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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 12.06.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 101/01
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 205 | |
StPO § 52 Abs. 2 Satz 3 |
Geschäftsnummer: 1 Ws 101/01 7 KLs 23 Js 70975/97-6/99 LG Stuttgart 23 Js 70975/97 StA Stuttgart
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss
vom 12. Juni 2001
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
Tenor:
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts -- Jugendkammer -- Stuttgart vom 24. April 2001
aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
I.
Dem Angeklagten wird in der Anklageschrift vom 20. April 1999 vorgeworfen, er habe sich in acht rechtlich selbstständigen Handlungen jeweils eines Vergehens des sexuellen Missbrauchs eines Kindes (§ 176 Abs. 1 und 3 StGB a.F.) in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB) schuldig gemacht. Die Taten soll der Angeklagte zwischen dem 19. April 1994 und dem 08. Oktober 1996 in seiner damaligen Wohnung in Fellbach zum Nachteil seiner am 19. April 1991 geborenen leiblichen Tochter J. R. begangen haben. Mit Beschluss vom 07. Dezember 1998 hat das Vormundschaftsgericht beim Amtsgericht Waiblingen dem Angeklagten und der mit ihm verheirateten A. R.t das elterliche Sorgerecht für die Tochter J. sowie für den am 30. April 1992 geborenen Sohn B. entzogen und die Vormundschaft angeordnet, die jetzt vom Jugendamt des Landkreises L. ausgeübt wird. Nachdem Termin zur Hauptverhandlung auf den 03. Juli 2000 und weitere Tage bestimmt worden war, teilte das Kreisjugendamt L. als Vormund dem Landgericht Stuttgart am 15. Juni 2000 schriftlich mit, dass beide Kinder von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werden. Hierauf hat der Vorsitzende der Jugendkammer den Termin zur Hauptverhandlung aufgehoben; am 24. April 2001 hat die Jugendkammer nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten das Verfahren in analoger Anwendung von § 205 StPO vorläufig eingestellt. Sie vertritt die Auffassung, die Zeugin J. R. werde in zwei bis drei Jahren über die zur rationalen Beurteilung des Zeugnisverweigerungsrechts nötige Verstandesreife verfügen; danach werde eine Hauptverhandlung entweder unter persönlicher Vernehmung der Zeugin oder auf der Basis der übrigen Erkenntnisquellen durchzuführen sein.
II.
1. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig; § 305 Satz 1 StPO steht nicht entgegen, weil die angefochtene Entscheidung der Urteilsfällung nicht im Sinne eines inneren Zusammenhangs vorausgeht.
2. Die Beschwerde ist auch in der Sache begründet. Die analoge Anwendung von § 205 StPO ist hier rechtlich nicht zulässig.
a) Nach § 205 Satz 1 StPO kann das Verfahren vorläufig eingestellt werden, wenn der Hauptverhandlung für längere Zeit die Abwesenheit des Angeschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegensteht. Dass der Wortlaut der Bestimmung auf den Fall der Verhinderung der Zeugin infolge der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts durch den Vormund nicht passt, ist offenkundig.
b) Die von der Jugendkammer zur Begründung der analogen Anwendung des § 205 Satz 1 StPO angeführten Gründe überzeugen nicht.
aa) Allerdings wird im Schrifttum zur Strafprozessordnung teilweise die Auffassung vertreten, dass eine vorläufige Verfahrenseinstellung auch bei nicht in der Person des Angeschuldigten liegenden, zwar vorübergehenden, jedoch voraussichtlich länger dauernden Verfahrenshemmnissen wie beispielsweise der länger dauernden Abwesenheit oder sonstigen Verhinderung eines wichtigen Zeugen zulässig sei (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage, § 205 Rdnr. 8; Meyer-Goßner, JR 1984, 436; Rieß in LR, StPO, 24. Auflage, § 205 Rdnr. 22; Loos in AK-StPO, § 205 Rdnr, 9; Krause GA 1969, 99 [für das Vorverfahren]). Zur Begründung wird im wesentlichen darauf verwiesen, dass das aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK folgende (einfache) Beschleunigungsgebot nur eine Entscheidung "in angemessener Frist" verlange, ohne deren Dauer zu benennen; darüber dürfe das zentrale Anliegen des Strafprozesses, nämlich die Ermittlung des wahren Sachverhalts (BVerfGE 57, 250, 275) nicht vergessen werden. Beide Grundsätze müssten miteinander in Einklang gebracht werden. Es sei rechtsstaatlich unbedenklich, mit einem Verfahren innezuhalten, wenn es in absehbarer Zeit weiterbetrieben werden könne. Das ergebe sich aus den Vorschriften des § 251 Abs. 1 Nr. 1 und 2 sowie Abs. 2 StPO, die eine Verlesung von Zeugenaussagen erst bei einer Verhinderung des Zeugen für längere oder unbestimmte Zeit zuließen. Damit sei ein innehalten mit den Verfahren auch bei einem vorübergehenden Hindernis geboten, das nicht in der Person des Angeschuldigten liege. Für die Beurteilung der Fristen komme es auf den Einzelfall (Art des Delikts, Beweislage) an. Eine vorläufige Einstellung durch Beschluss analog § 205 StPO schaffe in solchen Fällen Klarheit und eröffne die Beschwerde.
bb) Dieser Rechtsauffassung vermag der Senat in Übereinstimmung mit zahlreichen Oberlandesgerichten (vgl. OLG München NJW 1978, 176; OLG Frankfurt NStZ 1982, 218; OLG Düsseldorf JR 1984, 435 und StV 1996, 84; OLG Koblenz StV 1993, 513; OLG Hamm NJW 1998, 1088; OLG Schleswig StraFo 1999, 126) und einem Teil des Schrifttums (vgl. Tolksdorf in KK, StPO, 4. Auflage, § 205 Rdnr. 9; KMR-Paulus, StPO, § 205 Rdnr. 8) nicht zu folgen. Für eine Analogie zu § 205 Satz 1 StPO fehlt es sowohl an einer unbewussten Regelungslücke im Gesetz als auch an der Rechtsähnlichkeit der Fallgestaltungen.
§ 205 Satz 1 StPO ist vom Gesetz speziell auf den Angeschuldigten (Beschuldigten, Angeklagten) zugeschnitten. Denn die Regelung greift in sein Recht auf beschleunigte Durchführung des gegen ihn anhängigen Ermittlungs- oder Strafverfahrens ein. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK bestimmt mit dem Rang eines Bundesgesetzes, dass innerhalb einer angemessenen Frist über die Berechtigung der gegen den Angeschuldigten erhobenen Anklage zu entscheiden, also eine verfahrensabschließende Entscheidung zu treffen ist; dasselbe folgt auch aus dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG. Demgegenüber erlaubt § 205 Satz 1 StPO unter den dort aufgeführten Voraussetzungen ausnahmsweise, das Verfahren zu suspendieren und es nach Behebung des in der Person des Angeschuldigten liegenden Verfahrenshemmnisses fortzuführen. Diese Ausnahmeregelung findet ihre Rechtfertigung darin, dass die Verfahrenshemmnisse aus der Sphäre des Angeschuldigten kommen (längere Abwesenheit, längere Krankheit, längere Verhandlungsunfähigkeit, Immunität) und für die Justiz unabwendbar sind; sie gehen zu Lasten des Angeschuldigten.
Anders liegt es bei der länger dauernden Abwesenheit oder Nichtverfügbarkeit von (wichtigen) Zeugen; deren Beischaffung wie auch die vorherige Sicherung ihrer Aussagen als Beweismittel (§ 205 Satz 2 StPO) ist Sache der mit der Sache befassten Justizorgane. Stehen wichtige Zeugen im Hauptverfahren nicht zur Verfügung, ohne dass der Angeklagte dies zu vertreten hätte (wie beispielsweise in den Fällen der Bedrohung von Zeugen), so gilt das Beschleunigungsgebot nach dem Sinn und Zweck des § 205 Satz 1 StPO zu seinen Gunsten fort. Er muss es nicht hinnehmen, nach Anklageerhebung unbefristet auf die Durchführung des Strafverfahrens und die verfahrenabschließende Entscheidung zu warten, weil wichtige Zeugen (oder andere Beweismittel) für längere Zeit nicht beigeschafft werden können. Hierin liegt der Unterschied zu seiner eigenen längerdauernden Verhinderung. Die mangelnde Rechtsähnlichkeit der Fälle verbietet eine analoge Ausdehnung von § 205 Satz 1 StPO auf Verfahrenshemmnisse, die außerhalb der Sphäre des Angeschuldigten liegen.
Der Gesetzgeber hat das Problem, dass ein Zeuge für die unmittelbare Vernehmung durch das erkennende Gericht nicht zur Verfügung steht, gesehen und für die Fälle der Verhinderung eines Zeugen für längere Zeit (§ 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO) oder für absehbare Zeit (§ 251 Abs. 2 Satz 2 StPO) die Verlesung von richterlichen bzw. nichtrichterlichen Vernehmungsprotokollen zugelassen. Die unbestimmten Rechtsbegriffe, die er hierbei verwendet hat, bieten gegenüber der Rechtsauffassung von Meyer-Goßner (a.a.O.) und Rieß (a.a.O.), die eine Abwägung zwischen Beschleunigungsgebot und Pflicht zur Sachverhaltserforschung fordern und auf Deliktsart sowie Beweislage abstellen, ein wesentlich höheres Maß an Klarheit und Sicherheit, was gerade im stark formalisierten Strafprozess von erheblicher Bedeutung ist.
cc) Im vorliegenden Fall ist allerdings derzeit das durch die Zeugnisverweigerung der Zeugin J. R. entstandene Verwertungsverbot zu beachten; da die Zeugin und ihr Bruder B. jedoch ermittlungsrichterlich vernommen worden sind, steht der Vernehmungsrichter als Zeuge vom Hörensagen zur Verfügung (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage, § 252 Rdnr. 14 m.w.N.). Dass die Aussage des Vernehmungsrichters und Spontanäußerungen der Zeugin J. R. gegenüber privaten Dritten die ungleich schlechtere, mit weitaus größeren Unsicherheiten behaftete Urteilsgrundlage wäre, hat die Jugendkammer ausführlich dargelegt. Da sie angesichts dieser Beweislage einen wahrscheinlich materiell nicht gerechtfertigten, im Wege der Wiederaufnahme nach § 362 StPO nicht reparablen Freispruch des Angeklagten befürchtet, versucht sie, ihre analoge Anwendung des § 205 Satz 1 StPO zusätzlich mit der Erwägung zu rechtfertigen, dass die Zeugin in zwei bis drei Jahren die nötige Verstandesreife zur rationalen Beurteilung des Zeugnisverweigerungsrechts besitzen wird (vgl. dazu Senge in KK, StPO, 4. Auflage, § 52 Rdnr. 23 m.w.N.); danach werde die Hauptverhandlung durchzuführen sein. Es sei für den Angeklagten auch unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes zumutbar, dass für diesen Zeitraum mit dem Verfahren innegehalten werde. Dabei sei zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber in § 78 b Abs. 1 Nr. 1 StGB (in der Fassung des am 30. Juni 1994 in Kraft getretenen 30. Strafrechtsänderungsgesetzes) verbindlich geregelt habe, dass die Verjährung von Straftaten nach § 176 StGB bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruht. Dieser Regelung liege ersichtlich die Vorstellung zugrunde, das Opfer werde dann zu einer eigenen Entscheidung über die Erstattung einer Strafanzeige oder den Verzicht auf eine solche in der Lage sein (vgl. Jähnke in LK, StGB. 11. Auflage, § 78 b Rdnr. 1 a). Diese Regelung habe zur Konsequenz, dass der Täter häufig für mehr als 20 Jahre mit Strafverfolgung zu rechnen habe; das zeige, dass der Gesetzgeber in derartigen Fällen den effektiven Strafrechtsschutz höher bewerte als das Entstehen eines Verfolgungshindernisses durch Zeitablauf.
Auch diese -- in Rechtsprechung und Schrifttum neue -- Erwägung rechtfertigt die Analogie zu § 205 Satz 1 StPO nicht. Zwar ist es richtig, dass der Täter einer Sexualstraftat nach § 176 StGB im Extremfall bis zu 35 Jahre auf den Eintritt der Strafverfolgungsverjährung warten und so lange mit einer (erfolgreichen) Strafanzeige rechnen muss (z. B. Tatzeitalter drei Jahre, Ruhen der Verjährung für 15 Jahre nach § 78 b Abs. 1 Nr. 1 StGB, absolute Verjährungsfrist nach §§ 78 Abs. 3 Nr. 3, 78 c Abs. 1 Nrn. 1 bis 12, Abs. 3 Satz 2 StGB 20 Jahre). Diese Unsicherheit gilt in noch weiterem Umfang für Mörder (§ 211 StGB), die nach § 78 Abs. 2 StGB ihr Leben lang eine Strafanzeige und ein Strafverfahren, das zu lebenslanger Freiheitsstrafe führt, befürchten müssen. Insoweit hat der Gesetzgeber dem Opferschutz offensichtlich den Vorrang vor der Strafverfolgungsverjährung gegeben, wobei die besondere Situation kindlicher Opfer eines Sexualdelikts (§ 176 StGB) bzw. die Schwere der Tat (§ 211 StGB) die maßgeblichen Gesichtspunkte waren.
Aus den genannten extrem langen oder gänzlich fehlenden Verjährungsfristen kann jedoch nicht geschlossen werden, dass der Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK für die betreffenden Deliktsgruppen nicht oder nur eingeschränkt gilt. Ein latent drohendes, jedoch bereits in seiner Entstehung Ungewisses Ermittlungs- oder Strafverfahren kann nicht mit einem anhängigen Ermittlungs- oder Strafverfahren gleichgesetzt werden; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK erfasst nur bereits anhängige Ermittlungs- oder Strafverfahren, nicht jedoch solche, die nur möglicherweise drohen (vgl. EGMR NJW 1986, 647; BVerfG NJW 1993, 3254; BGH StV 1993, 452; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage, Art. 6 MRK Rdnrn. 8 f.). Nur derjenige Tatverdächtige, gegen den bereits ein Verfahren läuft, muss mit einiger Wahrscheinlichkeit mit seiner Verurteilung rechnen. Dieser außerordentlichen psychischen und sozialen Belastung trägt Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK Rechnung, indem er eine möglichst rasche Klärung der Vorwürfe verlangt. Für noch gar nicht erhobene Tatvorwürfe kann von einer derart schweren Belastung des Täters nicht ausgegangen werden; ihm bleibt die -- angesichts der hohen Dunkelziffer gerade bei Sexualdelikten -- realistische Hoffnung, nicht angezeigt und strafrechtlich verfolgt zu werden. § 78 b Abs. 1 Nr. 1 StGB gibt daher für eine analoge Anwendung von § 205 Satz 1 StPO auf Fälle, in denen Zeugen für längere Zeit nicht aussagebereit sind, nichts her. Es wäre im übrigen auch nicht gerechtfertigt, die Anwendung der Verfahrensvorschrift des § 205 Satz 1 StPO davon abhängig zu machen, welches Delikt dem Angeschuldigten zur Last gelegt wird; denn dadurch würde ein Sonderverfahrensrecht für bestimmte Deliktsarten geschaffen werden; eine solche Entscheidung wäre aber Sache des Gesetzgebers.
Bei der derzeitigen Gesetzeslage gilt § 205 Satz 1 nur für solche Verfahrenshemmnisse, die aus der Sphäre des Angeschuldigten herrühren.
III.
Dem Verfahren ist -- wie die Verteidigung und die Generalstaatsanwaltschaft beantragt haben -- Fortgang zu geben. Über den Zeitpunkt der Terminierung und die Beiziehung von bestimmten Beweismitteln hat der Senat nicht zu entscheiden; dies liegt im Verantwortungsbereich der Jugendkammer.
Ende der Entscheidung
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