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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 12.02.2002
Aktenzeichen: 1 Ws 21/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 141
StPO § 143
Verweigert der Pflichtverteidiger nur aus Zeitgründen die über die allgemeine Sachrüge hinausgehende Revisionsbegründung, so stellt dies eine grobe Pflichtwidrigkeit dar, die zu seiner Entpflichtung führen kann.
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 1 Ws 21/02

vom 12. Februar 2002

in der Strafsache gegen

wegen versuchten Totschlags u.a.,

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird die Verfügung des Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Hechingen vom 05. Februar 2002 aufgehoben.

Die Bestellung von Rechtsanwalt G. J. H. als Pflichtverteidiger wird zurückgenommen.

Rechtsanwalt Prof. B. M. B. wird zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten wurde am 12. Februar 2001 durch Verfügung des Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Hechingen Rechtsanwalt H. als Pflichtverteidiger beigeordnet, da ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 StPO vorlag. Nachdem der Beschwerdeführer am 26. November 2001 wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt worden war, legte der Pflichtverteidiger für den Angeklagten Revision ein, rügte allgemein die Verletzung sachlichen Rechts und behielt sich verfahrensrechtliche Rügen vor. Das Urteil wurde sodann am 11. Januar 2002 wirksam zugestellt. Am 31. Januar 2002 legitimierte sich der Wahlverteidiger Prof. B. unter Vorlage einer Vollmacht für den Angeklagten und bat gleichzeitig um Beiordnung als Pflichtverteidiger für das Revisionsverfahren. Am selben Tage teilte der Pflichtverteidiger mit, dass er den Angeklagten "nicht mehr vertrete". Mit Verfügung vom 05. Februar 2002 lehnte der Vorsitzende den Antrag auf Beiordnung ab, da bereits ein Pflichtverteidiger beigeordnet sei und es deshalb der Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers nicht bedürfe. Erst mit seiner Beschwerde hat der Angeklagte ein Schreiben des Pflichtverteidigers vom 11. Januar 2002 vorgelegt, in dem er dem Angeklagten mitteilt, dass er sich zu einer weiteren Begründung der Revision, insbesondere verfahrensrechtlicher Rügen, schon "aus zeitlichen Gründen" außerstande sehe.

Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache zur Entscheidung vorgelegt.

Die Beschwerde ist zulässig.

1. Das Rechtsmittel, das mangels eines eigenen Beschwerderechts des Verteidigers (OLG Düsseldorf, StV 1986, 239) als Beschwerde des Angeklagten auszulegen ist, ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässig; es ist insbesondere nicht nach § 305 S. 1 StPO unstatthaft. § 305 S. 1 StPO erfasst nur Entscheidungen des erkennenden Gerichts, nicht jedoch Entscheidungen, die allein der Vorsitzende in Angelegenheiten zu treffen hat, die nicht in innerem Zusammenhang mit der Urteilsfällung stehen, sondern die der Sicherung des justizförmigen Verfahrens dienen (OLG Hamm, StV 1995, 64; OLG Braunschweig, StV 1996, 6; OLG Stuttgart, NStZ-RR 1996, 207 = Die Justiz 1997, 143; OLG Stuttgart, NStZ-RR 1998, 110).

2. Dem Beschwerdeführer fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Die Pflichtverteidigerbestellung bezieht sich auf das gesamte Verfahren einschließlich der Revisionseinlegung und -begründung mit Ausnahme der Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht (BGHSt 19, 258, 259). Auch wenn die Revisionsbegründungsfrist am 11. Februar 2002 abgelaufen ist, kann vorliegend ein auf die Beschwerde des inhaftierten Angeklagten beizuordnender Pflichtverteidiger im Wege des Wiedereinsetzungsantrags weitere Revisionsrügen anbringen, die bereits zulässig erhobene Sachrüge ergänzen, auf einen Antrag des Generalbundesanwalts nach § 349 Abs. 2 StPO erwidern oder eine Überprüfung der Untersuchungshaft des Angeklagten beantragen (OLG Stuttgart, MDR 1979, 780).

III.

Die Beschwerde ist begründet. Die Ablehnung der Beiordnung des Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger unter gleichzeitiger Rücknahme der Bestellung des Verteidigers H. ist ermessensfehlerhaft.

1. Die Rechtsgrundlage für die Bestellung des Pflichtverteidigers ist § 141 StPO. Dieselbe Vorschrift bildet nach ihrem Sinn und Zweck auch die allgemeine Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Bestellung. Die angegriffene Verfügung des Vorsitzenden ist nicht deshalb zu beanstanden, weil es das Gesetz - abgesehen von § 143 StPO - unterlässt, einzelne Widerrufsgründe aufzuzählen. Denn selbst das Grundgesetz fordert keine abschließende gesetzliche Normierung dieser Gründe (BVerfG NJW 1975, 1015, 1016).

Das ausgeübte Ermessen ist deshalb darauf zu überprüfen, ob es sich im Rahmen der Berücksichtigung des prozessualen Fürsorgezwecks, der für die Pflichtverteidigung kennzeichnend ist, hält. Als wichtiger Grund für die Abberufung eines Pflichtverteidigers und - in Fällen notwendiger Verteidigung - für die Bestellung eines neuen Verteidigers kommt jeder Umstand in Frage, der den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährdet (BVerfG NJW 1975, 1015, 1016).

2. Eine Verpflichtung, die Beiordnung des Rechtsanwalts H. deshalb zurückzunehmen, weil sich Rechtsanwalt Prof. B. als Wahlverteidiger legitimiert hat, besteht nicht. Zwar bestimmt § 143 StPO, dass die Bestellung zurückzunehmen ist, wenn später ein Wahlverteidiger vom Angeklagten beauftragt wird. Das gilt jedoch nur dann, wenn die Verteidigung durch den Wahlverteidiger während des gesamten Verfahrens sichergestellt ist. Ist zu erwarten, dass der Wahlverteidiger sein Mandat alsbald, z.B. wegen Mittellosigkeit des Angeklagten, wieder niederlegen wird, ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufrecht zu halten (OLG Düsseldorf, VRS 99, 57, 58; OLG Stuttgart, NStZ-RR 1996, 207; KG, NStZ 1993, 201, 202; OLG Koblenz, MDR 1986, 604). Das gilt insbesondere, wenn - wie vorliegend - der Wahlverteidiger schon bei seiner Legitimation bei Gericht den Antrag stellt, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen. Auf einen solchen Wechsel des Pflichtverteidigers hat der Angeklagte schon wegen der dadurch bedingten finanziellen Mehrbelastung der Staatskasse sowie möglicher Störungen und einer Verlängerung des Verfahrens keinen Anspruch (OLG Düsseldorf, VRS 99, 57, 58; OLG Düsseldorf, StV 1997, 576; OLG Stuttgart, NStZ-RR 1996, 207; KG, NStZ 1993, 201, 202; OLG Koblenz, MDR 1986, 604; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage, § 143 Rdnr. 2). Eine Ausnahme kommt allenfalls dann in Betracht, wenn der bisherige Verteidiger mit der Entpflichtung einverstanden ist und durch die Beiordnung eines neuen Verteidigers weder eine Verfahrensverzögerung noch Mehrkosten für die Staatskasse verursacht werden (OLG Hamburg, StV 1999, 588). Dieser Fall liegt hier nicht vor, da durch die Beiordnung von Rechtsanwalt Prof. B. weitere Kosten entstehen.

3. Der bloße Wunsch eines Angeklagten nach einem neuen Pflichtverteidiger, der im Antrag vom 31. Januar 2002 geäußert wurde, kann eine Auswechslung allein nicht rechtfertigen, auch wenn gleichzeitig der bisherige Pflichtverteidiger anzeigt, er werde den Angeklagten nicht mehr vertreten. Der gerichtlich bestellte Verteidiger ist nämlich im Gegensatz zum Wahlverteidiger verpflichtet, an der ordnungsgemäßen Durchführung des Strafverfahrens mitzuwirken, § 49 BRAO. Die Bestellung endet erst mit Rechtskraft des Urteils (OLG Hamburg, StV 1981, 349; OLG Düsseldorf, StV 1998, 256) oder mit der Rücknahme der Bestellung. Soweit ein Grund für die Entpflichtung behauptet wird, muss dieser substantiiert dargelegt werden (OLG Stuttgart, NStZ-RR 1996, 207; OLG Düsseldorf, VRS 97, 255). Vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beobachters ist zu beurteilen, ob konkrete Umstände von Gewicht vorgetragen sind, die eine ernsthafte Störung des Vertrauensverhältnisses besorgen lassen, so dass zu befürchten ist, dass die Verteidigung objektiv nicht sachgerecht geführt wird (BVerfG, NStZ-RR 1997, 202; BGHSt 39, 310, 311; BGH, NStZ 1993, 600, 601 m.w.N.; BGH NStZ 1995, 296; OLG Karlsruhe, NStZ 1988, 239; OLG Stuttgart, NStZ-RR 1996, 207). Als wichtige Gründe sind auch Umstände anerkannt, die den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern, ernsthaft gefährden (BVerfG NJW 1975, 1015, 1016; OLG Köln, StV 1991, 9, 10; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1997, 77). Ein gewichtiger Anlass für eine derartige Besorgnis kann auch ein Fehlverhalten des Verteidigers darstellen. Hierbei ist im Hinblick auf den in Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützten Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren, der auch das Recht einschließt, von einem Verteidiger seines Vertrauens verteidigt zu werden, allerdings Bedacht darauf zu nehmen, dass der Pflichtverteidiger in der Art und Weise seiner Verteidigung ebenso frei ist wie der gewählte Verteidiger (OLG Köln, StV 1991, 9; OLG Frankfurt, StV 1994, 288; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1997, 77). Er ist kein weisungsgebundener Vertreter, sondern der weitgehend selbständige Beistand des Angeklagten (OLG Stuttgart, MDR 1979, 780). Von daher vermag nicht schon jedes objektiv unzweckmäßige oder prozessordnungswidrige Verhalten des Verteidigers seine Abberufung rechtfertigen.

Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Der Angeklagte hat zwar erst mit seiner Beschwerdebegründung ein Schreiben des Verteidigers Rechtsanwalt H. vom 11. Januar 2002 vorgelegt; daraus ergibt sich, dass er sich "zu einer weiteren Begründung der Revision, insbesondere verfahrensrechtlicher Rügen, schon aus zeitlichen Gründen außerstande" sieht. Dies ist eine eindeutige Pflichtwidrigkeit von besonderem Gewicht und keine gewissenhafte Prüfung der Sach- und Rechtslage der Aussichten einer Revision. Die Weigerung des Verteidigers Rechtsanwalt H., aus zeitlichen Gründen über die allgemeine Sachrüge hinaus eine weitere Revisionsbegründung zu fertigen, stellt eine grobe Pflichtverletzung dar. Diese besteht darin, dass er aus sachfremden Erwägungen und ohne weitere Prüfung die mit der Pflichtverteidigerbestellung übernommenen Pflichten verletzt und den Angeklagten ohne triftigen Grund "im Stich" lässt (OLG Frankfurt, StV 1985, 225). Der Verteidiger Rechtsanwalt H. ist nach seinem Schreiben vom 11. Januar 2002 nicht fähig oder nicht willens, den Angeklagten sachgerecht zu verteidigen.

In diesem Fall gebietet es die Fürsorgepflicht des Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer, für eine anderweitige Verteidigung des Beschwerdeführers zu sorgen. Die Ablehnung der Beiordnung des Wahlverteidigers Rechtsanwalt Prof. B. war deshalb ermessensfehlerhaft. Die angefochtene Verfügung war daher aufzuheben.

Nachdem sich das Auswahlermessen durch den Antrag des Angeklagten auf Beiordnung des Wahlverteidigers auf Null reduziert hat, hat der Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO in der Sache selbst entschieden und von einer Zurückverweisung an den Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer Abstand genommen.

Ende der Entscheidung

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