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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil verkündet am 09.04.2002
Aktenzeichen: 1 (14) 84/01
Rechtsgebiete: ZPO, BGB
Vorschriften:
ZPO § 97 Abs. 1 | |
ZPO § 543 Abs. 1 | |
ZPO § 708 Nr. 10 | |
ZPO § 711 | |
ZPO § 713 | |
BGB § 249 | |
BGB § 823 Abs. 1 | |
BGB § 847 Abs. 1 |
2. Einen Patienten, der einem ärztlichen Rat folgt, trifft nur dann ein Mitverschulden, wenn sich die Unvollständigkeit der Beratung schon jedem medizinischen Laien hätte aufdrängen oder wegen eines weitergehenden persönlichen Wissensvorsprunges hätte klar sein müssen. Von einem solchen persönlichen Wissensvorsprung kann bei einer Tierärztin gegenüber einem Facharzt für Chirurgie nicht ausgegangen werden.
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Zivilsenat - Im Namen des Volkes Urteil
Geschäftsnummer: 1 (14) 84/01
Verkündet am: 09.04.2002
In Sachen
hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 19.03.2002 unter Mitwirkung
der Vors. Richterin am OLG des Richters am OLG des Richters am OLG
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Rottweil vom 4. Oktober 2001 (2 U 17/2001) wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 6.227,50 EUR
Tatbestand:
Die Klägerin, eine Tierärztin, erlitt am 29.10.1997 durch ein Glas eine Schnittverletzung am Grundgelenk des Mittelfingers der linken Hand. Sie suchte am 30.10.1997 die Praxis des Beklagten auf, um die Verletzung versorgen zu lassen. Der Urlaubsvertreter des Beklagten revidierte die Wunde und fand in der Tiefe keine verbliebenen Glassplitter. Die Sehnenscheide fand er unverletzt. Am 13.11.1997 stellte sich die Klägerin beim Beklagten vor, weil sie nach wie vor Schmerzen hatte. Der Beklagte stellte eine Schwellung und eine Einschränkung der Beweglichkeit des verletzten Mittelfingers fest. Er überprüfte die oberflächliche wie auch die tiefe Beugesehne und kam zu dem Ergebnis, dass die Funktion beider Sehnen intakt war. Er verordnete der Klägerin ein Schmerzmittel und ein Medikament gegen die Schwellung und empfahl leichte gymnastische Übungen.
Am 24.01.19998 erlitt die Klägerin beim Zupacken einen heftigen Schmerz in der Hand. Bei der erneuten ärztlichen Untersuchung am 26.01.1998 stellte der Beklagte fest, dass die tiefe Beugesehne gerissen war. Die Tenodese des Endgelenks am 23.02.1998 führte zwar zu einer Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit im Mittelgelenk, die Gesamtbeweglichkeit der Finger war nicht mehr herzustellen. Die Klägerin ist der Auffassung, der Beklagte habe am 13.11.1997 eine falsche Diagnose gestellt. Wegen der Verdickung des Fingers seien weitere Untersuchungen angezeigt gewesen. Die Verletzung einer tiefen Beugesehne habe sich dem Beklagten aufdrängen müssen. Bei zeitnaher Durchführung einer Sehnennaht hätten die späteren Bewegungseinschränkungen vermieden werden können.
Der Beklagte hat vorgetragen, am 13.11.1997 habe keine Verletzung der Sehne vorgelegen, jedenfalls sei sie nicht erkennbar gewesen. Auch eine sofortige operative Maßnahme hätte zu keinem besseren Ergebnis geführt. Jedenfalls treffe die Klägerin ein erhebliches Mitverschulden.
Das Landgericht hat den Beklagten zur Zahlung von 10.679,94 DM (10.000 DM Schmerzensgeld und 679,94 DM materieller Schaden) verurteilt und die Ersatzpflicht des Klägers für aus der Behandlung vom 13.11.1997 resultierende weitere materielle und immaterielle Schäden festgestellt.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Landgericht hat den Beklagten mit zutreffenden Erwägungen, denen sich der Senat in vollem Umfang anschließt, zum Ersatz materieller und immaterieller Schäden auf der Grundlage des Rechtsinstituts der positiven Forderungsverletzung sowie der §§ 823 Abs. 1, 249, 847 Abs. 1 BGB verurteilt und den gestellten Feststellungsantrag für zulässig und begründet erachtet.
Auch ein Mitverschulden der Klägerin hat das Landgericht im angefochtenen Urteil zu Recht verneint.
Der Senat schließt sich nach erneuter Durchführung der Beweisaufnahme im Berufungsverfahren insbesondere auch den Ausführungen des Landgerichts zur Annahme eines groben Behandlungsfehlers des Beklagten an.
Die vom Senat wiederholte und ergänzte Beweisaufnahme gibt lediglich zu folgenden weiteren Anmerkungen Anlass:
I.
Der Sachverständige Dr. M hat im Rahmen der mündlichen Erläuterung seiner Gutachten im erstinstanzlichen Verfahren für den Senat überzeugend dargelegt, dass sich dem Beklagten am 13.11.1997 schon deshalb der Verdacht auf eine evtl. Sehnenverletzung aufdrängen musste, weil bei einfachen Schnittverletzungen nach 14 Tagen eine vollständige Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des betroffenen Fingers zu erwarten war und eine Schwellung mit Bewegungseinschränkung deshalb auffallen musste. Diesem Verdacht musste der Beklagte wenigstens dadurch nachgehen, dass er die Klägerin auf einen erneuten Untersuchungstermin nach ca. einer Woche wieder einbestellte. Bei der Kontrolle hätte sich, wie der weitere Verlauf gezeigt hat, eine Persistenz der Beschwerden der Klägerin gezeigt, die zwangsläufig eine Nachoperation hätte nach sich ziehen müssen. Auch die vom Beklagten dokumentierten "Verklebungen" hätten den beschriebenen Verdacht nähren müssen, weil solche Erscheinungen nur möglich sind, wenn auch das Sehnengleitlager beeinträchtigt war. Diese Möglichkeit wiederum war schon deshalb nicht von vornherein von der Hand zu weisen, weil Dr. B am 29.10.1997 bei der Erstversorgung der Klägerin ausweislich seines Operationsberichtes die Sehnenscheide frei liegen gesehen hatte, die Verletzung also tief war, er keine Lupe benutzt hatte und auch nicht die Wunde in Blutleere eröffnet hatte. Diese Umstände müssen nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen einen erfahrenen Operateur an die Möglichkeit denken lassen, dass eine schwerere Verletzung, insbesondere auch eine Verletzung des Sehnengleitlagers übersehen wurde, was leicht geschehen kann. Statt einer Wiedereinbestellung für einen Termin nach einem Zeitablauf von ungefähr einer Woche hätte der Beklagte die Klägerin auch sogleich am 13.11.1997 allein wegen des Beschwerdebildes an einen Handchirurgen überweisen oder aber ein Kernspintomogramm erstellen lassen können, Maßnahmen, die ebenso eine frühere operative Versorgung zur Konsequenz gehabt hätten.
Dr. M hat es auf wiederholte Nachfrage als eindeutig bezeichnet, dass schon am 13.11.1997 eine Teilsehnenverletzung vorlag, die bei den beschriebenen gebotenen weiteren Maßnahmen erkannt worden wäre und Anlass zu einer Nachoperation gegeben hätte. Die Heilungsaussichten hat er als selbstverständlich gut bezeichnet.
Dass die vom Beklagten selbst am 13.11.1997 erkannten Verklebungen nicht Folge einer Ernährungsstörung, wie vom Beklagten nachhaltig behauptet, sondern nur Folge einer Beeinträchtigung des Sehnengleitlagers sein konnten, hat Dr. M anschaulich und überzeugend damit belegt, dass die gesamte Sehnenregion ohnehin gut durchblutet ist und es bei der fraglichen Verletzungsart deshalb nicht zu solcherart Ernährungsstörungen kommen kann, aus der eine Sehnenruptur wie bei der Klägerin entsteht.
Dass der Beklagte am 13.11.1997 keinerlei Kontrolle des regelwidrigen Zustandes sicherstellte, nämlich weder die Erstellung eines Kernspintomogrammes veranlasste, noch sogleich die Wunde operativ revidierte, noch die Klägerin zu einem Handchirurgen überwies und sie auch nicht zur Kontrolluntersuchung wiedereinbestellte, hat Dr. M bereits im Termin vom 23.08.01 vor dem Landgericht Rottweil als nicht verständlich und für ihn nicht mehr nachvollziehbar bezeichnet (Protokoll S. 2). Im Termin vor dem Senat hat der Sachverständige diese Beurteilung aufrechterhalten und diese noch mit der Bemerkung versehen, dass es ungünstig sei, "das Offensichtliche nicht zu sehen". Das Vorgehen des Beklagten kann demnach nicht anders als grob fehlerhaft qualifiziert werden.
Hinzu kommt, dass aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. M davon auszugehen ist, dass sich eine Wiedereinbestellung der Klägerin am 13.11.1997 erübrigt hätte, weil auch die von der Klägerin im Rechtsstreit und auch schon zuvor wiederholt beschriebene "Verdickung" in der rechten Hohlhand am 13.11.1997 vorlag. Hiervon ist der Senat aufgrund der glaubwürdigen Angaben des Zeugen K, die den entsprechenden Vortrag der Klägerin stützen, überzeugt. Der Zeuge K hat anschaulich beschrieben, dass die Klägerin ihm den sog. "Knubbel" in der rechten Hohlhand gezeigt habe und ihn diesen auch habe fühlen lassen. Er habe eine Schwellung an der beschriebenen Handinnenfläche gespürt. Der Zeuge umschrieb diese Erscheinung noch damit, dass sich da "etwas in der Hand bewegt habe, was nicht normal" gewesen sei. Dies müsse auch ziemlich am Anfang des Beschwerdeverlaufs gewesen sein. Damit korrespondieren die Angaben der Klägerin gegenüber Prof. Dr. Sch von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in T (vgl. Bl. 9 d. A., Bericht vom 04.02.1998), den sie am 02.02.1998 nach Riss der Sehne konsultierte. Prof. Dr. Sch hatte in dem aufgrund der Untersuchung vom 02.02.1998 erstellten Arztbrief ausgeführt, dass die Klägerin im weiteren Verlauf immer wieder eine Verdickung im Bereich der Beugesehnenscheide getastet habe. Der Senat sieht keinen Anhaltspunkt dafür, warum die Klägerin zu jenem Zeitpunkt der Wahrheit zuwider gegenüber unbeteiligten Ärzten ein Phänomen geschildert haben sollte, das nach den Erklärungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. M schlüssig zu einer verletzungsbedingten Beeinträchtigung des Sehnengleitlagers und einer damit verursachten Aufscheuerung der Beugesehne passt.
II.
Der Beklagte wirft der Klägerin zu Unrecht ein Mitverschulden vor.
Insbesondere ist die Haftung des Beklagten für ein grob fehlerhaftes Vorgehen nicht deshalb eingeschränkt, weil sich die Klägerin, selbst Tierärztin, trotz offensichtlich weiter bestehender Beschwerden nicht von sich aus nochmals an den Beklagten zum Zwecke einer weiteren Kontrolluntersuchung wandte. Ein Mitverschulden der Klägerin könnte mit Rücksicht auf den Wissens- und Informationsvorsprung des von ihr ja nicht ohne guten Grund als Facharzt für Chirurgie konsultierten Beklagten allenfalls dann bejaht werden, wenn sich die Unvollständigkeit der Beratung des Beklagten schon jedem medizinischen Laien hätte aufdrängen müssen oder aber der Klägerin wegen eines weitergehenden persönlichen Wissensvorsprunges hätte klar sein müssen (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., Rn. A 99 m.w.N.).
Der Beklagte hätte die Klägerin nach den Ausführungen des Sachverständigen wenigstens zur Kontrolluntersuchung kurzfristig wieder einbestellen müssen und hätte ihr unmissverständlich vor Augen führen müssen, dass die Unterlassung einer zeitnahen Kontrolle des auffälligen Zustandes ohne gegebenenfalls notwendige Versorgung die Gefahr einer Sehnenruptur heraufbeschwören konnte. Dies hat der Beklagte auch nach eigenem Vortrag nicht getan. Dass sich eine solche Gefahr jedem medizinischen Laien hätte aufdrängen müssen oder dass die Klägerin ein weitergehendes, offensichtlich über sein eigenes hinausgehendes persönliches Wissen hatte, behauptet der Beklagte selbst nicht.
III.
Im Hinblick auf die sich aus der Annahme eines groben Behandlungsfehlers ergebenden Beweiserleichterungen zu Gunsten der Klägerin und die daraus gezogenen Schlüsse auf den Haftungsgrund und die Haftungshöhe schließt sich der Senat ebenfalls in vollem Umfang den Ausführungen des Landgerichts im angefochtenen Urteil an und macht sich diese zu eigen. Die geltend gemachten materiellen Schäden sind vom Beklagten nicht bestritten. Das zugesprochene Schmerzensgeld bewegt sich angesichts dessen, dass die Klägerin in ihrem Beruf als Tierärztin täglich mit der eingeschränkten Funktionsfähigkeit des rechten Mittelfingers konfrontiert ist, durchaus im Bereich des Angemessenen.
IV.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Revisionsgerichts (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO n. F.).
V.
Der Schriftsatz des Beklagten vom 27.3.2002 gab keine Veranlassung zum Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung, weil die in diesem Schriftsatz nochmals angesprochenen Fragen bereits im Termin vom 19.3.2002 eingehend und erschöpfend, auch mit dem Sachverständigen, erörtert wurden.
Ende der Entscheidung
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