungsverwahrten der Entlassungszeitpunkt regelmäßig noch nicht bestimmt ist und die konkrete Möglichkeit besteht, dass sie nie entlassen werden, sodass damit auch eine Anrechnung von Freistellungstagen ausgeschlossen wäre, trifft § 43 Abs. 11 Satz 3 i. V. m. Abs. 9 Nr. 1 StVollzG für diese Personen eine Sonderregelung. Sie besteht darin, dass ihnen - wenn sie ihre Freistellungstage nicht in der Anstalt verbringen wollen ("Zellenurlaub") und Urlaub außerhalb der Haftanstalt ("Arbeitsurlaub", § 43 Abs. 7 StVollzG), nicht genehmigt erhalten - die Ausgleichszahlung bereits nach Verbüßung von jeweils 10 Jahren der lebenslangen Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung zum Eigengeld gutgeschrieben wird.

Mit den Neuregelungen in § 43 StVollzG war eine vom Bundesverfassungsgericht von Verfassungs wegen geforderte Besserstellung der Strafgefangenen umzusetzen. Es galt, dem Gefangenen auch den Wert der regelmäßig geleisteten Arbeit in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen (vgl. BVerfGE 98, 169 m. w. N.; Kammergericht, NStZ-RR 2006, 123 m. w. N.). Dem verfassungsrechtlichen Gebot einer die Resozialisierung fördernden Entlohnung gemäß sind in § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG feste Zeitintervalle umschrieben, deren Vollendung jeweils mit einem bestimmten Erfolg, der Gutschrift, verbunden ist. Aus dem Wortlaut der vorbezeichneten Bestimmung folgt, dass die Gutschrift nach Ablauf des bestimmten Zeitabschnittes von Amts wegen unabhängig von einem Antrag des Gefangenen unverzüglich nach dem Eintreten der Auszahlungsvoraussetzungen vorzunehmen ist. Davon ist allein dann abzuweichen, wenn der Gefangene zwischen zwei Dekadenendpunkten entlassen werden sollte (Kammergericht a. a. O.).

2.

Der Senat teilt mit dem Kammergericht (a. a. O.) nicht die Ansicht des OLG Hamm (NStZ 2005, 61), dass nicht nur die Entstehung von Ansprüchen, sondern auch die maßgebliche Verbüßungsdauer erst mit dem Inkrafttreten der Neuregelung am 01.01.2001 beginne. Für die Berechnung der 10-Jahres-Frist ist allein die tatsächliche Verbüßungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe maßgebend. Die Fragen der Entstehung des Anspruchs und der Berechnung der 10-jährigen Verbüßungsdauer müssen gedanklich getrennt werden; denn die Berechnung der Verbüßungsdauer betrifft nicht die Anspruchsentstehung, sondern allein die Bemessung der jeweiligen Zeitintervalle, nach deren Ende die Gutschrift der Ausgleichszahlung zu erfolgen hat. Dass die erste zu berücksichtigende Dekade erst mit dem Inkrafttreten der Neufassung des § 43 StVollzG am 01.01.2001 beginnen soll, hat der Gesetzgeber nicht angeordnet; einen dahingehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz gibt es nicht - er wäre mit der verfassungsrechtlich gebotenen und vom Gesetzgeber gewollten Besserstellung der betroffenen Strafgefangenen auch nicht vereinbar. Die Bemessung der Stichtage anhand einer Anknüpfung an ein vergangenes Ereignis - dem Beginn der Strafhaft - führt zu keiner Rückwirkung des Gesetzes. Vielmehr ergibt sich aus der in § 43 Abs. 11 Satz 3 letzter Halbsatz StVollzG enthaltenen Anordnung, § 57 Abs. 4 StGB gelte entsprechend, dass bei der Berechnung der Frist in dem Verfahrenen erlittene Untersuchungshaft oder eine sonstige Freiheitsentziehung entsprechend der Regelung in § 13 Abs. 3 StVollzG zu berücksichtigen ist. Hieraus folgt auch, dass der Gesetzgeber einen Unterschied zwischen der (erst seit dem 01.01.2001 möglichen) Anspruchsentstehung und der Berechnung der 10-Jahres-Frist zwecks Gutschrift der Ansprüche macht (vgl. zu Vorstehendem auch Kammergericht a. a. O.; OLG Hamm a.a.O.).

Die vorstehend genannten grundsätzlichen Fristberechnungsumstände haben sowohl die Justizvollzugsanstalt auch die Strafvollstreckungskammer im Übrigen korrekt angewendet.

3.

Nicht zu teilen vermag der Senat indes die Auffassung der Justizvollzugsanstalt und der Strafvollstreckungskammer, dass der Antragsteller hinsichtlich des Fristbeginns auf den Beginn der Vollstreckung der ersten gegen ihn vollstreckten lebenslangen Freiheitsstrafe am 06.08.1980 (und mithin auf einen jetzt maßgeblichen 10-Jahres-Fristbeginn am 06.08.2000) zu verweisen sei. Vielmehr ist für den Antragsteller Fristbeginn der Beginn der Vollstreckung der aktuell verbüßten lebenslangen Freiheitsstrafe (07.09.1995).

Die Vollstreckungssituation des Antragstellers (Verbüßung zweier lebenslanger Freiheitsstrafen) hat der Gesetzgeber - auch aufgrund dessen, dass sie selten anzutreffen sein wird - bei der Neuregelung des § 43 StVollzG zwar ersichtlich nicht im Blick gehabt. Aus dem Sinn und Zweck sowie dem Wortlaut der Vorschrift ("... soweit eine lebenslange Freiheitsstrafe oder Sicherungsverwahrung verbüßt wird ...") kommt es für die Anspruchsentstehung aber darauf an, welche Strafe sich konkret im Zeitpunkt der Gesetzesänderung zum 01.01.2001 in Verbüßung befindet. Auch wenn die Vollstreckung der ersten gegen den Antragsteller verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe (lediglich) gem. § 454 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO mit Ablauf des 06.09.1995 unterbrochen worden ist, so verbüßt er doch seit dem 07.09.1995 und über den Stichtag 01.01.2001 hinaus konkret die zweite gegen ihn verhängte lebenslange Freiheitsstrafe. Dies ist nach Auffassung des Senats die "(eine) lebenslange Freiheitsstrafe", die § 43 Abs. 10 Nr. 1 StVollzG anspricht. Auf vor dem Stichtag 01.01.2001 (ganz oder teilweise) verbüßte andere Freiheitsstrafen kann es nach Auffassung des Senats in diesem Zusammenhang, was die Berechnung der 10-Jahres-Fristen anbelangt, nicht ankommen. Maßgeblich ist die Art der zum 01.01.2001 in Vollstreckung befindlichen Freiheitsstrafe und deren Vollstreckungssituation.

4.

Danach war der Beginn des Laufes der 10-Jahres-Frist des § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG in der vorliegenden Vollstreckungssache des Antragstellers auf den 07.09.1995 festzustellen. Die 10-Jahres-Frist der genannten Vorschrift ist mithin am 06.09.2005 abgelaufen. Der Antragsteller hat nach allem einen Anspruch auf Berechnung und Gutschrift der Ausgleichszahlung nach § 43 Abs. 11 Satz 3 StVollzG zu diesem Zeitpunkt. Die Justizvollzugsanstalt wird den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats entsprechend zu bescheiden haben.

VI.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 1, Abs. 4 StVollzG i. V. m. der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf §§ 65 Satz 1, 60 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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