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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 13.02.2004
Aktenzeichen: 4 U 54/02
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 253 II
BGB § 280
1. Fehldiagnosen eines Arztes führen nur dann zu einer Haftung, wenn Krankheitserscheinungen in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehender Weise gedeutet, elementare Kontrollbefunde nicht erhoben werden oder eine Überprüfung der ersten Verdachtsdiagnose im weiteren Behandlungsverlauf unterbleibt.

2. Die Verabreichung der Medikamente (L-Dopa: Madopar 62,5 bzw. Amantadin: Infusion PK-Merz) ist zur Absicherung der Verdachtsdiagnose auf eine Parkinson Erkrankung indiziert.

3. Ein Facharzt für Allgemeinmedizin ist nicht verpflichtet, bei Verdacht auf eine Parkinson Erkrankung den Patienten vor dem Medikamenteneinsatz zu diagnostischen Zwecken an einen Neurologen zur klinischen Untersuchung zu überweisen. Die Behandlung von Parkinson-Patienten fällt auch in den Zuständigkeitsbereich von Allgemeinmedizinern und stellt insoweit keinesfalls eine ungewöhnliche Erkrankung dar. Ein Allgemeinarzt ist berechtigt, in der Frühphase der Erkrankung die verabreichten Medikamente einzusetzen.

4. In der Allgemeinmedizin wird nach dem Prinzip "watchfull waiting" auch gezielt mit Faktor Zeit zur Absicherung einer Diagnose gearbeitet, um den Patienten nicht unnötig einer "Überdiagnostik" in Form von Ausschlussdiagnosen der jeweiligen Spezialisten auszusetzen


Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

4 U 54/02

Verkündet am: 13. Februar 2004

In dem Rechtsstreit

hat der 4. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 07.01.2004 für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 11.03.2002 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsrechtszuges.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beschwer der Klägerin beträgt 5.112,92 €.

Gründe:

I. Die Klägerin beansprucht von dem Beklagten die Zahlung eines ange- messenen Schmerzensgeldes (mindestens 10.000,00 DM) wegen eines medikamentösen diagnostischen Behandlung, die fehlerhaft gewesen bzw. über die sie nicht ordnungsgemäß aufgeklärt worden sei.

Der Beklagte, ein Arzt für Allgemein- und Umweltmedizin, war im Dezember 1999/Januar 2000 in der Praxis der Allgemeinärztin Dr. med. W. in M. als Vertreter tätig. Frau Dr. W. war die Hausärztin der Klägerin.

Die Klägerin war im Herbst 1999 wegen eines sogenannten Tennisarms rechts ("Epicondylitis humeri radialis") ambulant im Westküstenklinikum H. operiert worden. In der Folgezeit litt sie unter Beschwerden im rechten Arm (Kraftminderung und schmerzhafte Bewegungseinschränkungen). Eine erste Untersuchung durch den Beklagten fand am 20.12.1999 statt, der Beklagte stellte u. a. einen diskreten Rigor sowie ein Armbeugen "Zahnradphänomen" fest. In der Folgezeit stellte der Beklagte die Verdachtsdiagnose eines Parkinson-Syndroms, die er auf folgende Symptome stützte: Rigor, jahrelange Beschwerden, Operation am rechten Arm wurde ohne neurologische Diagnostik durchgeführt, der Webstertest lag in der Zeit vom 20.12.1999 bis 11.01.2000 zwischen 6 und 11 Punkten. Zur weiteren diagnostischen Absicherung verordnete der Beklagte am 11.01.2000 das Medikament Madopar 62,5 mit einer Dosierung von drei Tabletten täglich. Das Medikament wurde noch am gleichen Tag von der Klägerin eingenommen. Zusätzlich erfolgten ab dem 18.01.2000 mindestens drei (die Klägerin behauptet fünf) Infusionen des Medikaments PK-Merz (200 mg bzw. 500 ml täglich). Während die Untersuchung vom 11.01.2000 auf der Webster-Scala noch 11 Punkte ergab, konnten anlässlich der Untersuchung vom 19.01.2000 keine parkinsontypischen Symptome gemäß Webster-Scala (0 Punkte) mehr festgestellt werden.

Die Klägerin behauptet, die Medikamente hätten so starke Nebenwirkungen entfaltet, dass sie äußerst depressiv, vollkommen phlegmatisch und nicht mehr in der Lage gewesen sei, einfache Haushaltstätigkeiten auszuführen. Sie habe deshalb am 25.01.2000 die Behandlung bei dem Beklagten abgebrochen, um die Diagnose bei dem Neurologen Dr. H. überprüfen zu lassen. Ausweislich des Arztbriefes des Neurologen Dr. H. vom 01.02.2000 bestand bei der Klägerin "keine behandlungsbedürftige extrapyramidal-motorische Störung", eine Einschränkung ihrer Arbeitsfähigkeit lag ebenfalls zum Untersuchungszeitpunkt nicht mehr vor. An Parkinson war die Klägerin unstreitig nicht erkrankt.

Die Klägerin hält ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 DM für angemessen.

Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 11.03.2002 abgewiesen, und zur Begründung u.a. ausgeführt, dass der Einsatz der Medikamente als diagnostisches Mittel in der Frühphase einer Parkinson-Erkrankung nicht behandlungsfehlerhaft sei. Es habe auch keiner eingehenden Aufklärung bedurft.

Die Klägerin beantragt mit ihrer Berufung,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld in angemessener Höhe zu zahlen, jedoch nicht unter 10.000,00 DM.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des Vorbringens der Parteien im Berufungsrechtszug wird auf die von ihnen gewechselten Schriftsätze nebst aller Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat die Parteien im Termin vom 23.07.2003 persönlich gehört sowie ergänzende Gutachten der Sachverständigen Dr. Hendrik Wilms, Prof. Dr. Gerlach und Prof. Dr. Deuschl eingeholt.

II. Die Berufung der Klägerin ist unbegründet, denn es liegt weder ein schadensursächlicher Behandlungs- noch ein Aufklärungsfehler vor.

1. Ein Diagnoseirrtum begründet noch nicht ohne weiteres einen Behandlungsfehler. Fehldiagnosen eines Arztes führen nur dann zu einer Haftung, wenn Krankheitserscheinungen in völlig unvertretbarer, der Schulmedizin entgegenstehenderweise gedeutet, elementare Kontrollbefunde nicht erhoben werden oder eine Überprüfung der ersten Verdachtsdiagnose im weiteren Behandlungsverlauf unterbleibt (vgl. Uhlenbruck/Laufs, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 50 Rdnr. 3 m. w. N.). Eine entsprechende völlig unvertretbare Fehlleistung des Beklagten liegt hier jedoch nicht vor. Auf die zutreffenden Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung wird Bezug genommen. Die Verdachtsdiagnose auf ein Parkinson-Syndrom ist nicht zu beanstanden. Es lagen zumindest - ausweislich der Behandlungsdokumentation und des im Termin vom 23.07.2003 überreichten Webster-Tests - zwei von insgesamt vier Kardinalsymptomen (Hypokinese, Rigor, Tremor und Störung von Körperhaltung und Haltungsreflexen) vor, die eine entsprechende Verdachtsdiagnose des Beklagten rechtfertigten.

Die Verabreichung der Medikamente (L-Dopa: Madopar 62,5 bzw. Amantadin: Infusion PK-Merz) war zur Absicherung der Diagnose indiziert. Dies haben sowohl der Sachverständige Dr. Wilms als auch der im Termin vom 07.01.2004 ergänzend dazu gehörte Sachverständige Prof. Dr. Deuschl, Direktor der Klinik für Neurologie der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, bestätigt. Hier ist zwischen der Verdachtsdiagnose "Parkinson-Syndrom" und schließlich der Krankheit "Morbus Parkinson" zu differenzieren. Während die Verdachtsdiagnose "Parkinson-Syndrom" sich bereits aus der klinischen Untersuchung ergab, ist die Parkinson-Erkrankung (Morbus Parkinson) erst durch eine medikamentöse Diagnostik endgültig abklärbar. Es war daher gerechtfertigt, sowohl das Medikament Madopar 62,5 als auch schließlich die Infusionsbehandlung PK-Merz einzeln und ab dem 18.01.2000 in Kombination einzusetzen.

Auch die Dosierung ist nicht zu beanstanden. Es handelte sich - so die Sachverständigen übereinstimmend - jeweils um sehr niedrige Dosierungen, die auch in der Kombination sowohl zu diagnostischen als auch in der Folge zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden durften.

Die Medikamente durften insbesondere auch noch nach dem 19.01.2000 (Webster-Test ergab 0 Punkte) in Kombination eingesetzt werden. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Deuschl waren seit Beginn der medikamentösen Behandlung (11.01.2000 mit Madopar 62,5) bis zur Untersuchung am 19.01.2000 nämlich erst acht Tage vergangen, sodass aufgrund dieses relativ "schmalen Zeitfensters" die Diagnostik noch nicht abgeschlossen war. In der Behandlungsdokumentation ist unter dem 19.01.2000 außerdem eine "mittelgradige depressive Episode" dokumentiert, sodass im Hinblick auf den Verdacht einer Parkinson-Erkrankung jedenfalls die weitere Verabreichung der Medikamente sowohl zu diagnostischen als auch therapeutischen Zwecken indiziert und gerechtfertigt war. Es sei zwar - so der Sachverständige Prof. Dr. Deuschl - unüblich, zu einem solchen frühen Zeitpunkt bereits Infusionen zu geben, dies sei im Hinblick auf die äußerst niedrige Dosierung jedoch nicht als ärztlicher Behandlungsfehler zu werten.

2. Der Beklagte hat auch den entsprechenden Standard der Diagnostik eingehalten. Danach hat der Arzt bei mehreren zur Verfügung stehenden diagnostischen Untersuchungsmethoden diejenige anzuwenden, die für den untersuchten Patienten bei optimaler Effizienz die geringsten schädlichen Folgen hat bzw. haben kann. Der Sachverständige Prof. Dr. Gerlach, Lehrstuhlinhaber am Institut für Allgemeinmedizin der Christian-Albrechts-Universität Kiel, hat ausgeführt, dass der Beklagte auch in seiner Eigenschaft als Allgemeinmediziner nicht verpflichtet gewesen sei, die Klägerin vor dem Medikamenteneinsatz zu diagnostischen Zwecken an einen Neurologen zur erneuten klinischen Untersuchung zu überweisen. Die Behandlung von Parkinson-Patienten falle auch in den Zuständigkeitsbereich von Allgemeinmedizinern und stellte insoweit keinesfalls eine ungewöhnliche Erkrankung dar. Der Beklagte sei als Allgemeinarzt berechtigt gewesen, in der Frühphase der Erkrankung die verabreichten Medikamente einzusetzen. Nach der ersten klinischen Untersuchung mit den aus der Dokumentation ersichtlichen Symptomen war - so der Sachverständige Prof. Dr. Gerlach - die Ursache unklar gewesen. Die Symptome, wie sie sich aus der Dokumentation ergeben, konnten nämlich neben einem möglichen Parkinson-Syndrom auch z.B. auf Depressionen, Störungen der Nebenschilddrüse sowie Erkrankungen des Bewegungsapparates zurückgeführt werden. Diese Feststellungen von Prof. Dr. Gerlach hat der neurologische Sachverständige Prof. Dr. Deuschl bestätigt und erklärt, dass die Erstbehandlung von Parkinson-Patienten üblicherweise zunächst durch den Allgemeinarzt erfolge und sich erst später - binnen eines Jahres - die Vorstellung bei einem Neurologen empfehle.

Es sei auch nicht - so der Sachverständige Prof. Dr. Gerlach - fehlerhaft gewesen, dass der Beklagte die Klägerin nicht sofort nach dem 19.01.2000 und dem positiven Anschlagen der Medikamente (Webster-Test: 0 Punkte) an einen Facharzt zur weiteren diagnostischen Absicherung überwiesen habe. In der Allgemeinmedizin werde nach dem Prinzip "watchfull waiting" auch gezielt mit Faktor Zeit zur Absicherung einer Diagnose gearbeitet, um den Patienten nicht unnötig einer "Überdiagnostik" in Form von Ausschlussdiagnosen der jeweiligen Spezialisten auszusetzen.

Den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen zu Ziff. 1. und 2. schließt sich der Senat an.

3. Es liegt auch kein schadensbegründender Aufklärungsfehler vor. Nach dem Ergebnis der Anhörung des Beklagten im Termin vom 23.07.2003 steht zwar fest, dass er die Klägerin vor Verordnung bzw. Verabreichung der Medikamente zu diagnostischen bzw. später therapeutischen Zwecken nicht über mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt hat. Es kann jedoch offen bleiben, ob dies unter den gegebenen Bedingungen überhaupt erforderlich war, denn die Klägerin hätte auch bei entsprechender Aufklärung der Verabreichung der Medikamente zugestimmt (hypothetische Einwilligung), so dass kein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten vorliegt.

Bei beiden Medikamenten handelte es sich um zentral wirksame Medikamente, die - so der Sachverständige Prof. Dr. Deuschl - grundsätzlich - und damit auch entgegen der Einlassung des Beklagten vor dem Senat - Nebenwirkungen haben. So entfalte z. B. das Medikament PK-Merz Nebenwirkungen insbesondere bei Nierenschwäche sowie möglicherweise Hautveränderungen, das Medikament Madopar könne z. B. Durchfall und Schwindel erregen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die verabreichten Medikamente in der verabreichten geringen Dosierung jedoch tatsächlich Nebenwirkungen - wie auf den jeweiligen Beipackzetteln genannt - entfalten, liegt jedoch - nach Aussage Prof. Dr. Deuschl - unter 1 % aller Fälle. Der Sachverständige Prof. Dr. Gerlach hat ebenfalls bestätigt, dass schwere Nebenwirkungen von den verabreichten Medikamenten nicht zu erwarten gewesen seien, zumal eine mögliche Nierenschwäche der Klägerin vorab geprüft worden sei.

Die Klägerin hat im Termin vom 07.01.2004 auf die entsprechende Frage des Vorsitzenden ausdrücklich erklärt, dass sie mit der Verabreichung der verordneten Medikamente zur Abklärung der Verdachtsdiagnose "Parkinson-Syndrom" einverstanden gewesen wäre, wenn der Beklagte sie vorher über entsprechende mögliche Nebenwirkungen (wie z. B. Beeinträchtigung der Nieren und Hautveränderungen durch PK-Merz sowie Durchfall und Schwindel durch Madopar) mit der entsprechend geringen Wahrscheinlichkeit einer Realisierung (unter 1 % aller Fälle) aufgeklärt hätte. Damit liegt jedenfalls eine hypothetische Einwilligung vor.

Im Übrigen hat die Klägerin auch nicht bewiesen, dass der behauptete Schaden medikamentenbedingt eingetreten ist. Der Sachverständige Prof. Dr. Deuschl hat zwar erklärt, dass die behaupteten Beeinträchtigungen (depressive und phlegmatische Verstimmung, ständiges Hinfallen, Dahinvegetieren in der Wohnung, Suizidgedanken) theoretisch medikamentenbedingt entstanden oder aber auch im Hinblick auf mögliche Vorerkrankungen wie z. B. Depressionen verstärkt worden sein könnten; definitiv und verlässlich könne er das jedoch nicht sagen. Im Hinblick auf das geringe statistische Risiko einer Realisierung der schädlichen Nebenwirkungen der eingesetzten Medikamente und die bereits vor Verabreichung der Medikamente auf ein diffuses, anderweitiges Krankheitsbild hindeutenden Symptome ist zur Überzeugung des Senats ein Ursachenzusammenhang zwischen möglichen, medikamentenbedingten schädlichen Nebenwirkungen und den tatsächlichen Beeinträchtigungen der Klägerin nicht bewiesen.

Nach alledem hat die Berufung keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Festsetzung der Beschwer folgt aus § 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen (§ 543 Abs. 2 ZPO). Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

Ende der Entscheidung

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