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Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 10.10.2002
Aktenzeichen: 7 U 82/01
Rechtsgebiete: BGB
Vorschriften:
BGB § 823 Abs. 1 | |
BGB § 852 Abs. 1 (a. F.) |
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Im Namen des Volke Urteil
Verkündet am: 10. Oktober 2002
In dem Rechtsstreit
hat der 7. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 19. September 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten zu 2) wird das am 26. April 2001 verkündete Urteil des Einzelrichters der 6. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck teilweise geändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin 57.738,23 ? (=112.926,17 DM) nebst 4 % Jahreszinsen seit dem 11. April 1999 zu zahlen.
Die Klage gegen den Beklagten zu 2) wird abgewiesen.
Die Gerichtskosten des ersten Rechtszugs tragen die Klägerin und der Beklagte zu 1) je zur Hälfte.
Von den außergerichtlichen Kosten des ersten Rechtszugs trägt die Klägerin die des Beklagten zu 2) voll und ihre eigenen zur Hälfte, der Beklagte zu 1) seine eigenen voll und die der Klägerin zur Hälfte.
Die Kosten des Berufungsrechtszugs trägt die Klägerin.
Das Urteil gegen den Beklagten zu 1) ist gegen Sicherheitsleistung der Klägerin in Höhe von 68.001,82 ? (=133.000,00 DM) vorläufig vollstreckbar.
Im übrigen ist das Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zu 2) vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt von den Beklagten Ersatz von Heilbehandlungskosten für ihre Versicherungsnehmerin aus übergegangenem Recht ; die Heilbehandlung erfolgte in der Zeit vom 15. November 1993 bis zum 01. August 1994.
Der Beklagte zu 2) betrieb eine Reiterpension. In der Zeit vom 17. Juli bis zum 16. Oktober 1993 verbrachte die Versicherungsnehmerin der Klägerin, D, einen Teil der Sommer- und Herbstferien auf dem Reiterhof. Anlässlich ihrer Aufenthalte kam es zu sexuellen Übergriffen des Beklagten zu 2). Am 15. November 1993 erstattete D Anzeige bei der Kriminalpolizei R. Am 22. Februar 1994 nahm die Klägerin Einsicht in die Ermittlungsakte, die zu diesem Zeitpunkt die Aussagen der D, J (Freundin), A (Mutter) und den Haftbefehl gegen den Beklagten zu 2) vom 19. November 1993 enthielt.
Auf eine erneute Aktenanforderung der Klägerin vom 16. August 1994 teilte die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Lübeck mit, dass die Akten wegen eingelegter Revision vorläufig nicht entbehrlich seien. Auf eine weitere Aktenanforderung der Klägerin vom 25. Oktober 1994 erfolgte keine Antwort. Auf eine erneute Anforderung vom 25. April 1996 erhielt die Klägerin am 28. Mai 1996 Akteneinsicht, nachdem zwischenzeitlich am 08. August 1994 das Urteil der Großen Strafkammer, Jugendkammer, des Landgerichts Lübeck ergangen war (Verurteilung des Beklagten zu 2) wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen) und am 27. Januar 1995 der Bundesgerichtshof die Revision des Beklagten zu 2) als unbegründet verworfen hatte.
Die Klägerin hat am 08. April 1999 die Schadensersatzklage beim Landgericht eingereicht, die am 28. April 1999 dem Beklagten zu 2) zugestellt worden ist. Im Rahmen des Rechtsstreits hat der Beklagte zu 2) seinen Verursachungsbeitrag mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2000 unstreitig gestellt.
Die Klägerin hat behauptet, dass bei ihrer Versicherungsnehmerin seit Ende 1993 schwere psychische Schäden diagnostiziert worden seien, so dass eine stationäre psychiatrische Heilbehandlung erforderlich geworden sei.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie 112.926,17 DM zu zahlen,
den Beklagten zu 1) zu verurteilen, an sie 4 % Jahreszinsen seit dem 11. April 1999 bis zur Zustellung der Klage an den Beklagten zu 2) zu zahlen,
die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie 4 % Jahreszinsen auf die Klageforderung ab Zustellung der Klage an den Beklagten zu 2) zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte zu 2) hat die Einrede der Verjährung erhoben und behauptet, dass die psychischen Schäden der Versicherungsnehmerin allein auf von dem Beklagten zu 1) begangene Taten zurückzuführen seien.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben: Der Klägerin stehe ein auf sie übergegangener Schadensersatzanspruch zu, weil die Beklagten für die Schäden der Versicherungsnehmerin nebeneinander verantwortlich seien; die erhobene Einrede der Verjährung greife nicht, weil die Klägerin die gemäß § 852 Abs. 1 BGB erforderliche Kenntnis vom Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen erst durch die Akteneinsicht am 28. Mai 1996 nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens erlangt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils einschließlich der darin enthaltenen Verweisungen Bezug genommen.
Mit seiner Berufung gegen das Urteil meint der Beklagte zu 2) weiterhin, dass die Forderung der Klägerin verjährt sei; sie habe schon bei der ersten Akteneinsicht im Februar 1994 Kenntnis vom Haftbefehl und der Aussage der Versicherungsnehmerin erhalten, so dass es ihr, der Klägerin, zumutbar gewesen sei, eine Schadensersatzklage zu erheben; es komme nicht darauf an, ob der Anspruchsgegner seine Verantwortlichkeit bestreite.
Der Beklagte zu 2) beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zu 2) zurückzuweisen.
Sie meint, dass nach ihrer ersten Akteneinsicht eine Schadensersatzklage noch nicht hinreichend erfolgversprechend gewesen sei, weil nur die bloße Aussage der unmittelbar Betroffenen vorgelegen habe, die für die Staatsanwaltschaft Anlass zur Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens zur Glaubhaftigkeit der Aussage gewesen sei; es sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Wahrheitsgehalt durch ein problematisches persönliches Umfeld beeinträchtigt sein konnte, des gleichen auch von Rachegedanken gegenüber dem angeblichen "Täter", dem man etwas "anhängen will"; gerade bei Sexualdelikten und kindlichen Zeugen könne sich deren sexuelle Fantasie im Rahmen einer Sachverhaltsschilderung zu Lasten des Wahrheitsgehalts auswirken. Die rechtsstaatlich gebotene Unschuldsvermutung werde erst mit einer rechtskräftigen Verurteilung hinfällig; zuvor bestehe keine Obliegenheit des Geschädigten, sich durch eigene Nachforschungen über die anspruchsbegründenden Tatsachen Gewissheit zu verschaffen, auch nicht durch weitere Einsichtnahme in die Ermittlungsakten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Berufungsrechtszug wird auf die Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Beklagten zu 2) ist begründet; der auf die Klägerin übergegangene Schadensersatzanspruch ist verjährt.
Gemäß § 852 Abs. 1 BGB (a.F.) beginnt die Verjährungsfrist für deliktische Ansprüche in dem Zeitpunkt, in dem der Geschädigte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt. Diese Kenntnis ist anzunehmen, wenn der Geschädigte aufgrund der ihm bekannten Tatsachen in der Lage ist, gegen eine bestimmte Person, und sei es auch nur in Form der Feststellungsklage, eine erfolgversprechende, wenn auch nicht risikolose, Schadensersatzklage zu erheben (BGH NJW 1994, 3093). Weil die Klägerin einen Anspruch aus einem gesetzlichen Forderungsübergang nach § 116 SGB X geltend macht, ist auf ihre Kenntnis und nicht auf die der Geschädigten abzustellen (BGH NJW 1996, 2508).
Bei strafrechtlichen Ermittlungen besteht die hinreichende Erfolgsaussicht einer Schadensersatzklage grundsätzlich erst nach Abschluss der Ermittlungen, also mit hinreichendem Tatverdacht (BGH VersR 1983, 273); bei Kenntnis von einem ergangenen Haftbefehl, der lediglich einen dringenden Tatverdacht belegt, müssen neben dem Haftbefehl weitere Erkenntnisquellen in Bezug auf die Schädigungshandlung vorliegen (BGH WM 1991, 2135).
Die Klägerin hatte mit der Einsicht in die Ermittlungsakten am 22. Februar 1994 Kenntnis von dem am 19. November 1993 ergangenen Haftbefehl und den zugrunde liegenden Aussagen; sie wusste weiterhin, dass die Staatsanwaltschaft am 10. Dezember 1993 ein psychologisches Sachverständigengutachten zur Einschätzung des Wahrheitsgehaltes der Aussage der Geschädigten in Auftrag gegeben hatte. Damit lagen gerade keine weiteren Erkenntnisquellen in Bezug auf die Schädigungshandlung vor; vielmehr musste die Klägerin berücksichtigen, dass im Rahmen von Sexualdelikten der Wahrheitsgehalt der Aussage einer Betroffenen, insbesondere einer 13jährigen, durch ein persönliches Umfeld oder durch Rachegedanken gegenüber dem angeblichen Täter beeinträchtigt sein kann. Zum Zeitpunkt der Akteneinsicht am 22. Februar 1994 war mithin eine Einschätzung des Wahrheitsgehaltes der Aussage der Geschädigten, mithin die Einschätzung einer Tat, nicht möglich.
§ 852 Abs. 1 BGB (a.F.) setzt für den Beginn der Verjährung positive Kenntnis des Geschädigten voraus, gleichzusetzen ist dem aber der Fall, dass der Geschädigte es versäumt, eine gewissermaßen auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit wahrzunehmen (BGH NJW 1994, 3093). Die Klägerin hat bei der weiteren Aktenanforderung vom 16. August 1994 die Mitteilung erhalten, dass die Akten vorläufig nicht entbehrlich seien, weil Revision eingelegt worden sei. Hätte sie bei der Staatsanwaltschaft nachgefragt, wer Revision eingelegt habe, hätte sie erfahren, dass Revisionsführer der Beklagte zu 2) war, der vom Landgericht Lübeck am 08. August 1994 als Täter verurteilt worden war. Die Klägerin hätte mithin ohne besonderen Aufwand durch einfaches Sicherkundigen Kenntnis von der strafrechtlichen Verurteilung erlangen können; auch wenn der Beklagte zu 2) seine Täterschaft weiterhin leugnete, bestand hinreichender Tatverdacht in einem Umfang, dass die Klägerin in der Lage war, gegen ihn eine erfolgversprechende, wenn auch nicht risikolose, Schadensersatzklage zu erheben.
Auch wenn die Gleichstellung eines "sich grob fahrlässigen Verschließens vor einer Kenntnis" mit der nach § 852 Abs. 1 BGB (a.F.) geforderten "positiven Kenntnis" nur in Ausnahmefällen zulässig sein kann, sieht der Senat keinen Widerspruch zu der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (WM 1990, 642), nach der der Kläger nicht verpflichtet war, den Strafprozess mit Blick darauf zu verfolgen, nach dessen rechtskräftigem Abschluss alsbald die für eine Schadensersatzklage erforderlichen Informationen zu erhalten; um eine solche Verpflichtung ging es bei der Klägerin nicht; sie hatte vielmehr mit ihrer Aktenanforderung vom 16. August 1994 die Kenntnis erhalten, dass Revision eingelegt worden war, dass mithin ein Urteil im Strafverfahren ergangen war, das bei der Verurteilung des Beklagten (was durch einfache Nachfrage zu erfahren gewesen wäre) eine erfolgversprechende Schadensersatzklage begründete.
Weil die Fortbildung des Rechts bzw. die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (gerade im Hinblick auf die oben genannte Entscheidung des Bundesgerichtshofs und die abweichende Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm, NJW-RR 1994, 866; vgl. aber auch OLG München, VersR 2000, 505) eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs erfordert, ist die Revision gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 2. ZPO zuzulassen.
Ende der Entscheidung
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