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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 04.06.2004
Aktenzeichen: 1 U 8/04
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823 I
BGB § 1906
1. Eine Heimbetreiberin ist nicht ohne weiteres verpflichtet, die Fixierung einer sturzgefährdeten Heimbewohnerin zu veranlassen, wenn es im Übrigen im wohlverstandenen Interesse der Heimbewohnerin lag, ihren Alltag möglichst dem üblichen Heimablauf anzugleichen, um ihr einen festen Orientierungsrahmen zu bieten und ihr soziale Kontakte zu ermöglichen.

2. Selbst bei Annahme einer Pflichtwidrigkeit steht einer Haftung der Heimbetreiberin auf Schadensersatz in aller Regel entgegen, dass nicht fest steht, ob ein Betreuer tatsächlich ebenfalls eine Fixierung befürwortet und die erforderliche vormundschaftsgerichtliche Genehmigung (§ 1906 IV BGB) erhalten hätte.


Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

1 U 8/04

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2004 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 23. Dezember 2003 verkündete Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck geändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

I.

Die Klägerin, die die gesetzliche Krankenversicherin der am 5. Januar 1903 geborenen Elisabeth B. (im Folgenden Betroffene) ist, nimmt die Beklagte, mit der die Betroffene seit Dezember 1998 durch einen Heimvertrag verbunden ist, aus übergegangenem Recht (§ 116 SGB X) auf Schadensersatz in Höhe von 5.268,44 € in Anspruch.

Die Betroffene lebt seit dem 22. Dezember 1998 in dem von der Beklagten betriebenen Alten- und Pflegeheim "St. G." in L.. Am 14. Januar 1999 wurde die Betroffene vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Schleswig-Holstein begutachtet, und zwar zwecks Feststellung ihrer Pflegebedürftigkeit. In dem Gutachten heißt es u.a., dass die Betroffene nicht allein aufstehen könne, beim Gehen gestützt werden müsse und dass sie nach Zeit und Ort desorientiert sei.

Am 3. März 2000 wurde die Betroffene als Notfall in das Universitätsklinikum Lübeck eingewiesen. Im Notfallaufnahmeformular heißt es, dass bei ihr mehrere ältere Hämatome vorhanden seien.

In der Nacht zum 17. Juni 2000 schlief die Betroffene unruhig. Sie wurde am Morgen des 17. Juni 2000 wie an jedem Tag in den Monaten zuvor in den Rollstuhl gesetzt, und zwar ohne sie im Rollstuhl durch eine etwaige Kippstellung oder einen Gurt zu sichern und ohne ihr eine Hüftschutzhose anzuziehen. Die Betroffene nahm in der Zeit von 8.00 Uhr bis 8.30 Uhr ihr Frühstück ein, wobei ihr eine Pflegekraft der Beklagten behilflich war. Eine Pflegekraft suchte das Zimmer der Betroffenen gegen 8.45 Uhr erneut auf. Sie fand die Betroffene vor dem Rollstuhl liegend vor. Durch den Sturz aus dem Rollstuhl hatte die Betroffene eine Oberschenkelfraktur links erlitten. Die Fraktur wurde zunächst stationär und dann ambulant behandelt. Dadurch fielen Kosten von insgesamt 10.304,19 DM (5.268,44 €) an, die die Klägerin ausglich.

Die Klägerin hat von der Beklagten Zahlung von 10.304,19 DM verlangt. Sie hat geltend gemacht, dass die Beklagte den Heimvertrag mit der Betroffenen schlecht erfüllt habe, indem sie die Betroffene ungesichert in den Rollstuhl gesetzt und die Betroffene nicht beaufsichtigt habe, obgleich die Betroffene in der Nacht zuvor schlecht geschlafen habe und obgleich die Betroffene allgemein sturzgefährdet gewesen sei, wie der Umstand belege, dass schon in dem Notfallaufnahmebericht vom 3. März 2000 von mehreren älteren Hämatomen die Rede sei. Zumindest habe die Beklagte für ein Tragen einer Hüftschutzhose sorgen müssen.

Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt. Sie hat geltend gemacht, dass eine Fixierung der Betroffenen im Rollstuhl eine freiheitsbeschränkende Maßnahme bedeutet hätte, die nur nach Anordnung einer Betreuung und nach vormundschaftsgerichtlicher Genehmigung einer entsprechenden Betreueranordnung zulässig gewesen wäre. Eine solche vormundschaftsgerichtliche Genehmigung wäre nicht erteilt worden. Sie, die Beklagte, habe keine Veranlassung gehabt, eine Betreuung für die Betroffene anzuregen, damit ein Betreuer eine Fixierung im Rollstuhl anordne und die erforderliche vormundschaftsgerichtliche Genehmigung einhole. Vor dem Vorfall am 17. Juni 2000 sei die Betroffene nie aus dem Rollstuhl gefallen, obgleich sie täglich in den Rollstuhl gesetzt worden sei. Der Notfallaufnahme im Krankenhaus am 3. März 2000 sei ein Sturz aus dem Bett, nicht aus dem Rollstuhl vorausgegangen. Eine Hüftschutzhose habe die Betroffene nicht besessen.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Beklagte eine sie aus dem Heimvertrag mit der Betroffenen treffende Nebenpflicht verletzt habe, nämlich die Pflicht, die Betroffene vor vermeidbaren Schäden zu bewahren. Die Beklagte hätte, da die Betroffene in der Nacht zum 17. Juni 2000 besonders unruhig gewesen sei, mit besonderer Müdigkeit rechnen müssen. Sie hätte daher die Betroffene entweder im Bett belassen oder im Rollstuhl fixieren müssen, um ein Herausstürzen aus dem Rollstuhl aufgrund von Müdigkeit zu verhindern. Die Fixierung hätte schon deshalb keinen Eingriff in die Freiheitsrechte der Betroffenen bedeutet, weil die Betroffene aufgrund ihres körperlichen Zustandes nicht in der Lage gewesen sei, einen etwa vorhandenen Freiheitswillen zu betätigen.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Klagziel der Klagabweisung unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens weiterverfolgt. Sie weist darauf hin, dass der Grund für den Sturz der Betroffenen aus dem Rollstuhl ungeklärt sei. Für den Sturz könne außer Müdigkeit auch eine Ohnmachtsattacke oder ein Schwindelanfall der Betroffenen ursächlich gewesen sein.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und weist darauf hin, dass die Pflegekraft der Beklagten, die der Betroffenen am 17. Juni 2000 beim Frühstück geholfen habe, jedenfalls den Rollstuhl der Betroffenen an einen Tisch hätte heranschieben und die Räder hätte blockieren müssen, als sie das Zimmer verlassen habe, um ein Herausstürzen der Betroffenen aus dem Rollstuhl zu verhindern. Sie regt die Zulassung der Revision an.

II.

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Der Betroffenen steht aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte zu, der gemäß § 116 SGB X auf die Klägerin hätte übergehen können. Die Betroffene kann von der Beklagten weder aus Schlechterfüllung eines Heimvertrages (1.) noch aus unerlaubter Handlung (2.) Schadensersatz beanspruchen.

1.

Geht man zugunsten der Klägerin davon aus, dass zwischen der Beklagten und der Betroffenen ein wirksamer Heimvertrag zustande gekommen ist, so hat jedenfalls die Beklagte durch positives Tun keine sie aus dem Heimvertrag gegenüber der Betroffenen treffende Pflicht schuldhaft verletzt (a., b.) und es steht nicht fest, dass der Sturz der Betroffenen aus dem Rollstuhl nicht geschehen wäre, wenn die Beklagte bestimmte Handlungen, zu deren Vornahme sie verpflichtet gewesen sein könnte, vorgenommen hätte (c., d., e.). Die Beklagte war und ist aufgrund des Heimvertrages mit der Betroffenen verpflichtet, die Betroffene, soweit es mit Rücksicht auf ihr psychisches Wohlbefinden vertretbar ist und soweit die Maßnahmen nicht wirtschaftlich oder aus sonstigen Gründen unzumutbar sind, vor vermeidbaren körperlichen Schäden zu bewahren.

a.

Der Umstand, dass die Beklagte die Betroffene am Morgen des 17. Juni 2000 aus dem Bett geholt und in einen Rollstuhl gesetzt hat, bedeutet keinen Verstoß gegen die eingangs genannte Pflicht. Schon aus Gründen der Dekubitus-Vorbeugung war es angezeigt, die körperliche Lage der Betroffenen nach der im Bett verbrachten Nacht zu verändern, also sie von der Liege- in die Sitzposition zu bringen.

b.

Dass die Beklagte die Betroffene trotz gestörten Tag-Nacht-Rhythmuses die Nacht zum 17. Juni 2000 im Bett hat verbringen lassen mit der Folge, dass am Morgen des 17. Juni 2000 ein Wechsel von der Liege- in die Sitzposition angebracht war, ist ebenfalls nicht als pflichtwidrig anzusehen. Es lag im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen, ihren Alltag dem üblichen Heimablauf anzugleichen, um ihr einen festen Orientierungsrahmen zu bieten und ihr soziale Kontakte zu ermöglichen.

c.

...

d.

Dadurch, dass die Mitarbeiter der Beklagten die Betroffene am Morgen des 17. Juni 2000 von 8.30 Uhr bis 8.45 Uhr nicht beaufsichtigt haben, haben sie die eingangs genannte Pflicht nicht verletzt, weil die Forderung nach lückenloser Beaufsichtigung der Heimbewohner über das der Beklagten wirtschaftlich Zumutbare hinausgehen würde.

Sämtliche Maßnahmen, die die Beklagte hätte ergreifen können, um ein Herausfallen der Betroffenen aus dem Rollstuhl zu verhindern, hätten freiheitsentziehenden Charakter gehabt. Eine freiheitsentziehende Maßnahme liegt (schon dann) vor, wenn das dem Betroffenen verbliebene Bewegungspotential durch die Maßnahme eingeschränkt wird (MüKo, BGB, § 1906 Rdn. 37). Wäre die Betroffene etwa im Rollstuhl angegurtet oder wäre ein mit einer Kippvorrichtung versehener Rollstuhl in die Kippstellung gebracht oder wäre der Rollstuhl mit angezogener Bremse dicht an einen Tisch gerückt worden, so wäre die Betroffene jeweils in den ihr noch möglichen Bewegungen eingeschränkt worden; stets wäre ein Beugen nach vorn nur begrenzt möglich gewesen ; bei Verwendung einer Stuhlkippstellung oder eines Gurtes wäre zudem ein Hin- und Herrücken im Stuhl erschwert worden (vgl. auch LG Frankfurt FamRZ 1993, 601).

Zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme wäre die Beklagte nur berechtigt gewesen, wenn die Betroffene wirksam eingewilligt oder ein Betreuer sie angeordnet und das Vormundschaftsgericht sie genehmigt (§ 1906 Abs.3 BGB) hätte.

Da die Betroffene an Altersdemenz leidet und dieses Leiden auch schon im Jahr 2000 bestand, konnte die Betroffene selbst am 17.Juni 2000 nicht wirksam die Einwilligung zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme erklären.

Ob die Beklagte aus dem Heimvertrag gegenüber der Betroffenen verpflichtet war, auf die Anordnung einer Betreuung gemäß § 1896 BGB hinzuwirken, kann dahinstehen. Sollte die Beklagte eine solche Pflicht gehabt haben, so steht jedenfalls nicht mit der erforderlichen Gewissheit (§ 286 ZPO) fest, dass, wäre die Beklagte ihrer Pflicht nachgekommen, die Betroffene nicht gestürzt wäre. Geht man zugunsten der Klägerin davon aus, dass eine Betreuung für die Betroffene angeordnet worden wäre, so lässt sich nicht sicher abschätzen, wie ein Betreuer gehandelt hätte. Es erscheint möglich, dass sich ein Betreuer nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände des Falls - der Gefahren für die Betroffene einerseits, des psychischen Wohlbefindens der Betroffenen andererseits - dafür entschieden hätte, dass keine freiheitsentziehenden Maßnahmen ergriffen werden sollten.

e.

Die Beklagte war nicht verpflichtet, der Betroffenen vor Setzen in den Rollstuhl eine Hüftschutzhose anzuziehen. Zum einen waren nach dem von der Klägerin selbst vorgelegten Gutachten der Pflegewissenschaftlerin M. vom 30. Januar 2004 Protektorhosen im Jahr 2000 noch nicht üblich. Zum anderen verfügte die Betroffene über keine Protektorhose. Die Beklagte konnte der Betroffenen nur vorhandene Kleidungsstücke anziehen. Die Anschaffung einer solchen Hose hätte sie angesichts der Demenzerkrankung der Betroffenen nur gegenüber einem Betreuer anregen können. Wie dieser, wenn er auf Anregung der Beklagten hin eingesetzt worden wäre, reagiert hätte, lässt sich nicht sicher abschätzen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass er angesichts der fehlenden Üblichkeit im Jahr 2000 auf die Anschaffung verzichtet hätte.

2.

Da der Beklagten kein Tun oder Unterlassen vorgeworfen werden kann, dessen Kausalität für den Sturz der Betroffenen feststeht, schuldet die Beklagte der Betroffenen auch aus dem Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung (§§ 823 ff. BGB) keinen Schadensersatz.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Das Urteil ist gemäß §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO vorläufig vollstreckbar. Die von der Klägerin angeregte Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO ist nicht veranlasst, da der Fall keine rechtsgrundsätzlichen Fragen aufwirft und der Senat mit seiner Entscheidung nicht von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 12. April 2002 - 10 U 247/01 - abweicht. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat entschieden, dass bei Verletzung eines Heimbewohners der Heimträger das pflichtgemäße Verhalten seines Personals darzulegen und zu beweisen habe. Die Entscheidung des Senats beruht nicht auf der Antwort auf die Frage, welche Seite die Darlegungs- und Beweislast für eine Pflichtverletzung eines Heimvertrages trifft, sondern auf der Antwort auf die Frage, welche Seite die Kausalität einer Pflichtverletzung für einen Schaden nachzuweisen hat.

Ende der Entscheidung

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