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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 15.04.2002
Aktenzeichen: 1 Ws 63/02
Rechtsgebiete: StGB
Vorschriften:
StGB § 79 b |
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss
Geschäftsnummer: 1 Ws 63/02
vom 15. April 2002
in der Strafsache
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln u.a.
Tenor:
Die sofortige Beschwerde der Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Hechingen vom 27. März 2002 wird als unbegründet verworfen.
Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten ihres Rechtsmittels.
Gründe:
I.
Zu Recht hat die Strafkammer des Landgerichts Hechingen die gesetzliche Vollstreckungsverjährungsfrist von zehn Jahren um fünf Jahre verlängert.
Die Beschwerdeführerin wurde am 04. September 1991 durch die Strafkammer des Landgerichts Hechingen wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Sie hatte mit ihrem damaligen Ehemann K. G. sieben Kilogramm Haschisch (Preis: 23.000,00 DM) aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland eingeführt und zusammen mit diesem mit mindestens zwölf Kilogramm Haschisch im Raum Balingen Handel getrieben. Das Urteil wurde nach Verwerfung der Revision der Verurteilten durch den Bundesgerichtshof am 31. Januar 1992 rechtskräftig. Vor Einleitung der Strafvollstreckung hat sich die Verurteilte - wie später bekannt wurde - nach Portugal (Azoren) abgesetzt. Strafvollstreckungsverjährung wäre ohne deren Ruhen nach zehn Jahren, also mit Ablauf des 30. Januar 2002 eingetreten (§ 79 Abs. 3 Nr. 3 StGB). Aufgrund ihrer bereits 1995 bewirkten Ausschreibung zur Festnahme im Schengener Informationssystem (SIS) und eines anonymen Hinweises vom 17. Juli 2001 wurde die Verurteilte am 26. Juli 2001 auf den Azoren festgenommen und von den portugiesischen Behörden in vorläufige Auslieferungshaft genommen. Am 25. Oktober 2001 wurde sie vom portugiesischen Appellationsgericht in Lissabon mit der Anweisung, sich einmal wöchentlich bei der Polizei zu melden, auf freien Fuß gesetzt. Durch die (vorläufige) Auslieferungshaft ruht die Vollstreckungsverjährung 92 Tage lang, also bis zum 02. Mai 2002 (§ 79 a Nr. 3 StGB).
Nach Auskunft der deutschen Botschaft in Lissabon und des portugiesischen Generalstaatsanwalts ist derzeit nicht absehbar, wann und wie die portugiesischen Behörden über die Auslieferung der Verurteilten an die Bundesrepublik Deutschland entscheiden werden.
Am 14. März 2002 hat die Staatsanwaltschaft Hechingen als Vollstreckungsbehörde beim Landgericht Hechingen beantragt, die Frist für die Vollstreckungsverjährung gemäß § 79 b StGB um fünf Jahre zu verlängern; dazu hatte die Verurteilte über ihre Verteidiger das rechtliche Gehör. Dem Antrag der Staatsanwaltschaft hat die Strafkammer des Landgerichts Hechingen mit dem angefochtenen Beschluss entsprochen.
II.
Die nach § 462 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 StPO zulässige sofortige Beschwerde der Verurteilten gegen den die Vollstreckungsverjährungsfrist verlängernden Beschluss des als Gericht des ersten Rechtszuges zuständigen Landgerichts Hechingen (§ 462 a Abs. 2 Satz 1 StPO) ist nicht begründet.
1. Nach § 79 b StGB kann die Vollstreckungsverjährungsfrist vor ihrem Ablauf auf Antrag der Vollstreckungsbehörde um die Hälfte der gesetzlichen Verjährungsfrist verlängert werden, wenn der Verurteilte sich in einem Gebiet aufhält, aus dem seine Auslieferung oder Überstellung nicht erreicht werden kann. Der Senat teilt die Auffassung der Strafkammer, dass diese Voraussetzungen auch dann vorliegen, wenn - wie hier im Verhältnis zu Portugal - eine Auslieferung weder tatsächlich noch rechtlich ausgeschlossen ist, eine Entscheidung des auslieferungsrechtlichen Vertragsstaates über das laufende Auslieferungsersuchen aber innerhalb der Vollstreckungsverjährungsfrist nicht mehr zu erreichen ist (vgl. Stree/Sternberg-Lieben in Schönke-Schröder, StGB, 26. Auflage, § 79 b Rdnr. 2; Tröndle/Fischer, StGB, 50. Auflage, § 79 b Rdnr. 2). Die Vorschrift bezweckt, einem flüchtigen Verurteilten die Ausnutzung der Besonderheiten des internationalen Rechtshilfeverkehrs jedenfalls zu erschweren; zu diesen Besonderheiten gehört, dass die Entscheidung über ein Auslieferungsersuchen häufig einen beträchtlichen Zeitraum in Anspruch nimmt, auf den die deutschen Strafvollstreckungsbehörden keinen Einfluss haben. Deswegen ist § 79 b StGB nach seinem Sinn und Zweck dahin auszulegen, dass eine Verlängerung der Vollstreckungsverjährungsfrist auch noch während eines laufenden Auslieferungsverfahrens möglich ist. Die Vorschrift soll die Möglichkeit der Strafvollstreckung auch in den Fällen erhalten, in denen während der regulären Vollstreckungsverjährungsfrist die Strafvollstreckung wegen Flucht des Verurteilten ins Ausland nicht begonnen werden konnte, das noch laufende Auslieferungsersuchen, das nicht aussichtslos erscheint, jedoch noch nicht endgültig beschieden worden ist. Der Verurteilte soll keinen Vorteil daraus ziehen, dass aufgrund der Ermittlung seines Aufenthalts erst verhältnismäßig kurze Zeit vor Ablauf der Vollstreckungsverjährungsfrist und aufgrund der zeitraubenden Besonderheiten des internationalen Rechtshilfeverkehrs mit der deutschen Strafvollstreckung nicht mehr innerhalb der regulären Vollstreckungsverjährungsfrist begonnen werden kann. Bei dieser Auslegung erfüllt die Vorschrift des § 79 b StGB die ihr vom Gesetzgeber zugedachte Funktion gerade auch in den Fällen, in denen über die Auslieferungsfrage noch nicht entschieden worden ist, also ein Schwebezustand besteht. Insoweit besteht noch viel mehr als in den Fällen abgelehnter oder aussichtsloser Auslieferungsersuchen (vgl. dazu OLG Hamm NStZ 1991, 186) ein Bedürfnis, die Vollstreckungsverjährungsfrist zu verlängern.
Dass hier die Auslieferung (oder Überstellung) der Verurteilten nicht mehr innerhalb der bis zum 02. Mai 2002 laufenden Vollstreckungsverjährungsfrist erreicht werden kann, ist nach den Berichten der deutschen Botschaft in Lissabon und des dortigen Generalstaatsanwalts offenkundig; dass die Vollstreckungsbehörde ihr Ziel in den nächsten fünf Jahren erreichen kann, ist hingegen wahrscheinlich. Damit liegen die Voraussetzungen des § 79 b StGB vor.
Der Einwand der Verteidigung, die Verurteilte halte sich schon seit etwa zehn Jahren in Portugal auf, ihre Auslieferung sei jedoch bislang von den deutschen Strafvollstreckungsbehörden nicht (erfolglos) versucht worden, geht fehl. Eine SIS-Ausschreibung der Verurteilten auch für Portugal ist bereits im Jahr 1995 erfolgt; diese blieb jedoch zunächst erfolglos. Erst am 17. Juli 2001 wurde der deutschen Vollstreckungsbehörde die aktuelle Anschrift der Verurteilten auf den Azoren bekannt. Von diesem Zeitpunkt an hat sich die Vollstreckungsbehörde intensiv um die Festnahme und Auslieferung der Verurteilten bemüht; was sie noch mehr als geschehen hätte tun können, ist nicht ersichtlich.
2. Da § 79 b StGB eine Ermessensvorschrift ist, muss nach pflichtgemäßem Ermessen geprüft werden, ob ein fortdauerndes Bedürfnis nach Vollstreckung der Freiheitsstrafe besteht. Das hat die Strafkammer zu Recht bejaht. Maßgeblich für die Beantwortung dieser Frage sind die Bedeutung der Tat, die Höhe der zu vollstreckenden Freiheitsstrafe und die seit Rechtskraft verstrichene Zeit, aber auch das Verhalten des Verurteilten nach der Tat und seine derzeitigen Lebensumstände (vgl. OLG Hamm, NStZ 1991, 186; Jähnke in LK, StGB, 11. Auflage, § 79 b Rdnr. 4).
Bei der gebotenen Abwägung war - worauf die deutsche Botschaft in Lissabon besonders nachhaltig abgehoben hat - zu beachten, dass die Verurteilte das alleinige Sorgerecht für vier minderjährige Kinder hat, die seit Jahren bei ihr in Portugal leben und dort sozial integriert sind. Das durch die beabsichtigte Strafvollstreckung in der Bundesrepublik Deutschland voraussichtlich beeinträchtigte Kindeswohl kann jedoch das Strafbedürfnis nicht auf- oder überwiegen; auch zur Tatzeit hatte die Verurteilte bereits die Verantwortung für vier minderjährige Kinder (von denen eines jetzt erwachsen ist) zu tragen, ohne dass der Gedanke an das Wohl ihrer Kinder sie von der Begehung einer schwerwiegenden Betäubungsmittelstraftat abgehalten hätte; vielmehr hat sie einen Familienurlaub in den Niederlanden zur Begehung der Straftat missbraucht. Für den Fall der Auslieferung hat inzwischen das Kreisjugendamt Balingen entsprechende jugendfürsorgerische Bemühungen entfaltet. Im übrigen könnte durch eine Strafvollstreckung in Portugal die soziale Härte für die Kinder abgemildert werden.
Auf der anderen Seite wiegt die Straftat, die mit zwei Jahren und acht Monaten Freiheitsstrafe geahndet wurde, schwer. Es ging um mehr als zwölf Kilogramm Haschisch, die unter Mitwirkung der Verurteilten im Raum Balingen an Konsumenten gewinnbringend verkauft wurden. Wie hartnäckig und bedenkenlos die Verurteilte ist, zeigt auch der Umstand, dass sie zur Tatzeit zweifach unter Bewährung stand, sich jedoch nicht beeindrucken ließ. Sie hat offenbar damals wie auch bei ihrer Flucht nach Portugal darauf spekuliert, als Mutter von vier minderjährigen Kindern drohe ihr in keinem Falle eine Strafvollstreckung. Angesichts dieses Verhaltens der Verurteilten und ihrer Einstellung zu ihren Straftaten würde der Rechtsfrieden nachhaltig gestört werden, wenn der Öffentlichkeit bekannt würde, dass die Gerichte ein fortdauerndes Bedürfnis nach Strafvollstreckung verneint haben. Das rechtfertigt die Anwendung des § 79 b StGB.
Ende der Entscheidung
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