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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Rostock
Beschluss verkündet am 17.03.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 64/03
Rechtsgebiete: StPO, BORA, BVerfGG


Vorschriften:

StPO § 140
StPO § 142 Abs. 1
StPO § 142 Abs. 1 Satz 3
StPO § 142 Abs. 2 Satz 3
StPO § 305
StPO § 309 Abs. 2
BORA § 3 Abs. 2
BORA § 3 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG § 31 Abs. 1
BVerfGG § 32
BVerfGG § 93b
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Az.: 1 Ws 64/03

Beschluss

In dem Strafverfahren

wegen räuberischer Erpressung u.a.

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Rostock durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Dally, den Richter am Oberlandesgericht Hansen und den Richter am Amtsgericht Burgdorf-Bressem auf die Beschwerde des Angeschuldigten B. gegen den Beschluss des Vorsitzenden der Großen Strafkammer 2 des Landgerichts Schwerin vom 10.01.2003 - 32 Kls 16/02 - nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, der Angeschuldigten B. und Br. sowie deren Verteidiger

am 17.03.2003 beschlossen:

Tenor:

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

2. Rechtsanwalt P. wird dem Angeschuldigten B. als Pflichtverteidiger bestellt.

Gründe:

I.

Der Angeschuldigte B. ist angeklagt, die Mitangeschuldigten zu deren gemeinsam begangener räuberischer Erpressung angestiftet zu haben. Eine Entscheidung über die Anträge aus der Anklageschrift vom 29.10.2002 hat das Landgericht noch nicht getroffen.

Der Angeschuldigte B. bestreitet die Tat, während sich der Angeschuldigte Br. bisher nicht eingelassen hat.

Mit Beschluss vom 17.06.2002 hat das Amtsgericht Grevesmühlen dem Angeschuldigten Br. seinen bis dahin tätigen Wahlverteidiger, Rechtsanwalt M., als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Mit beigefügter Vollmacht hat sich sodann im Oktober 2002 Rechtsanwalt P. als Verteidiger für den Angeschuldigten B. zur Akte gemeldet und mit Datum vom 18.11.2002 beantragt, ihn diesem als Pflichtverteidiger beizuordnen.

Rechtsanwalt P. ist auf dem Briefkopf des Rechtsanwaltes M. mit aufgeführt und als freier Mitarbeiter bei diesem tätig.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht den Antrag des Angeschuldigten B., ihm Rechtsanwalt P. als Pflichtverteidiger zu bestellen, abgelehnt, weil aufgrund der Sozietätsverbundenheit der Rechtsanwälte M. und P. und des unterschiedlichen Verteidigungsverhaltens der von ihnen verteidigten Angeschuldigten konkrete Anhaltspunkte für einen Interessenkonflikt gegeben seien.

Gegen diesen Beschluss hat Rechtsanwalt P. im Namen des Angeschuldigten B. Beschwerde eingelegt, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

1.

Der Zulässigkeit der Beschwerde steht § 305 StPO nicht entgegen. Zwar unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde. Hat die Entscheidung allerdings prozessuale Bedeutung in anderer Richtung, wie z.B. bei einem - auch hier vorliegenden - Beschluss über die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers, so ist sie wegen dieser selbständigen Bedeutung anfechtbar (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 305 Rn. 5).

2.

Die Voraussetzungen des § 142 Abs. 1 StPO zur Bestellung von Rechtsanwalt P. zum Pflichtverteidiger des Angeschuldigten B. sind gegeben. Ein wichtiger Grund, der einer Beiordnung als Pflichtverteidiger entgegensteht, liegt nicht vor.

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen zur Bestellung eines Pflichtverteidigers gem. § 140 StPO vor, muß dem Angeschuldigten ein Rechtsanwalt seines Vertrauens beigeordnet werden, wenn nicht wichtige Gründe im Sinn von § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO entgegenstehen; anderenfalls würde dem grundgesetzlich geschützten Anspruch auf ein faires Verfahren nicht Genüge getan (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 142 Rn. 9 m.w.N.). Zugleich gebietet es die Fürsorgepflicht des Vorsitzenden, einen Pflichtverteidiger nicht zu bestellen, der die Verteidigung wegen eines Interessenkonflikts möglicherweise nicht mit vollem Einsatz führen kann (vgl. BGH StV 1992, 406; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 142 Rn. 3).

a)

Allein der Umstand, dass - wie hier - die verteidigenden Rechtsanwälte gemeinsam in einer Kanzlei tätig sind, stellt keinen Interessenkonflikt dar, der als wichtiger Grund zur Nichtbestellung als Pflichtverteidiger führen kann.

Voraussetzung ist vielmehr das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte dafür, dass sich ein möglicher Interessenkonflikt real manifestiert hat (ebenso OLG Frankfurt NJW 1999, 1414 ff. und NStZ-RR 1999, 333f.; OLG Stuttgart 5. Strafsenat StV 2000, 656ff. - entgegen OLG Stuttgart 1. Strafsenat OLGSt StPO § 142 Nr. 5, der jedoch an dieser Auffassung nicht mehr festhält, vgl. StV 2000, 658 -; a.A. LG Frankfurt StV 1998, 358).

Grundsätzlich können Mittäter bei der Verteidigung gegenläufige Interessen haben; dieser mögliche Interessenwiderstreit kann auch zu einem Interessenkonflikt der sie verteidigenden, in einer Sozietät oder ansonsten beruflich verbundenen, Verteidiger werden. Will z.B. ein Verteidiger seinen Mandanten vor einem Schuldspruch hinsichtlich eines beiden oder mehreren Angeschuldigten gemeinschaftlich zur Last gelegten Tatvorwurfs - oder eines Teiles hiervon - bewahren oder für seinen Mandanten eine möglichst geringe Strafe erwirken, so wird dies in der Regel einer entsprechenden Verfahrensstrategie des anderen Verteidigers zuwiderlaufen.

Hieraus kann aber nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, es sei zu erwarten, dass einer der Verteidiger seinen Mandanten nicht mehr mit dem erforderlichen vollen Einsatz verteidigen werde.

Dies käme einem der Stellung des Rechtsanwaltes nicht gerecht werdenden Mißtrauen gleich und würde dem - im verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewährung eines fairen Verfahrens verankerten - Gebot, dem Angeschuldigten einen Rechtsanwalt seines Vertrauens beizuordnen, widersprechen.

Der Pflichtverteidiger ist, wie der Wahlverteidiger, ein selbständiges unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO), von dem ein entsprechendes gesetzestreues Verhalten verlangt wird und auch - solange keine gegenteiligen konkreten Anhaltspunkte vorliegen - vorausgesetzt werden kann. Dementsprechend kann und muss auch vorausgesetzt werden, dass er dem Gericht anzeigt, wenn er aufgrund einer Interessenkollision seinen Mandanten nicht mit vollem Einsatz verteidigen und damit seiner Standespflicht und seiner Pflicht als Organ der Rechtspflege nicht mehr nachkommen kann (in diesem Sinn ebenfalls OLG Stuttgart StV 2000, 656, 658).

Zu Recht wird insoweit auch hervorgehoben (vgl. OLG Stuttgart a.a.O.), dass die gemäß § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO zu treffende Auswahlentscheidung - wie auch vorliegend - in aller Regel dem Anliegen des in die Entscheidung eingebundenen Angeschuldigten Rechnung trägt und dieser faktisch in der selben Lage ist, wie bei der eigenverantwortlichen Verteidigerwahl, bei welcher die Zugehörigkeit des Verteidigers eines Mitangeschuldigten zur selben Sozietät - unabhängig von der Verteidigerstrategie - kein Hindernis bedeutet (vgl. insoweit die Nachweise bei OLG Stuttgart a.a.O., 657).

Die gegenteilige Auffassung würde darüber hinaus zu dem wenig sachgerechten Ergebnis führen, dass ein Mitangeschuldigter es oftmals in der Hand hätte, den Pflichtverteidiger eines anderen Mitangeschuldigten aus dem Verfahren zu drängen. Hierzu müsste er lediglich - wie vorliegend geschehen - einen anderen Rechtsanwalt der Sozietät, in der der Pflichtverteidiger des anderen Angeschuldigten tätig ist, bevollmächtigen. Diese zulässige Wahlverteidigerbevollmächtigung (s.o.) wäre nicht zu verhindern. Demnach müsste dann - auch vorliegend - die Bestellung des Pflichtverteidigers des anderen Angeschuldigten vom Gericht wegen der möglichen Interessenkollision widerrufen werden und diesem Angeschuldigten nun ein neuer Pflichtverteidiger beigeordnet werden.

Inwieweit der Pflichtverteidiger sich in Fällen der vorliegenden Art in Widerspruch zu § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA (Berufsordnung für Rechtsanwälte) - der die gleichzeitige Verteidigung mehrerer derselben Tat Mitangeklagter durch Sozietätsmitglieder bzw. freie Mitarbeiter einer Sozietät als Interessenkonflikt der Anwälte wertet, der ein Tätigwerden verbiete - setzt, ist hingegen für die Frage, ob ein wichtiger Grund im Sinn des § 142 Abs. 2 Satz 3 StPO vorliegt, ohne Bedeutung. Die Einhaltung berufsrechtlicher Vorschriften ist allein Aufgabe des Anwaltes; allenfalls grobe Verstöße gegen standesrechtliche Regeln können einen Anlaß zur Nichtbestellung zum Pflichtverteidiger geben (vgl. auch OLG Frankfurt NJW 1999, 1414, 1415). Ein solcher grober Verstoß kann angesichts der erheblichen - insb. auch verfassungsrechtlichen - Bedenken gegen die Verbindlichkeit der Regelung nicht bejaht werden (vgl. OLG Frankfurt a.a.O. m.w.N.; OLG Stuttgart a.a.O., 657 m.w.N.). Dem steht auch die Entscheidung des BVerfG vom 14.10.1997 (StV 1997, 356f.) nicht entgegen. Zwar hat das BVerfG dort u.a. ausgeführt, dass es nicht sachfremd erscheine, wenn bei der Prüfung des Interessenkonflikts eine Orientierung an der Bestimmung des § 3 Abs. 2 BORA erfolge (a.a.O., 357). Allerdings entfaltet diese bloße Subsumtion im Rahmen der Prüfung eines Verstoßes gegen das Willkürverbot keine Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG. Es handelt sich bei dieser Aussage bereits weder um einen Bestandteil des Tenors noch um einen tragenden Entscheidgungsgrund. Inwieweit einer ablehnenden Kammerentscheidung des BVerfG nach §§ 32, 93b BVerfGG überhaupt eine Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG zukommen kann (so wohl, trotz dem - anders als in § 93c BVerfGG - in § 93b BVerfGG nicht enthaltenen Hinweis der Gleichstellung von Kammer- mit Senatsentscheidungen, Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., 307; a.A., allerdings vor der Neufassung des § 93c BVerfGG, Rennert in Umbach/Clemens, BVerfGG, 1992, § 31 Rn. 70 unter Bezugnahme auf Entscheidungen des BVerfG), bedarf insoweit keiner Klärung. Dass im Übrigen auch das BVerfG selbst dieser bloß beiläufigen Bemerkung offenbar keine entscheidende Bedeutung beimisst, folgt daraus, dass es mit Datum vom 23.03.2001 einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als nicht offensichtlich unbegründet stattgegeben hat, in dem es um die Verfassungsmäßigkeit gerade dieser Vorschrift geht (NJW 2001, 1562f.)

b)

Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich ein möglicher Interessenkonflikt vorliegend bereits real manifestiert hat, liegen nicht vor.

Ob unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen schon alleine unterschiedliche Verteidigungsstrategien - z.B. bedingt durch sich widersprechende Einlassungen oder gegenseitige Belastungen - den Schluß rechtfertigen, ein Pflichtverteidiger werde nunmehr wegen des möglichen Konfliktes mit dem Sozietätskollegen den Angeschuldigten nicht mehr ausreichend verteidigen (so OLG Frankfurt NStZ-RR a.a.O.), erscheint dem Senat in dieser Absolutheit sehr zweifelhaft, kann aber vorliegend offengelassen werden. Denn solche Umstände sind nach dem bisherigen Verfahrensstand - wie von dem Verteidiger des Angeschuldigten B. zu Recht ausgeführt - nicht gegeben:

Der Angeschuldigte Br. hat sich gar nicht eingelassen, mithin bisher keinen anderen - also auch nicht den Angeschuldigten B. - belastet. Der Angeschuldigte B. hat sich zwar eingelassen, allerdings jegliche Tatbeteiligung bestritten und den Angeschuldigten Br. ebenfalls nicht belastet. Allein seine pauschale Vermutung, er habe das Gefühl, u.a. auch der Angeschuldigte Br. wolle ihm eins "auswischen", beinhaltet - unter Berücksichtigung der weiteren Einlassung - keine Belastung hinsichtlich des hier relevanten Tatvorwurfs.

Insoweit besteht bisher lediglich die abstrakte Möglichkeit eines Interessenwiderstreites; ob und in welcher Form dieser tatsächlich eintritt, kann zum jetzigen Verfahrenszeitpunkt nicht abgeschätzt werden.

Hinweise dafür, dass die bisherige Verteidigungsstrategie und damit auch das Einlassungsverhalten der Angeschuldigten B. und Br. bereits Ausfluss einer - verdeckten - Interessenkollision der Verteidiger P. und M. sein könnten, sind ebenfalls nicht ersichtlich.

III.

Gem. § 309 Abs. 2 StPO hat der Senat als Beschwerdegericht in der Sache selbst entscheiden und, wie beantragt, dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt P. als Pflichtverteidiger bestellt.

Ende der Entscheidung

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