Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 01.03.2001
Aktenzeichen: 1 Ss 712/00
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 329 Abs. 1
StPO § 40
§§ 329 Abs. 1, 40 StPO

Wird nach der wirksamen öffentlichen Zustellung einer Ladung des Angeklagten zur Berufungshauptverhandlung dessen inländische Anschrift dem Gericht vor der Verhandlung doch noch bekannt, so muss es ihn nach § 37 StPO zum Termin laden. Die Zugangsfiktion des § 40 Abs. 2 StPO gilt dann nicht mehr.

OLG Stuttgart, Beschluss vom 01. März 2001 - 1 Ss 712/00.


Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 1 Ss 712/00 32 Ns 224 Js 54939/00 LG Stuttgart 26 Ds 224 Js 54939/00 AG Stuttgart 224 Js 54939/00 StA Stuttgart

In der Strafsache gegen

wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln,

- Verteidigerin: Rechtsanwältin -

hat der 1. Strafsenat am 01. März 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht M., Richter am Oberlandesgericht Dr. S. und Richter am Landgericht Z. gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 06. November 2000 mit den Feststellungen

aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Stuttgart

zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Stuttgart hatte den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu der Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil haben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft - zu dessen Ungunsten - form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Nach Abtrennung des Verfahrens über die Berufung der Staatsanwaltschaft hat die Berufungsstrafkammer des Landgerichts mit dem jetzt angefochtenen Urteil vom 06. November 2000 die Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen, da dieser trotz ordnungsgemäßer Ladung ausgeblieben sei, ohne dass Entschuldigungsgründe ersichtlich waren.

Das Landgericht hat festgestellt:

Der Angeklagte wurde wegen seines unbekannten Aufenthalts und Wohnsitzes zur Berufungsverhandlung gemäß § 40 StPO im Wege der öffentlichen Zustellung durch zweiwöchigen Aushang der Ladung an der Gerichtstafel in der Zeit vom 29. September bis einschließlich 16. Oktober 2000 geladen. Nach Ablauf der Ladungsfrist wurde der Berufungsstrafkammer am 02. November 2000 durch das Sozialamt W. die neue ladungsfähige Anschrift des Angeklagten in W., K.straße bekannt. Umgehend wurde der Angeklagte zur Berufungshauptverhandlung am 06. November 2000 sowohl formlos als auch mit Postzustellungsurkunde geladen.

Diese Ladung wurde jedoch nicht mehr rechtzeitig bewirkt.

II.

Die Revision des Angeklagten dringt mit der formgerecht (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erhobenen Verfahrensrüge durch, er sei nicht ordnungsgemäß zur Berufungshauptverhandlung geladen worden, weswegen ein Fall schuldhafter Säumnis nicht vorliege.

Das Landgericht ist der Auffassung, die nicht mehr rechtzeitig bewirkte Ladung des Angeklagten unter seiner am 02. November 2000 bekannt gewordenen Anschrift sei unschädlich, weil er zuvor bereits im Wege der öffentlichen Zustellung rechtswirksam zur Berufungshauptverhandlung geladen worden sei. Dieser Auffassung vermag der Senat - in Übereinstimmung mit der Generalstaatsanwaltschaft - nicht zu folgen.

§ 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ermöglicht es, die Berufung des Angeklagten, der trotz ordnungsgemäßer Ladung in der Berufungshauptverhandlung nicht erschienen und dessen Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist, ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. Diese Regelung birgt die Gefahr in sich, dass dem Angeklagten das ihm nach Art. 103 Abs. 1 GG zustehende rechtliche Gehör entzogen wird.

Ist er nicht ordnungsgemäß geladen worden und hat deshalb von dem Hauptverhandlungstermin keine Kenntnis erlangt, so ist er außerstande, sich in der Berufungshauptverhandlung rechtliches Gehör zu verschaffen. An dem Verfassungsgebot, vor Gericht rechtliches Gehör einzuräumen, muss sich aber jede Auslegung und Anwendung des Verfahrensrechts ausrichten. War dem Angeklagten die Möglichkeit genommen, sich in der Berufungshauptverhandlung zu verteidigen, so hat das Revisionsgericht auf entsprechende Verfahrensrüge in eigener Verantwortung zu prüfen, ob eine ordnungsgemäße Ladung vorlag (vgl. BGH NStZ 1987, 239).

An einer ordnungsgemäßen Ladung des Angeklagten fehlt es hier. Die öffentliche Zustellung der Ladung an den Angeklagten war gemäß § 40 Abs. 2 und 3 StPO beschlossen worden, weil dessen gewöhnlicher Aufenthalt dem Gericht unbekannt war. Nach Ablauf der zweiwöchigen Aushangfrist (§ 40 Abs. 2 StPO) begann die einwöchige Ladungsfrist (§ 217 Abs. 1 StPO) am 17. Oktober 2000 zu laufen; mit ihrem Ablauf galt der Angeklagte als ordnungsgemäß geladen (§ 40 Abs. 2 StPO).

Das Landgericht hat indes nicht bedacht, dass die öffentliche Zustellung nur eine Fiktion des Zugangs darstellt; sie ist gegenüber der Zustellung nach § 37 StPO nur ein Notbehelf (vgl. OLG Düsseldorf MDR 1992, 985; OLG Stuttgart MDR 1973, 950 für die Zustellung von Beschlüssen), der den Fortgang des Verfahrens ermöglichen soll. Die Erforderlichkeit eines solchen Notbehelfs entfällt, wenn die Zustellung der Ladung an den Angeklagten möglich wird, weil dessen inländische Anschrift doch noch ermittelt werden kann oder dem Gericht sonst bekannt wird, bevor die Berufungshauptverhandlung beginnt, zu der er öffentlich geladen wurde; die - ordnungsgemäß bewirkte - Ladung durch öffentliche Zustellung wird dadurch unwirksam (Wendisch in LR, StPO, 25. Auflage, § 40 Rdnr. 7). Das folgt unmittelbar aus ihrer gegenüber der tatsächlich bewirkten Zustellung nach § 37 StPO lediglich fiktiven Natur.

Das verfassungsrechtliche Gebot, dem Angeklagten das rechtliche Gehör nach Möglichkeit zu gewähren, lässt es; wenn die ladungsfähige Anschrift des Angeklagten einmal bekannt ist, auch nicht zu, bei Misslingen der rechtzeitigen Ladung auf die Zugangsfiktion des § 40 Abs. 2 StPO zurückzugreifen. Denn dieser Fiktion ist durch das Bekanntwerden der Anschrift der Boden entzogen worden. Das Gericht ist daher selbst dann zum Versuch einer Zustellung der Ladung an den Angeklagten verpflichtet, wenn die einwöchige Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO dabei nicht mehr eingehalten werden kann; denn auch in solchen Fällen ist - falls der Angeklagte den Verfahrensmangel nicht gemäß § 217 Abs. 2 StPO rügt - eine Berufungshauptverhandlung zur Sache oder - bei nicht genügend entschuldigtem Ausbleiben - ein Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO möglich (vgl. BGHSt 24, 143; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Auflage, § 329 Rdnr. 11 m.w.N.). Ist eine Ladung durch die Post aus zeitlichen Gründen nicht mehr möglich, so kann diese im Auftrag des Gerichts auch durch die Polizei bewirkt werden. In seltenen Ausnahmefällen, in denen dem Gericht die Anschrift des Angeklagten erst so kurz vor Beginn der Berufungshauptverhandlung bekannt wird, dass eine Terminsladung auch mit Hilfe der modernen Kommunikationsmethoden nicht mehr möglich ist, wird das Gericht den Termin zur Berufungshauptverhandlung verlegen müssen; dem Erlass eines Prozessurteils nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO steht auch hier das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör entgegen, das gegenüber dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Interesse der Allgemeinheit an einer zügigen Strafrechtspflege den Vorrang verdient.

III.

Da das angefochtene Verwerfungsurteil auf der unzutreffenden Rechtsauffassung der Berufungsstrafkammer beruht, musste es aufgehoben werden.

Ende der Entscheidung

Zurück