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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 06.06.2003
Aktenzeichen: 4 U 70/02
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 831
BGB § 847
1. Wenn ein 82- jähriger Patient nachts auf einer normalen Station aus dem Krankenbett fällt, handelt es sich nicht um den Fall des sog. "vollbeherrschbaren Risikos".

2. Ohne die entsprechende Einwilligung des Patienten und ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Eigen- bzw. Fremdgefährdung verbietet sich grundsätzlich die präventive Anordnung von Sicherungsmaßnahmen.

3. (In der medizinischen Praxis werden entsprechende Sicherungsmaßnahmen gegen das Herausfallen aus dem Bett grundsätzlich nur dann angeordnet, wenn sich der Patient uneinsichtig zeigt und Anhaltspunkte für Bettflüchtigkeit bzw. der Gefahr einer Selbstverletzung bestehen.


Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

4 U 70/02

Verkündet am: 06.06.2003

In dem Rechtsstreit

hat der 4. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 21. Mai 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Hensen, den Richter am Oberlandesgericht Frahm und den Richter am Oberlandesgericht Röttger für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 04. April 2002 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 7. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsrechtszuges.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beschwer des Klägers beträgt 17.895,23 € (entsprechend 35.000,00 DM).

Gründe:

I. Der inzwischen 82-jährige Kläger beansprucht von dem Beklagten, Träger des Krankenhauses I., Schmerzensgeld (mindestens 30.000,00 DM) sowie im Wege der Teilklage materiellen Schadensersatz (5.000,00 DM von behaupteten 13.377,99 DM) wegen eines Vorfalls, der sich während eines stationären Aufenthalts in der Nacht vom 13.04. auf den 14.04.2000 ereignete.

Der Kläger wurde am 11.04.2000 auf Anraten seines Hausarztes wegen einer unklaren Erkrankung in Verbindung mit starken Rückenschmerzen und dem Verdacht auf eine krankhafte Veränderung der ableitenden Harnwege in das Krankenhaus des Beklagten eingeliefert. Wegen Verdachts auf Sepsis wurde er zunächst auf die Intensivstation gelegt, am Mittag des 12.04.2000 erfolgte die Verlegung auf eine "normale" innere Station des Krankenhauses.

Der Kläger hatte als Offizier im 2. Weltkrieg eine Granatsplitterverletzung erlitten. Laut Bescheid des Versorgungsamtes V. vom 12.10.1952 wurde ihm eine "schwere Granatsplitterverletzung der rechten Schädelhälfte mit Stecksplitter im rechten Schädelhirn und dadurch bedingte Krampfanfälle" bescheinigt. Aufgrund dieser Tatsache besitzt der Kläger einen Schwerbehindertenausweis und ist zu 70 % erwerbsgemindert.

Der Kläger behauptet, die Ärzte bzw. das Pflegepersonal hätten es schuldhaft unterlassen, Sicherungsmaßnahmen gegen das Herausfallen aus dem Bett anzuordnen bzw. vorzunehmen. Als Folge des Herausfallens sei der gesamte, zuvor sanierte Zahnapparat beschädigt worden, ferner habe er mehrere Rippenfrakturen sowie eine Gehirnerschütterung und zusätzlich - infolge des geschwächten Immunsystems - eine Herpeserkrankung erlitten.

Das Landgericht hat mit Urteil vom 04.04.2002 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass der Unfall nicht von dem Beklagten bzw. seinen Mitarbeitern schuldhaft verursacht worden sei, sondern es sich vielmehr um die schicksalhafte Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos gehandelt habe. Wegen der Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil einschließlich der darin enthaltenen Verweisungen Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten zu verurteilen,

1. an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld (mindestens 30.000,00 DM) nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 11.11.2000 und

2. 2.556,46 € (5.000,00 DM) nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 11.11.2000 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Wegen des Vorbringens der Parteien im Berufungsrechtszug wird auf die von ihnen gewechselten Schriftsätze nebst aller Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat im Termin vom 21.05.2003 die Zeugen Dr. P., Dr. L. und Dr. T. vernommen sowie den medizinischen Sachverständigen Herrn Prof. Dr. K. gehört.

II. Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Ein Behandlungsfehler der behandelnden Ärzte bzw. des Pflegepersonals liegt nicht vor. Der Senat schließt sich insoweit den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils an, soweit sich aus der nachfolgenden Darstellung keine Abweichungen in der tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung des Geschehens ergeben.

Die Beurteilung der Frage, ob ein ärztlicher Behandlungsfehler vorlag, der für die eingetretenen Schäden ursächlich geworden ist, erfolgt auf der Grundlage des vom Senat eingeholten mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. K.. Dieser verfügt über eine langjährige Erfahrung als Facharzt für Innere Medizin, er war ca. 40 Jahre lang als Krankenhausarzt tätig, davon zuletzt 22 Jahre als Chefarzt der Inneren Abteilung des Diakonissenkrankenhauses Flensburg. Er hat die gesamten Behandlungsunterlagen vorab eingehend geprüft und ausgewertet und insoweit seine Aussage nach sorgfältiger Überprüfung der konkreten Situation und nach gewissenhafter Abwägung aller Umstände getroffen. Seine Ausführungen sind deshalb eine nachvollziehbare und zuverlässige Grundlage für die Überzeugungsbildung des Senats.

1. Eine Haftung des Beklagten als Krankenhausträger gem. §§ 823, 831, 847 BGB a. F. bzw. aus positiver Forderungsverletzung des Behandlungsvertrages gem. §§ 611, 278 BGB setzt voraus, dass der Unfall des Klägers auf ein objektives Fehlverhalten der behandelnden Ärzte oder des Pflegepersonals zurückzuführen ist. Dieser Nachweis ist dem Kläger nicht gelungen.

Es handelt sich hier nicht um den Fall des sogenannten "vollbeherrschbaren Risikos" mit der Folge einer Beweislastumkehr zulasten der Behandlungsseite. Der Kläger ist zwar hier im Organisationsbereich des Beklagten (d. h. im Krankenhaus Itzehoe) zu Schaden gekommen, der eigentliche Grund für eine Beweislastumkehr in Fällen des "voll beherrschbaren Risikobereichs" liegt jedoch darin, dass es sich um Maßnahmen handeln muss, bei denen auch diejenigen Risikofaktoren, die sich etwa aus der körperlichen Konstitution des Patienten ergeben, regelmäßig vom Arzt eingeplant und voll umfänglich ausgeschaltet werden können (vgl. Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Rdnr 143). Hier kommen jedoch auch Risikofaktoren in Betracht, die dem unmittelbaren Einwirkungsbereich des ärztlichen und pflegerischen Personals entzogen waren. Wenn nicht sicher ist, dass die Schadensursache aus dem Gefahrenkreis des verantwortlichen Schuldners hervorgegangen ist, und wenn auch der Verantwortungsbereich des Gläubigers in Betracht kommt, greift die Entlastungspflicht nicht ein (vgl. Urteil SchlHOLG vom 27.09.2001, Az. 11 U 142/00). Im Unterschied zu dem Schaden bei einer pflegerischen Transportmaßnahme (vgl. BGH NJW 1991, 5040 ff.: dort handelte es sich um einen 73 Jahre alten, halbseitig gelähmten Patienten, der auf seiner Station zu Fall kam, als ihn die Krankenschwester vom Nachtstuhl heben und auf die Bettkante setzten wollte) befand sich der Kläger hier nicht in dem unmittelbaren Einwirkungsbereich des Pflegepersonals, vielmehr hielt er sich allein in seinem Zimmer auf. Dass jemand nachts im Schlaf aus dem Bett fällt, kann grundsätzlich auch allgemeines Lebensrisiko sein, das von einem Krankenhausträger mit dem angestellten Personal nicht voll beherrschbar ist.

2. Ohne die entsprechende Einwilligung des Patienten und ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Eigen- bzw. Fremdgefährdung verbietet sich grundsätzlich die präventive Anordnung von Sicherungsmaßnahmen (z. B. durch mechanische Vorrichtungen wie Bettgitter, Fixierung oder Medikamente). Die körperliche Bewegungs- und Entschließungsfreiheit ist verfassungsrechtlich geschützt (Art. 2 GG), sodass entsprechende Sicherungsmaßnahmen nur dann zulässig sind, wenn sie zum Wohl des Patienten erforderlich sind und nicht durch andere pflegerische Maßnahmen verhindert werden können und wenn eine entsprechende vormundschafts-gerichtliche Genehmigung gem. § 1906 Abs. 4 BGB (für den Fall fehlender Einwilligung bzw. Einwillgungsfähigkeit des Patienten) vorliegt.

3. Ein Behandlungsfehler der Ärzte bzw. des Pflegepersonals liegt nicht vor. Die Mitarbeiter des Beklagten waren nicht verpflichtet, vor dem Vorfall im Hinblick auf die erkennbaren Krankheitssymptome bzw. die Medikation vorbeugend Sicherungsmaßnahmen gegen ein Herausfallen aus dem Krankenhausbett anzuordnen. Der Sachverständige Prof. Dr. K. hat dazu ausgeführt, dass in der medizinischen Praxis entsprechende Sicherungsmaßnahmen grundsätzlich nur dann angeordnet würden, wenn sich der Patient uneinsichtig zeigt und Anhaltspunkte für Bettflüchtigkeit bzw. der Gefahr einer Selbstverletzung bestehen.

Solche Anhaltspunkte waren hier weder bei der Aufnahme des Klägers noch in der Folgezeit bis zu dem Vorfall in der Nacht vom 13. auf den 14.04.2000 gegeben. Die Zeugen Dr. P. und Dr. L. haben übereinstimmend bekundet, dass sie die klägerischen Behauptungen hinsichtlich der Angabe kriegsbedingter schwerer Kopf- und Hirnverletzungen (Granatsplitterverwundung der rechten Schädelhälfte mit dadurch bedingten Krampfanfällen) sowie einer anerkannten Schwerbehinderung zu 70 % anlässlich der anamnestischen Untersuchung nicht mehr erinnern würden, anderenfalls - so der Zeuge Dr. L. - wäre dies mit Sicherheit dokumentiert worden. Dokumentiert ist lediglich eine "Verwundung der linken Niere im Jahre 1942". Auch die Zeugin Dr. T., die als Ärztin vom Dienst (= AvD) den Kläger unmittelbar nach dem Vorfall am frühen Morgen des 14.04.2000 untersucht hat, konnte sich ebenfalls an einen möglicherweise vorhandenen Verwirrtheitszustand bei dem Kläger nicht mehr erinnern, anderenfalls hätte sie dies ebenfalls dokumentiert.

Soweit der Zeuge Dr. P. in seinem internen Bericht vom 12.07.2000 von einen "zunächst bestandenen Verwirrtheitszustand" spricht, handelt es sich - wie er im Termin vor dem Senat am 21.05.2003 klargestellt hat - lediglich um eine Schlussfolgerung im Hinblick auf die Eindrücke während des gesamten stationären Aufenthalts. Unmittelbar nach dem Unfall wurden nämlich Bettgitter angebracht, trotzdem war der Kläger - wie sich aus der Pflegedokumentation ergibt - über das Gitter aus dem Bett geklettert und teilweise im Zimmer umher geirrt.

Soweit die behandelnden Ärzte Dr. L. und Dr. P. bei der Aufnahme des Klägers eine "auffällige psychomotorische Unruhe" festgestellt haben, kann dies - nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. - verschiedene Ursachen haben und muss nicht zwangsläufig auf einen neurologisch krankhaften Verwirrtheitszustand hindeuten. Eine psychomotorische Unruhe könne auch eine natürliche Folge des Alters, einer beginnenden Hyperthyreose (= Überfunktion der Schilddrüse), einer Fiebererkrankung oder auch einer Parkinsonerkrankung sein. In diesem Zusammenhang wies der Sachverständige insbesondere auf das Untersuchungsergebnis des durch den Zeugen Dr. L. konsiliarisch hinzugezogenen Neurologen Dr. S. vom 13.04.2000 (Bl. 15 GA) hin. Aufgrund des festgestellten Tremors und eines gewissen Regors deutete sich ein diskretes Parkinsonsyndrom neben einer möglicherweise beginnenden Hyperthyreose an. Ein geistiger Verwirrtheitszustand wurde von dem Neurologen Dr. S. jedoch gerade nicht festgestellt.

Auch die verordnete Medikation bot - nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. - keine Anhaltspunkte dafür, wegen Gefahr einer möglicherweise medikamentös gesteigerten psychomotorischen Unruhe vorbeugende Sicherungsmaßnahmen gegen das Herausfallen aus dem Bett anzuordnen. Bereits vor der stationären Aufnahme nahm der Kläger - im Hinblick auf seine eigenen Angaben bei der Anamnese - regelmäßig "Rheumatee und Schlaftabletten (Noctamid)" ein. Die von den Ärzten des Beklagten verordnete Medikation war nicht geeignet, eine Steigerung der vorhandenen Unruhe hervorzurufen. Neben fiebersenkenden Mitteln handelte es sich um Schlaf- bzw. Beruhigungsmittel (Benzodiazepinderivate), die - nach den Feststellungen des Sachverständigen - alle der gleichen Medikamentengruppe des von dem Kläger bereits vor Beginn der stationären Behandlung eingenommenen Präparats Noctamid angehören. Selbst der konsiliarisch hinzugezogene Neurologe Dr. S. hat "bei Bedarf" die Behandlung mit Benzodiazepinderivaten empfohlen.

Auch hinsichtlich der Pflege und Überwachung des Klägers auf der Station (Gruppe 28) ist der medizinische Standard eingehalten. Nach den Bekundungen des Zeugen Dr. L. ist eine Nachtschwester für vier Stationen mit jeweils durchschnittlich 15 bis 20 Betten zuständig. Aus der Pflegedokumentation der Zeugin Jana G. in Verbindung mit ihren Bekundungen im Termin vom 21.03.2002 ist ersichtlich, dass sie als zuständige Nachtschwester vor dem Unfall insgesamt drei Rundgänge (einen gleich nach Schichtbeginn und zwei weitere in der Folgezeit) gemacht hatte und ihr dabei nichts besonderes aufgefallen war. Aus der Dokumentation ergibt sich, dass der Kläger offensichtlich um drei Uhr morgens noch geschlafen hatte. Beim Eintreffen der Zeugin G. gegen 05.30 Uhr lag der Kläger wieder im Bett. Anhaltspunkte dafür, dass in der entsprechenden Nachtschicht noch eine weitere Krankenschwester tätig war und der Kläger beim Eintreffen dieser Schwester - wie er behauptet - noch auf dem Boden lag, haben sich nicht ergeben. Die Zeugin T. konnte sich an die Anwesenheit einer Lernschwester in der entsprechenden Nachtschicht nicht mehr erinnern. Die Zeugin G. hat bekundet, dass sie alleine - ohne Lernschwester - Nachtschicht gehabt habe und den Kläger selbst - nach vorherigem Klingeln - im Bett vorgefunden habe. Im Übrigen sind die entsprechenden Behauptungen des Klägers auch unerheblich, sodass der Senat eine erneute Vernehmung der Zeugin G. nicht mehr für erforderlich hielt.

Die Berufung hat nach alledem keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO.

Die Festsetzung der Beschwer beruht auf § 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen (§ 543 Abs. 2 ZPO). Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

Ende der Entscheidung

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