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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 18.06.2004
Aktenzeichen: 4 U 117/03
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 278
BGB § 249 ff.
1. Die zum vorzeitigen Tode führende Fehlapplikation des Medikaments "Vincristin" bei einem an Leukämie erkrankten 58 jährigen Patienten stellt einen Behandlungsfehler dar. Dabei muss sich die Klinik gem. § 278 BGB auch das Fehlverhalten einer bei ihr nicht unmittelbar angestellten Ärztin im Praktikum zurechnen lassen.

2. Bei der Schadenszurechnung sind die hypothetischen Behandlungskosten des Versicherten (hier stationäre Chemotherapie: sog. ALL-Therapie) weder im Wege der Vorteilsausgleichung anrechenbar noch als Reserveursache zu berücksichtigen.

3. Voraussetzung für die Anrechnung in den sog. "Anlagefällen" ist, dass die Reserveursache mit Sicherheit ebenfalls zu dem eingetretenen Schaden geführt hätte. Dafür trägt der Schädiger die Beweislast. Im übrigen sind Reserveursachen nicht immer schematisch zugunsten des Schädigers zu berücksichtigen. Fiktive Heilbehandlungskosten (im Rahmen der bereits begonnenen Chemotherapie) sind nicht deckungsgleich (kongruent) mit dem tatsächlich eingetretenen Schaden (hier intensiv-medizinische stationäre Behandlungskosten wegen der Fehlapplikation).


Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Urteil Im Namen des Volkes

4 U 117/03

verkündet am: 18. Juni 2004

hat der 4. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 12.05.2004

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird - unter Zurückweisung ihres Rechtsmittels im Übrigen - das am 18.07.2003 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kiel teilweise geändert und wie folgt neu gefasst:

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 38.464,68 € (= 75.230,37 DM) nebst 5 Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 27.10.2001 zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Berufungen der Beklagten zu 1. und 2. werden zurückgewiesen.

4. Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits im 1. und 2. Rechtszug.

5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Beklagten bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Kläger vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

6. Die Beschwer beträgt für die Beklagten 38.464,68 €.

7. Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I. Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers aus übergegangenem Recht auf Schadensersatz (Behandlungs- und Transportkosten) in Anspruch. Die Klägerin hatte als gesetzliche Krankenversicherung in der Zeit vom 12.04.2000 bis 19.05.2000 für ihren Versicherungsnehmer I. stationäre, intensiv-medizinische Krankenversorgungsleistungen zu erbringen.

Der am 16.02.1942 geborene I. wurde am 07.04.2000 in die II. Medizinische Klinik des Städtischen Krankenhauses Kiel (die zugleich II. Medizinische Klinik und Poliklinik der Universität Kiel ist) zur Behandlung wegen einer Leukämie aufgenommen. Dort wurde eine sog. "NK-Vorläuferzell-Leukämie" (NK-Zellen: = Kurzbezeichnung für Natürliche Killerzellen) diagnostiziert. Die Erkrankung sollte durch eine Chemotherapie auf Basis der "multizentrischen Therapiestudie der ALL (= akute lymphatische Leukämie)" durchgeführt werden. Im Rahmen dieser Therapie musste u. a. das Medikament Methotrexat intrathekal, d. h. direkt in den Rückenmarkskanal und das Medikament Vincristin intravenös gespritzt werden. Die ALL-Therapie sieht in der Induktionsphase I (vom 1. bis 18. Tag) zunächst eine stationäre Behandlung auf Normalstation und nach einer anschließenden Unterbrechung von 5 Tagen eine weitere stationäre Behandlung von 37 Tagen (Induktionsphase II und anschließende Konsolidation) vor. Bis zum Therapieblock B wären insgesamt 111 stationäre Behandlungstage erforderlich, die ganze Therapie war auf ca. 2 1/2 Jahre, davon die Hälfte in stationärer Behandlung, angelegt.

Am 12.04.2000 wurde die Injektion der erforderlichen Medikamente von der Beklagten zu 1., die seit dem 01.03.2000 als Ärztin im Praktikum in der Klinik tätig war, durchgeführt. Hierbei verwechselte sie die beiden vorgenannten Medikamente und spritzte das intravenös zu verabreichende Zytostatikum Vincristin in den Rückenmarkskanal. Zu dieser Verwechslung kam es, weil die Vincristinspritze nach einer Änderung der Konfektionierung und Beschriftung keine besondere zusätzliche Kennzeichnung, sondern nur eine nicht besonders hervorgehobene Beschriftung trug und sich entgegen den üblichen Gepflogenheiten im Kühlschrank befand, der sonst nur zur Aufbewahrung der Methotrexatspritze diente.

Unmittelbar nach dem Erkennen des Fehlers wurden ärztliche Notfallmaßnahmen eingeleitet. Herr I. wurde per Rettungswagen in die Neurochirurgische Klinik des Universitätsklinikums Kiel verlegt, dort erfolgte u. a. eine intrathekale Spülung nach Trepanation sowie die Anlage einer rechtsfrontalen Ventrikel- und einer lumbalen Dauerdrainage. Bereits in der Nacht zum 13.04.2000 erfolgte eine Intubation sowie eine Analgosedierung und eine künstliche Beatmung. Am 21.04.2000 wurde der Versicherte auf die internistische Intensivstation des Städtischen Krankenhauses zurückverlegt, wo er am 19.05.2000 nach einem akuten Kreislaufversagen verstarb.

Die am 25.05.2000 durchgeführte Obduktion ergab als Todesursache ein "zentrales Regulationsversagen von Atem- und Kreislauftätigkeit". Das im Rahmen des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens gegen die Beklagte zu 1. (StA Kiel, Az. 500 Js 10073/01) eingeholte rechtsmedizinische Gutachten des Gerichtsmediziners Prof. Dr. O. vom 31.01.2001 ergab, dass das funktionelle Organversagen des zentralen Nervensystems auf die versehentliche intrathekale Applikation von Vincristin zurückzuführen war.

Für die Behandlung des Versicherten entstanden der Klägerin folgende Kosten:

1. Stationäre Behandlung vom 12.04. bis 21.04.2000 im Universitätsklinikum Kiel: 20.277,10 DM

2. stationäre Behandlung vom 21.04. bis 19.05.2000 in der internistischen Intensivstation des Städtischen Krankenhauses Kiel: 54.159,28 DM

3. Transport mit Rettungswagen am 12.04.2000: 397,00 DM

4. Transport mit Rettungswagen am 21.04.2000: 397,00 DM

gesamt 75.230,38 DM

38.464,68 €.

Soweit die Klägerin im 1. Rechtszug zunächst einen Schaden in Höhe von insgesamt 78.027,63 DM geltend gemacht hat, hat sie im Termin vom 01.07.2003 die Klage teilweise in Höhe von 2.100,00 DM zurückgenommen. Mit der Berufung werden ferner zwei weitere Schadensersatzpositionen (Lohnersatzleistung 201,00 DM und Krankengeld 496,25 DM), die das Landgericht abgewiesen hat, nicht mehr geltend gemacht.

Die Beklagten haben behauptet, die Leukämieform des Versicherten sei äußerst aggressiv gewesen und hätte innerhalb von 1 bis 2 Jahren mit Sicherheit auch zum Tod des Versicherten geführt. Sie meinen, die Klägerin müsse sich die ersparten Behandlungskosten ihres Versicherten für die ALL-Therapie für mindestens 106 stationäre Behandlungstage in Höhe von 94.281,70 DM (= 106 Tage à 889,45 DM Tagessatz) im Wege der Vorteilsausgleichung anrechnen lassen.

Das Landgericht hat mit Urteil vom 18.07.2003 der Klage teilweise stattgegeben und die Beklagten zu einer Zahlung in Höhe von 25.731,16 € nebst Zinsen verurteilt. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, dass hinsichtlich der Behandlung vom 21.04. bis 19.05.2000 nur die durch die Behandlung des Schadens erwachsenen Mehrkosten zu ersetzen seien, nicht jedoch die ohnehin auch im Falle der Leukämiebehandlung anfallenden Heilbehandlungskosten in Höhe von 889,45 DM pro Tag, sodass sich eine Vorteilsanrechnung in Höhe von 12.733,52 € (28 Tage à 889,45 DM = 24.904,60 DM = 12.733,52 €) ergebe. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil einschließlich der darin enthaltenen Verweisungen Bezug genommen.

Dagegen richten sich die form- und fristgerecht eingelegten Berufungen beider Parteien.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass zwischen dem schädigenden Ereignis und dem anzurechnenden Vorteil kein adäquater Kausalzusammenhang bestehe, zumal der Versicherte durch die ärztlichen Notfallmaßnahmen infolge der Fehlapplikation überhaupt keinen Vorteil erlangt habe.

Die Beklagte zu 2. ist der Ansicht, dass ihre Haftung bereits dem Grunde nach nicht gegeben sei. Im Übrigen sei der Klägerin gar kein Schaden entstanden, denn die bereits begonnene Chemotherapie wegen der Leukämieerkrankung hätte weitaus höhere Kosten verursacht als der nunmehr tatsächlich eingetretene Behandlungs- und Transportkostenschaden. Die ersparten Aufwendungen müsse sich die Klägerin aus dem Gesichtspunkt der überholenden Kausalität bzw. der Vorteilsausgleichung anrechnen lassen.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Berufungsrechtszug wird auf die von ihnen gewechselten Schriftsätze nebst aller Anlagen Bezug genommen.

II. Die Berufung der Klägerin hat Erfolg, die Berufungen der Beklagten zu 1. und 2. sind hingegen unbegründet.

1. Die Beklagten zu 1. und 2. sind dem Grunde nach schadensersatzpflichtig.

Hinsichtlich der Beklagten zu 1. ist dies unstreitig gem. § 823 Abs. 1 BGB der Fall. Sie hat die Fehlapplikation des gefährlichen Medikaments Vincristin durch die Verwechslung zumindest fahrlässig verursacht. Das gegen sie eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde gem. § 153 a StPO wegen geringer Schuld gegen eine Auflage vorläufig eingestellt.

Die Beklagte zu 2. haftet aus positiver Vertragsverletzung i. V. m. § 278 BGB. Zwischen dem Versicherten, Herrn I., und der Beklagten zu 2. ist durch die stationäre Aufnahme im Städtischen Krankenhaus Kiel am 07.04.2000 (Station 5/3) ein Behandlungsvertrag zustande gekommen. Die Beklagte zu 2. hat nicht bewiesen, dass Trägerin der II. Medizinischen Klinik und Poliklinik die Christian-Albrechts-Universität Kiel (im Folgenden CAU) ist. Aus dem Schreiben der CAU (Prof. Dr. Dr. K.) vom 11.05.2000 folgt nämlich, dass die II. Medizinische Klinik im Städtischen Krankenhaus eine besondere Struktur hat, die in einer "praktisch 2fachen Trägerschaft besteht". Damit wird sogleich deutlich, dass die Klinik zumindest auch in der Trägerschaft der Beklagten zu 2. steht, was schließlich auch aus den Umständen (u. a. Rechnung der Beklagten zu 2. an die Klägerin vom 27.06.2000 wegen der Behandlungskosten vom 07.04. bis 12.04.2000; Kostenübernahmeantrag der Beklagten zu 2. an die Klägerin vom 04.05.2000) deutlich wird.

Die Beklagte zu 1. ist als Erfüllungsgehilfin gem. § 278 BGB für die Beklagte zu 2. tätig geworden. Erfüllungsgehilfe ist, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Falles mit dem Willen des Schuldners an der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird (Palandt/Heinrichs, BGB, 63. Aufl., § 278 Rdnr. 7). Dabei ist unerheblich, dass die Beklagte zu 1. tatsächlich arbeitsrechtlich bei der Universität Kiel angestellt war, denn die Art der zwischen dem Schuldner und der Hilfsperson bestehenden rechtlichen Beziehung ist gleichgültig, sie kann auch in einer rein tatsächlichen Zusammenarbeit bestehen (Palandt/Heinrichs, a. a. O.).

Es kann demnach offen bleiben, ob die Beklagte zu 2. darüber hinaus wegen eigenen Organisationsverschuldens nach § 823 Abs. 1 BGB oder wegen Auswahl- und Überwachungsverschuldens nach §§ 823, 831 BGB haftet. Die Stellungnahme der Beklagten zu 1. im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren vom 13.11.2001 (Anl. K 15) spricht für ein eigenes Organisationsverschulden der Beklagten zu 2., zumal die Beklagte zu 1., die vorher zwar schon fünf Jahre lang als Krankenschwester tätig gewesen war, zum Zeitpunkt der Fehlapplikation erst sechs Wochen als AiP'lerin tätig war und von den Risiken und Komplikationsmöglichkeiten der ALL-Therapie nur "rudimentäre Vorstellungen" hatte. Unstreitig hat sie die intrathekale Injektion auch ohne fachärztliche Augenaufsicht durchgeführt.

2. Die Fehlapplikation von Vincristin ist für den hier geltend gemachten Schaden (= intensiv-medizinische Behandlungskosten vom 12.04. bis 19.05.2000 sowie Transportkosten) kausal geworden. Aufgrund der Fehlapplikation war eine intensiv-medizinische Behandlung zunächst in der Neurochirurgie der Universitätsklinik Kiel (vom 12.04. bis 21.04.2000) sowie anschließend auf der internistischen Intensivstation des Städtischen Krankenhauses Kiel (vom 21.04. bis 19.05.2000) erforderlich. Durch den Obduktionsbericht vom 25.05.2000 sowie das rechtsmedizinische Gutachten Prof. Dr. O. vom 31.03.2001 ist nachgewiesen, dass die Fehlapplikation des Medikaments Vincristin ursächlich für den Tod des Patienten I. gewesen ist. Die Obduktion ergab als Todesursache ein zentrales Regulationsversagen von Atem- und Kreislauftätigkeit. Die Obduzenten haben auch festgestellt, dass die organischen Veränderungen wegen der Leukämieerkrankung für sich genommen nicht geeignet waren, den Tod sowie den Krankheitsverlauf von Herrn I. zu erklären (S. 12 des Obduktionsberichts). Der Rechtsmediziner Prof. Dr. O. hat ausgeführt, dass an dem Kausalzusammenhang zwischen der versehentlichen intrathekalen Applikation von Vincristin und dem funktionellen Organversagen des zentralen Nervensystems "kein vernünftiger Zweifel" bestehe (S. 13 des Gutachtens).

Es kommt nach alledem nicht darauf an, ob - wie die Beklagten erstmals im 2. Rechtszug bestreiten - der Behandlungsfehler der Beklagten zu 1. als grober Behandlungsfehler mit der Folge einer Umkehr der Beweislast im Bereich der haftungsbegründenden Kausalität zu qualifizieren ist.

3. Hinsichtlich der streitigen Frage der Schadenszurechnung schließt sich der Senat der Auffassung der Klägerin an, dass die hypothetischen Behandlungskosten des Versicherten - anders als es das Landgericht gesehen hat - im Rahmen der ALL-Therapie weder im Wege der Vorteilsausgleichung anrechenbar noch als Reserveursache zu berücksichtigen sind.

a) Die hypothetischen Behandlungskosten des Versicherten im Rahmen der bereits begonnenen ALL-Therapie sind nicht im Wege der Vorteilsausgleichung anzurechnen. Zu Recht hat das Landgericht bereits mit Beschluss vom 20.09.2002 darauf hingewiesen, dass es insoweit auf die Sicht des Geschädigten selbst (hier des Versicherten I.) ankommt. Vorteile, die bei Dritten eintreten, bleiben außer Betracht (MünchKomm/Oetker, BGB, 4. Aufl., § 249 Rdnr. 225). Im Rahmen der Überleitung nach § 116 SGB X wird ein fremder, in der Person des Geschädigten entstandener Anspruch geltend gemacht, eine Vorteilsausgleichung in der Person des gesetzlichen Zessionars (hier des Sozialversicherungsträgers) ist dem geltenden Schadensersatzrecht fremd und würde ohne rechtfertigenden Grund zu einer Entlastung des Schädigers auf Kosten der Allgemeinheit führen (vgl. BGH, VersR 1978, 251). Demnach ist also nicht entscheidend, welche Kosten die Klägerin als gesetzliche Krankenversicherung bei hypothetischer Betrachtungsweise hätte aufbringen müssen, sondern welchen Vorteil der Versicherte ohne das schädigende Ereignis erlangt hätte.

Hier hat der Versicherte I. aufgrund des schädigenden Ereignisses (= Fehlapplikation) möglicherweise zwar stationäre Behandlungskosten für die Krebstherapie erspart, eine Anrechnung ist dem Geschädigten jedoch - bei wertender Betrachtungsweise - nicht zumutbar. Während der intensiv-medizinischen Behandlung aufgrund der Fehlapplikation ist keine Chemotherapie - mithin keine Behandlung des Krebsleidens - durchgeführt worden, sodass schon daraus ein Vorteil aus Sicht des Versicherten nicht erkennbar ist. Schließlich ist auch keinesfalls sicher, ob der Geschädigte die Behandlungskosten für die Krebstherapie auch ohne das schädigende Ereignis hätte aufwenden müssen, zumal ein Patient auch immer die Entscheidungsfreiheit hat, eine bereits begonnene Therapie vorzeitig abzubrechen. Dies kommt im Rahmen einer Chemotherapie zur Krebsbekämpfung in der Praxis - wie dem Senat aus seiner Spezialzuständigkeit bekannt ist - durchaus nicht selten vor. Es liegt auch keine unbillige Besserstellung des Geschädigten durch die fehlende Anrechnung möglicherweise ersparter hypothetischer Aufwendungen im Rahmen der ALL-Therapie vor. Soweit anerkanntermaßen die häuslichen Verpflegungskosten bei Krankenhausaufenthalten im Rahmen der Vorteilsausgleichung anzurechnen sind (vgl. OLG Hamm, NJW-RR 2001, 456; Palandt/Heinrichs, a. a. O., vor § 249 Rdnr. 141), liegt kein vergleichbarer Sachverhalt vor.

b) Die hypothetischen Behandlungskosten wegen der Leukämieerkrankung des Versicherten müssen auch nicht im Wege der Schadenszurechnung als Reserveursache (hypothetische Kausalität) zulasten der Klägerin angerechnet werden.

Eine allgemeine Richtlinie über die Behandlung hypothetischer Ereignisse, die den Schaden aufheben oder vermindert hätten, lässt sich aus den Vorschriften des BGB nicht gewinnen (vgl. Sörgel/Mertens, BGB, 12. Aufl., § 249 Rdnr. 152). Der BGH hat inzwischen zwar das Dogma von der prinzipiellen Unbeachtlichkeit der hypothetischen Kausalität aufgegeben (Sörgel/Mertens, a. a. O., § 249 Rdnr. 56 mit Hinweis auf BGH NJW 1981, 628, 630). Aufgabe des Schadensersatzrechts ist es, dem Geschädigten die durch das schädigende Ereignis zugefügten Nachteile abzunehmen. Deshalb ist der Geschädigte nur insoweit anspruchsberechtigt, als er durch das schädigende Ereignis tatsächlich eine Schlechterstellung erfahren hat. Hieraus folgt, dass die Reserveursache zu berücksichtigen ist (MünchKomm/Oetker, a. a. O., § 249 Rdnr. 206).

Unklarheit besteht jedoch darüber, nach welchen Kriterien hinsichtlich der Beachtlichkeit hypothetischer Kausalität zu differenzieren ist (vgl. MünchKomm/Oetker, a. a. O., § 249 Rdnr. 202). Einigkeit besteht offenbar darüber, dass die hypothetische Kausalität in den sog. "Anlagefällen" beachtlich ist (Sörgel/Mertens, a. a. O., vor § 249 Rdnr. 157). Hiernach sind solche Reserveursachen beachtlich, die als Schadensanlage schon bei Eintritt der realen Ursache vorgelegen haben (MünchKomm/Oetker, a. a. O., § 249 Rdnr. 202 mit Hinweis auf BGH NJW 1959, 1131). Die Schadensanlage ist ein Umstand, der den Wert der Sache bereits im Zeitpunkt des Eingriffs mindert und deshalb bei der Ermittlung der Schadenshöhe berücksichtigt werden muss (MünchKomm/Oetker, a. a. O., § 249 Rdnr. 203).

Voraussetzung für eine Anrechung - auch in den Anlagefällen- ist jedoch, dass die Reserveursache mit Sicherheit ebenfalls zu dem eingetretenen Schaden geführt hätte (MünchKomm/Oetker, a. a. O., § 249 Rdnr. 206 mit Hinweis auf BGHZ 138, 359, 636). Die Beweislast dafür, dass der Schaden aufgrund der Reserveursache auf jeden Fall eingetreten wäre, liegt beim Schädiger (MünchKomm/Oetker, a. a. O., § 149 Rdnr. 217). Diesen Beweis haben die Beklagten nicht geführt.

Im Rahmen der Reserveursache geht es nicht - wie die Beklagte zu 1. mit Schriftsatz vom 13.05.2004 noch einmal ausdrücklich klargestellt hat - um den Tod von Herrn Iwersen und die Behauptung der Beklagten, dieser wäre aufgrund der Krebserkrankung mit Sicherheit im zweiten Jahr nach der Diagnose eingetreten (Bl. 190 + 191 d. A.), sondern um die Frage, welche hypothetischen Kosten (d. h. Heilbehandlungskosten im Rahmen der bereits eingeleiteten ALL-Therapie) dem Versicherten auch ohne Behandlungsfehler entstanden wären.

Ob die von den Beklagten behaupteten Heilbehandlungskosten (106 Tage stationäre Behandlung à 889,45 DM = 94.281,70 DM) mit Sicherheit entstanden wären, haben die Beklagten nicht bewiesen. Dabei ist auch nicht maßgebend, ob Herr I. noch solange gelebt hätte und die durch die begonnene ALL-Therapie entstandenen Behandlungskosten die geltend gemachte Schadenssumme erreicht hätten, weil der Versicherte in jedem Fall auch immer die Möglichkeit gehabt hätte, die bereits begonnene Chemotherapie vorzeitig aufgrund freiwilliger Entscheidung abzubrechen. Es steht damit gerade nicht fest, dass der Versicherte in jedem Fall die bereits begonnene ALL-Therapie auch beendet hätte.

Im Übrigen sind Reserveursachen auch in den sog. Anlagefällen nicht in allen Fallgestaltungen schematisch zugunsten des Schädigers zu berücksichtigen. Vielmehr muss vom Zweck der verletzten Norm her eine Wertung vorgenommen werden (MünchKomm/Oetker, § 249 Rdnr. 206 mit Hinweis auf BGHZ 104, 355 f.). Die Anrechnung scheint gerade bei der Frage fiktiver Heilungskosten äußerst zweifelhaft (vgl. Staudinger/Schiemann, 13. Bearb. 1998, § 249 Rdnr. 99, wonach selbst kongruente Nachteile durch die Schadensanlage nicht konsumiert werden). Nach Auffassung des Senats ist der tatsächliche Schaden (= Behandlungskosten wegen der intensiv-medizinischen Behandlung aufgrund der Fehlapplikation) auch nicht deckungsgleich (kongruent) mit dem Anlageschaden (= Heilbehandlungskosten im Rahmen der ALL-Therapie). Die intensiv-medizinische Behandlung des Versicherten erfolgte, um die Folgen des Behandlungsfehlers (= Beschädigung des Nervensystems) zu beseitigen und nicht um die Leukämieerkrankung im Rahmen einer Chemotherapie zu heilen.

Ferner bleiben hypothetische Umstände auch insoweit unberücksichtigt, als sie zeitlich nicht mehr zu den für die Schadensberechnung maßgeblichen Daten gehören (vgl. Sörgel/Mertens, a. a. O., vor § 249 Rdnr. 154; Palandt/Heinrichs, a. a. O., vor § 249 Rdnr. 104). Dies bedeutet im Ergebnis, dass ohnehin - im Falle einer Anrechnung - die hypothetischen Heilbehandlungskosten im Rahmen der ALL-Therapie als Reserveursache über den tatsächlichen Todeszeitpunkt hinaus (d. h. nach dem 19.05.2000) nicht mehr berücksichtigt werden könnten. Das bedeutet, dass -wenn überhaupt - nur eine Anrechnung für 31 Tage (12.04. - 24.04.: 12 Tage und 01.05. - 19.05.2000: 19 Tage) und nicht - wie die Beklagten meinen - für 106 Tage in Betracht käme.

Nach alledem kommt im Ergebnis eine Schadensanrechnung der hypothetischen Heilbehandlungskosten im Rahmen der ALL-Therapie weder unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsausgleichung noch unter dem Gesichtspunkt der hypothetischen Kausalität (die letztlich ein Anwendungsfall der Vorteilsausgleichung ist, vgl. MünchKomm/Oetker, a. a. O., § 249 Rdnr. 206) in Betracht.

Die Zinsentscheidung folgt aus dem Gesichtspunkt des Verzuges gem. §§ 288, 286 Abs. 1 BGB.

Die Kostenentscheidung für die I. Instanz beruht auf §§ 91, 92 Abs. 2 ZPO. Die Zuvielforderung der Klägerin im 1. Rechtszug war verhältnismäßig geringfügig und hat keine höheren Kosten veranlasst.

Die Kostenentscheidung im 2. Rechtszug folgt aus §§ 91, 97 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Festsetzung der Beschwere beruht auf § 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision wird zugelassen (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO). Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts bzw. die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Die Frage, ob bei einer Schadensanlage - wie hier - die hypothetisch erforderlichen stationären Heilbehandlungskosten zugunsten des Schädigers im Wege der Reserveursache bzw. der Vorteilsausgleichung anzurechnen sind, ist bislang - soweit ersichtlich - vom BGH noch nicht entschieden worden. Es besteht Unklarheit darüber, nach welchen Kriterien insoweit hinsichtlich der Beachtlichkeit einer solchen Reserveursache zu differenzieren ist.



Ende der Entscheidung

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