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Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 19.12.2002
Aktenzeichen: 7 U 163/01
Rechtsgebiete: BGB, ZPO
Vorschriften:
BGB § 823 Abs. 1 | |
BGB § 847 | |
ZPO § 287 |
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes müssen im Rahmen der Billigkeit die psychische Veranlagung des Geschädigten und die auf ihr ruhenden Risiken Berücksichtigung finden.
Tatbestand:
Der Kläger, der bei einem Verkehrsunfall als Primärverletzung eine Schädelprellung und eine HWS-Distorsion erlitten hat, leidet über Jahre bis heute an einem somatoformen Schmerzzustand. Das Landgericht hat die Schmerzensgeldklage aufgrund einer Begehrensneurose abgewiesen. Die Berufung des Klägers führte zur Zuerkennung eines Schmerzensgeldes, weil (nur) eine Konversionsneurose vorliegt, wobei bei der Bemessung des Schmerzensgeldes die psychische Veranlagung des Klägers Berücksichtigung fand.
Gründe:
Es wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen. Der Senat hat zu den Beschwerden und Beeinträchtigungen des Klägers ein schriftliches Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Dr. med. T eingeholt und den Sachverständigen angehört; wegen des Ergebnisses wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 28. Juni 2002 und des Berichterstattervermerks vom 28. November 2002, auch im Hinblick auf die Anhörung des Klägers, Bezug genommen.
Dem Kläger steht ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000,00 DM zu, mithin weitere 13.000,00 DM über außergerichtlich gezahlte 7.000,00 DM hinaus.
Der Verkehrsunfall vom 05. Juni 1998 ist ursächlich für die vom Kläger noch heute geklagten Schmerzen, Beschwerden und Beeinträchtigungen. Das hat die vom Senat durchgeführte Beweisaufnahme, insbesondere mit der Anhörung des Klägers und des Sachverständigen Dr. med. T, ergeben.
Zwar hat der Sachverständige eine posttraumatische Anpassungsstörung nicht als persistierend, sondern nur für sechs Monate festmachen können; er hat aber einen somatoformen Schmerzzustand auch heute noch andauernd festgestellt. Soweit er in seinen schriftlichen Gutachten eine Begehrensneurose angenommen hat, hat er das bei seiner Anhörung vor dem Senat relativiert: "Zum Hinweis des Berichterstatters, dass bei einer Konversionsneurose die Kompensation nicht in direkter Arbeitsverweigerung bestehe, der Geschädigte stattdessen den ihm zugefügten Schmerz in somatische Beschwerden konvertiere, die dann ihrerseits seine Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen, dass bei der Konversionsneurose in Parallele zur Rentenneurose das Unfallgeschehen unbewusst zum Anlass für die Kompensation latenter innerer Konflikte genommen werde: Dem kann ich folgen."
Das deckt sich damit, dass der Kläger bis heute nicht aus dem Arbeitsleben ausgeschieden, vielmehr trotz seiner Beschwerden und Beeinträchtigungen weiterhin als Elektriker in tätig ist; er hat insoweit spontan auf die Ausführungen des Sachverständigen vor dem Senat reagiert: "Was soll ich denn anders machen, soll ich denn nicht weiter arbeiten, soll ich zu Hause bleiben?"
Dass der Sachverständige im Hinblick auf eine Konversionsneurose klinisch-diagnostische Befunde vermisst ("Ich muss noch einmal darauf hinweisen, dass beim Kläger kein entsprechender Befund ist; wir haben insoweit nur die subjektive Äußerung von Beschwerden"), hindert den Senat nicht, im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsbetrachtung nach § 287 ZPO die glaubhaften Angaben des Klägers zugrunde zu legen, zumal der Sachverständige auch ausgeführt hat, dass er glaube, dass der Kläger die geschilderten Beschwerden im Verlauf der Zeit empfinde. Gegen die Annahme einer reinen Begehrensneurose (dass Begehrensvorstellungen so sehr im Vordergrund stehen, dass eine Kausalitätszurechnung nicht in Betracht kommt) spricht zudem, dass sich der Anknüpfungspunkt des Sachverständigen (Streit des Klägers mit dem Bruder, Stichwort: Hoferbe) im gesamten Leben des Klägers nirgendwo manifestiert hat. Das Begehren mag mit ein Motor sein, es ist aber ein Begehren, das gewachsen ist, das schon in der Kindheit angelegt worden ist. Das deckt sich mit neueren psychologischen Erkenntnissen, wonach das Begehren zwar ein Symptom, nicht aber der wesentliche oder allein ausschlaggebende Faktor ist, und bei derartigem psychischem Fehlverhalten die Persönlichkeitsstruktur des Geschädigten sowie Fehlverarbeitungen oder erhebliche Belastungen im persönlichen Bereich, die durch ein Unfallereignis zum Ausbruch gelangen können, eine wesentliche Rolle spielen.
Dass nach dem Sachverständigen die gleichen Beschwerden beim Kläger auch ohne den Unfall, durch alltägliche Erlebnisse, irgendwann ausgelöst worden wären, ändert nichts an der Kausalitätszurechnung; dass es tatsächlich ohne den Verkehrsunfall zu den gleichen Beschwerden gekommen wäre, ist und bleibt mithin eine Frage der Reserveursache, für die die Beklagten mangels gesicherter Feststellungen beweisfällig geblieben sind.
Bei der Bemessung des dem Kläger mithin zuzusprechenden Schmerzengeldbetrages muss aber im Rahmen der Billigkeit seine psychische Veranlagung und die auf ihr ruhenden Risiken Berücksichtigung finden (BGH NJW 1998, 810, 811). Bei Abwägung mit den nicht unerheblichen Schmerzen, Beschwerden und Beeinträchtigungen des Klägers, die er bei seiner Anhörung vor dem Senat glaubhaft geschildert hat, ist ein Schmerzensgeldbetrag in Höhe von insgesamt 20.000,00 DM angemessen.
Dass es sich nicht um einen Unfall mit ganz geringfügigen Verletzungsfolgen handelt, auf den die psychische Reaktion des Klägers in einem groben Missverhältnis zum Anlass stünde und nicht mehr verständlich wäre, bedarf keiner weiteren Worte, schon weil der Kläger als Primärverletzung eine Schädelprellung und eine HWS-Distorsion erlitten hat (vgl. BGH a. a. O.).
Die Feststellungsanträge des Klägers sind begründet, weil Zukunftsschäden nicht auszuschließen sind; der Senat weist aber daraufhin, dass mit dem zuerkannten Schmerzensgeldbetrag auch alle künftigen Schmerzen, Beschwerden und Beeinträchtigungen, so wie sie der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Senat geschildert hat, auch mit einer fehlenden Besserungstendenz, abgegolten sind (zu der Schilderung des Klägers siehe den Inhalt des Berichterstattervermerks vom 28. November 2002).
Mit dem Feststellungsausspruch zur Ersatzpflicht der Beklagten für künftige immaterielle Schäden sind mithin nur solche erfasst, die bei dem jetzigen Beschwerdebild des Klägers nicht voraussehbar sind.
Zinsen seit Rechtshängigkeit sind nur in Höhe von 4 % zuzusprechen, weil die Ansprüche des Klägers mit dem Verkehrsunfall vom 05. Juni 1998 vor dem 01. Mai 2000 fällig geworden sind; die Neuregelung des § 288 Absatz 1 BGB gilt nach dem Einführungsgesetz für alle Geldschulden, die seit dem 01. Mai 2000 fällig geworden sind, für die am 01. Mai 2000 bereits fälligen Forderungen bleibt es beim Zinssatz von 4 %.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat bzw. die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert (§ 543 Absatz 2 ZPO).
Ende der Entscheidung
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