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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 14.08.2003
Aktenzeichen: 1 Ss 376/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 329 Abs. 1
Bestehen aufgrund lückenhafter ärztlicher Bescheinigungen Zweifel daran, ob das Ausbleiben des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung durch Erkrankung genügend entschuldigt ist, so dürfen diese bei der Anwendung von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht gegen den Angeklagten ausgelegt werden. Vielmehr muss der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer den Angeklagten durch den zuständigen Amtsarzt untersuchen lassen oder hilfsweise den Arzt, der die Bescheinigungen ausgestellt hat, unter Hinweis auf § 278 StGB telefonisch befragen.
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss

1 Ss 376/03 22 Js 3896/01 StA Ellwangen

In der Strafsache gegen

wegen Betruges

hat der 1. Strafsenat am 14. August 2003 auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 12. März 2003 mit den Feststellungen

aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Ellwangen

zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd verurteilte den Angeklagten am 10. Oktober 2002 wegen Betruges zu 8 Monaten Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung. Gegen dieses Urteil legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte rechtzeitig Berufung ein. Zur Berufungsverhandlung vom 12. März 2003, 14 Uhr vor dem Landgericht Ellwangen erschienen weder der Verteidiger noch der Angeklagte. Hierauf hat die Berufungsstrafkammer die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verworfen.

Zu den Prozesstatsachen stellt das Landgericht fest:

Nach ordnungsgemäßer Ladung zum Termin vom 12. März 2003, 14 Uhr teilte der Verteidiger dem Landgericht am 11. März 2003 mit einem um 17.39 Uhr eingegangenen Telefax mit, der Angeklagte könne den Termin aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen; ein ärztliches Attest werde nachgereicht. Mit Beschluss vom 12. März 2003, der dem Verteidiger um 8.34 Uhr durch Telefax übermittelt wurde, lehnte der Strafkammervorsitzende die beantragte Terminsverlegung mangels Glaubhaftmachung ab. Falls ein Attest nachgereicht werde, könne nur ein solches anerkannt werden, welches eindeutig eine Verhandlungs- und/oder Reiseunfähigkeit bescheinige, wobei die Gründe detailliert und nachprüfbar (Gesundheitsamt) anzugeben seien. Zugleich veranlasste der Strafkammervorsitzende, dass Beamte der zuständigen Polizeidienststelle den Angeklagten zur Überprüfung seines Vorbringens aufsuchen. Gegen 10.30 Uhr teilte der Verteidiger dem Vorsitzenden telefonisch mit, der Angeklagte liege mit 40° C Fieber im Bett. Gegen 11.15 Uhr informierten die beauftragen Polizeibeamten den Vorsitzenden dahin, der Angeklagte sei, als sie ihn in seiner Wohnung aufgesucht hätten, ganz normal gekleidet gewesen; er habe zwar eine Grippe mit 40° C Fieber vorgebracht und einen etwas kränklichen Eindruck gemacht, jedoch habe der äußere Eindruck nicht darauf hingedeutet, dass er reiseunfähig sei.

Mit einem um 12.49 Uhr eingegangenen Telefax hat der Verteidiger nach den Feststellungen eine für die Zeit vom 10. März bis zum 14. März 2003 ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des behandelnden Arztes übermittelt. In dem zugleich übersandten ärztlichen Attest wurde bescheinigt, dass der Angeklagte "auf Grund einer akuten Erkrankung die Reise vom 10.03.2003 bis 14.03.2003 nicht antreten konnte." Zugleich teilte der Verteidiger mit, das der Angeklagte an einer starken Infektionskrankheit mit starkem Fieber erkrankt sei.

II.

Die Revision des Angeklagten hat mit einer in zulässiger Weise erhobenen Verfahrensrüge Erfolg.

Im Rahmen der Prüfung der Verfahrensrüge hat der Senat als Revisionsgericht aufgrund der für ihn bindenden Feststellungen der Berufungsstrafkammer, die er im Wege des Freibeweises weder nachprüfen noch ergänzen darf (vgl. BGHSt 28, 384), zu prüfen, ob dem Tatrichter bei der Beurteilung der festgestellten prozessualen Tatsachen Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist hier der Fall. Die Berufungsstrafkammer hat den Begriff der genügenden Entschuldigung im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO verkannt und an dessen Voraussetzungen überhöhte Anforderungen gestellt.

Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. BayObLG NStZ-RR 1999, 143; OLG Köln VRS 65, 47; OLG Frankfurt NJW 1988, 2965) ist § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO, der eine Ausnahme vom Grundsatz der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung bestimmt, als Ausnahmevorschrift so auszulegen, dass er sich bei der Frage der genügenden Entschuldigung in Zweifelsfällen zu Gunsten des Angeklagten auswirkt (vgl. Ruß in KK, StPO, 5. Auflage, § 329 Rdn. 9; Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, § 349 Rdn. 22; Pfeiffer, StPO, 4. Auflage, § 329 Rdn. 6, jeweils m.w.N.). Den Angeklagten trifft hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes keine lückenlose Nachweispflicht; entscheidend ist nicht, ob er sich genügend entschuldigte hat, sondern lediglich, ob er genügend entschuldigt ist (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2000, 84; OLG Karlsruhe NStZ 1994, 141; Ruß a.a.O Rdn. 7; Meyer-Goßner a.a.O. Rdn. 18; Pfeiffer a.a.O. Rdn. 6).

Die rechtlichen Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es - trotz seiner zutreffenden Wiedergabe der obergerichtlichen Rechtsprechung - diesen Maßstäben nicht gerecht geworden ist, indem es verbleibende Zweifel an der Richtigkeit des Vorbringens des Angeklagten nicht durch Nachforschungen im Freibeweisverfahren zu beheben versucht, sondern gegen den Angeklagten ausgelegt hat. Richtig ist allerdings, dass aus einem Arbeitsunfähigkeitsattest nicht ohne weiteres auf die Reise- und Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten geschlossen werden kann, weil es auf die Art der Arbeit (körperliche Tätigkeit oder Bürotätigkeit) und auf die Art sowie das Ausmaß der Erkrankung (kaum hinderliche körperliche Verletzung oder schwere Infektionskrankheit mit hohem Fieber) ankommt. Andererseits ist die nachgewiesene Arbeitsunfähigkeit ein starkes Indiz für die Unmöglichkeit oder - wegen der Verschlimmerungsgefahr - Unzumutbarkeit längerer Reisen und Hauptverhandlungen; es bedarf gewichtiger Gegengründe, um trotz nachgewiesener Arbeitsunfähigkeit die Reise- und Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zu bejahen. Einen solchen Gegengrund hat die Berufungsstrafkammer offenbar in der polizeilichen Feststellung gesehen, dass der Angeklagte entgegen dem schriftlichen Vortrag seines Verteidigers nicht bettlägerig war. Dabei hat sie jedoch die unsichere Beweisgrundlage dieser Feststellung ebenso aus dem Blickfeld verloren wie den Eindruck der Polizeibeamten, der Angeklagte sei "etwas kränklich" gewesen. Durch diese verkürzte Sichtweise hat die Berufungsstrafkammer vorhandene Zweifelsgründe letztlich gegen den Angeklagten verwertet.

Die Berufungsstrafkammer hat ferner das am 12. März 2003 durch Telefax übermittelte ärztliche Attest über die krankheitsbedingte Unfähigkeit des Angeklagten, die Reise vom 10.03. bis 14.03.2003 anzutreten, in seinem Aussagegehalt offensichtlich missverstanden. Abgesehen davon, dass dieses Attest im Zusammenhang mit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der Erklärung des Verteidigers über die Erkrankung des Angeklagten an einer Infektionskrankheit mit hohem Fieber zu sehen ist und daher einen starken Aussagewert hat, geht es auch nicht - wie die Berufungsstrafkammer meint - an der Sache vorbei. Das Attest ist allenfalls lückenhaft, da es weder die Diagnose noch das Reiseziel und die Reisedauer noch den Empfänger aufführt. Diese Lückenhaftigkeit hätte der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer im Freibeweisverfahren dadurch zu beheben versuchen müssen, dass er - trotz der Erklärung des Verteidigers, der behandelnde Arzt sei am Vormittag des 12. März 2003 nicht mehr erreichbar - in der Arztpraxis anrief und mit Hilfe des möglicherweise doch erreichbaren Arztes, seines Praxiskollegen oder der Sprechstundenhilfe Informationen über Art und Ausmaß der Erkrankung sowie über das Zustandekommen des Attestes (nach Untersuchung oder auf Telefonanruf?) zu gewinnen versuchte. Auch das lückenhafte ärztliche Attest, auf dessen Formulierung der Angeklagte im übrigen keinen Einfluss hatte, bot noch soviel an Information, dass die Berufungsstrafkammer sich nicht auf die unzutreffende Argumentation zurückziehen durfte, der Angeklagte habe "lediglich eine Stecke von etwa 500 km von seinem Wohnort zum Sitz der Gerichts" überwinden müssen; einschließlich der Rückreise hätte er den Termin sonach an einem Tag bewältigen können. Eine solche Argumentation verkennt, dass der Angeklagte, falls ihm nicht das Gegenteil nachgewiesen werden konnte, als krank anzusehen war und dass ihm eine etwa 17-stündige Reise und Berufungshauptverhandlung nicht möglich, jedenfalls aber im Hinblick auf die Verschlimmerungsgefahr nicht zumutbar (vgl. OLG Rostock StraFo 2001, 417; OLG Düsseldorf StV 1987, 9) war. Die Berufungsstrafkammer hat ferner übersehen, dass bereits bei einer Verhandlungsdauer von 2 Stunden, die angesichts der Verfahrenslage mindestens zu erwarten war, dem Angeklagten eine Rückkehr zu seinem Wohnort mit öffentlichen Verkehrsmitteln am selben Tag objektiv unmöglich gewesen wäre. Dass der Angeklagte - wie die Berufungsstrafkammer meint - eine fünftägige Reise antreten wollte, ist dem Attest ebenfalls nicht zu entnehmen; es wird ihm lediglich für die Zeit vom 10.03. bis zum 14.03.2003 Reiseunfähigkeit bescheinigt. Dafür, dass es sich um ein bloßes Gefälligkeitsattest gehandelt haben könnte, hat die Berufungsstrafkammer keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte ermitteln können.

Damit war nach den Feststellungen dem Angeklagten am Terminstag die Anreise nach Ellwangen und die Teilnahme an der Berufungshauptverhandlung nicht möglich, jedenfalls aber nicht zumutbar. Die Berufungsstrafkammer hätte sein Ausbleiben daher als genügend entschuldigt im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ansehen müssen. Der Fehler führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

III.

Für die Vorbereitung und Durchführung der neuen Berufungshauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

1. Die telefonische Auflage an einen mutmaßlich ernsthaft erkrankten Angeklagten, sich binnen Stunden zum Amtsarzt zu begeben und dessen Attest beizubringen, enthält ein unerfüllbares Ansinnen, weil der Amtsarzt nur auf Ersuchen eines Amtsträgers tätig wird. Sollte der Angeklagte erneut eine krankheitsbedingte Reise- und Verhandlungsunfähigkeit geltend machen, so wird die neue Berufungsstrafkammer den zuständigen Amtsarzt anstelle medizinisch nicht qualifizierter Polizeibeamter ersuchen müssen, den Angeklagten in dessen Wohnung aufzusuchen und zu untersuchen (vgl. BayObLG NStZ-RR 1999, 143; OLG Karlsruhe NStZ 1994, 141; Ruß in KK, StPO, 5. Auflage, § 329 Rdn. 8).

2. Sollte eine solche Verfahrensweise nicht möglich sein, so müsste der behandelnde Arzt unter Hinweis auf § 278 StGB telefonisch zu der Erkrankung und ihren Auswirkungen auf die Reise- und Verhandlungsfähigkeit sowie zum Zustandekommen der Diagnose befragt werden (vgl. Ruß a.a.O. m.w.N.).

3. Auch andere etwa neu vorgebrachte Terminverlegungsgründe wären mit allen zur Verfügung stehenden gesetzmäßigen Mitteln unverzüglich auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

4. Bei Fehlen einer genügenden Entschuldigung ist eine erneute Verwerfung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zulässig (BGHSt 27, 236); § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO gilt hier nicht.

5. Eine weitere Verzögerung des Verfahrens durch einen etwaigen nochmaligen Verlegungsantrag des Angeklagten oder seines Verteidigers würde im Falle einer erneuten Verurteilung ebenso wenig wie die bisherige, aus der Sphäre des Angeklagten herrührende Verfahrensverzögerung zu einer Strafmilderung wegen Verstoßes gegen das (einfache) Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 MRK führen.

Ende der Entscheidung

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