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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil verkündet am 04.04.2000
Aktenzeichen: 14 U 63/99
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 847
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711
ZPO § 713
1. In einer psychiatrischen Klinik sind konkrete Maßnahmen zum Schutz eines Patientin bei erkennbarer akuter oder konkreter Selbstmordgefahr erforderlich. Eine akute Selbstmordgefahr ergibt sich nicht schon daraus, daß der Patient vorsorglich auf die geschlossene Station aufgenommen worden ist.

2. Ist eine akute Selbstmordgefahr nicht erkennbar, muß die Klinik nicht unverzüglich nach einem Patienten fahnden, der nicht wie vereinbart nach einem unbegleiteten Ausgang auf dem Klinikgelände zurückkommt.


Oberlandesgericht Stuttgart - 14. Zivilsenat - Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 14 U 63/99 15 O 270/98 LG Stuttgart

verkündet am 04. April 2000

In Sachen

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 21. März 2000 unter Mitwirkung

des Richters am OLG

der Richterin am OLG

des Richters am OLG

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 20.08.1999 - 15 O 270/98 - wird zurückgewiesen.

II. Die Kläger tragen die Kosten ihres Rechtsmittels.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschwer der Kläger: unter 60.000,00 DM

Streitwert:

Berufungsantrag Ziff. 1 12.000,00 DM Berufungsantrag Ziff. 2 20.000,00 DM Berufungsantrag Ziff. 3 8.000,00 DM Summe 40.000,00 DM

Tatbestand:

Die Parteien streiten um Schadensersatz nach ärztlicher Behandlung.

Frau S-Z, die Ehefrau des Klägers Ziff. 1 und Mutter der Klägerin Ziff. 2, wurde am 10.08.1995 von der Fachärztin für Psychiatrie Dr. S wegen akuter psychischer Dekompensation und Suizidialität in die psychiatrische Klinik des B hospitals St eingewiesen, dessen Trägerin die Beklagte Ziff. 1 ist. Bei der Aufnahmeuntersuchung wurden ein depressives Syndrom und latente Suizidalität diagnostiziert. Frau S-Z wurde als Privatpatientin des Beklagten Ziff. 2, der Chefarzt der psychiatrischen Klinik des B hospitals St ist, auf der geschlossenen Station aufgenommen. Am 11.08.1995 besprach der Beklagte Ziff. 2 mit ihr, daß sie über das Wochenende auf der geschlossenen Station bleiben solle, er ordnete außerdem an: "Kein Ausgang". Zu einem internistischen Konsil am 11.08.1995 im B hospital und einem augenärztlichen Konsil am 14.08.1995 im K hospital wurde Frau S-Z von Pflegekräften begleitet. Für den 14.08.1995 ist im ärztlichen Verlaufsbericht vermerkt, daß Frau S-Z Suizidalität verneint habe und mit ihr besprochen worden sei, sie am Nachmittag des 15.08.1995 auf die offene Privatstation des Beklagten Ziff. 2 im B hospital zu verlegen. Sie erhielt ab dem 14.08.1995 das Antidepressivum Ludiomil. Am 15.08.1995 wurde ihr ein Ausgang von 2 x 15 Minuten alleine gestattet, außerdem durfte sich Frau S-Z für eine halbe Stunde die offene Privatstation ansehen. Dazu verließ sie um 10.00 Uhr die geschlossene Station. Nachdem die Patientin um 10.30 Uhr nicht zurückgekehrt war, erkundigte sich ein Mitarbeiter der geschlossenen Station um 10.45 Uhr und um 11.00 Uhr bei der Privatstation nach der Patientin und erhielt jeweils die Auskunft, daß diese noch nicht eingetroffen sei. Frau S-Z stürzte sich zwischen 11.00 Uhr und 11.15 Uhr aus einem Fenster im 13. Stock des Personalgebäudes auf dem Gelände des B hospitals und verstarb.

Die Kläger haben vorgetragen, der Tod von Frau S-Z sei darauf zurückzuführen, daß die verantwortlichen Ärzte die vorhersehbare suizidale Handlung nicht durch geeignete Schutzmaßnahmen abgewendet hätten. Insbesondere sei es grob fehlerhaft gewesen, der Patientin zu gestatten, die geschlossene Abteilung ohne Begleitung zu verlassen. Außerdem sei um 10.45 Uhr sofort eine Suchaktion zu veranlassen gewesen. Sie seien durch den Tod von Frau S-Z in einem Ausmaß psychisch beeinträchtigt worden, das über eine normale Trauerreaktion hinausgegangen sei, so daß sie sich hätten in ärztliche Behandlung begeben müssen.

Die Kläger haben beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Kläger ein der Höhe nach in das Ermessen des Gericht gestelltes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit zu bezahlen,

2. die Beklagten zu verurteilen, an den Kläger Ziff. 1 ein Schmerzensgeld in Höhe von 12.000,00 DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit zu bezahlen,

3. die Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin Ziff. 2 ein Schmerzensgeld von 20.000,00 DM nebst 4 % Zinsen hieraus ab Rechtshängigkeit zu zahlen,

4. festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, den Klägern sämtlichen materiellen Schaden zu ersetzen, der diesen daraus entstanden ist und künftig noch entsteht, daß die Ehefrau des Klägers Ziff. 1 und Mutter der Klägerin Ziff. 2 am 15.08.1995 in der psychiatrischen Klinik des Bürgerhospitals Stuttgart durch Fenstersprung ums Leben gekommen ist, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie haben vorgetragen, die Selbsttötung sei für die behandelnden Ärzte nicht vorhersehbar gewesen. Die Patientin habe sich in mehreren Therapiegesprächen glaubhaft von ihrer Suizidabsicht distanziert. Es sei deshalb nicht fehlerhaft gewesen, ihr das Verlassen der geschlossenen Station ohne Begleitung zu gestatten. Eine Suchaktion sei aus diesem Grund nicht erforderlich gewesen, nachdem die Patientin bis 11.00 Uhr auf der offenen Station nicht eingetroffen sei. Durch eine Suchaktion sei der Selbstmord nicht zu verhindern gewesen.

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. W und die mündliche Erläuterung dieses Gutachtens. Mit Urteil vom 20.08.1999 hat es die Klage abgewiesen. Dagegen legten die Kläger Berufung ein.

Sie vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen und beantragen, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts,

1. die Beklagten zu verurteilen, an den Kläger Ziff. 1 ein Schmerzensgeld in Höhe von 12.000,00 DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin Ziff. 2 ein Schmerzensgeld von 20.000,00 DM nebst 4 % Zinsen hierauf ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

3. festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, den Klägern sämtlichen materiellen Schaden zu ersetzen, der diesen daraus entstanden ist und künftig noch entsteht, daß die Ehefrau des Klägers Ziff. 1 und Mutter der Klägerin Ziff. 2 am 15.08.1995 in der psychiatrischen Klinik des B hospitals St durch Fenstersprung ums Leben gekommen ist, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertiefen ebenfalls ihr erstinstanzliches Vorbringen.

Zu den Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen. Das Oberlandesgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens und seine mündliche Erläuterung. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten von Privatdozent Dr. S (Bl. 211) und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21.03.2000 (Bl. 265) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Kläger haben weder eigene Ansprüche nach §§ 823, 847 BGB auf Bezahlung eines Schmerzensgeldes gegen die Beklagten noch als Erben wegen der Verletzung von Pflichten aus dem Behandlungsvertrag. Sie haben nicht bewiesen, daß der Beklagte Ziff. 2 oder seine Mitarbeiter die Selbsttötung von Frau S-Z, im Rahmen der stationären Behandlung schuldhaft nicht verhindert haben.

1.

Die Kläger haben nicht bewiesen, daß es behandlungsfehlerhaft war, Frau S-Z am 15.08.1995 unbegleiteten freien Ausgang zur Besichtigung der offenen Station zu gewähren.

a)

Für den Umfang und die Erforderlichkeit von Überwachungs- und Sicherungsmaßnahmen kommt es darauf an, ob das Krankheitsbild der Patientin suizidale Handlungen befürchten ließ. Zweck der Aufnahme in das B hospital war nicht nur, die Patientin von ihrer Erkrankung möglichst zu heilen; das Krankenhauspersonal traf vielmehr auch die Pflicht, alle Gefahren von der Patientin abzuwenden, die ihr wegen der Krankheit durch sich selbst drohten. Diese Pflicht bestand allerdings nur in den Grenzen des Erforderlichen und des für das Krankenhauspersonal und sie selbst Zumutbaren. Ein Suizid während des Aufenthalts in einem psychiatrischen Krankenhaus kann niemals mit absoluter Sicherheit vermieden werden, unabhängig davon, ob die Behandlung auf einer offenen oder auf einer geschlossenen Station unter Beachtung aller realisierbaren Überwachungsmöglichkeiten durchgeführt wird. Eine lückenlose Überwachung und Sicherung, die jede noch so fernliegende Gefahrenquelle ausschalten könnte, ist nicht denkbar. Zudem sind die Erfordernisse der Medizin zu beachten, die gerade bei psychisch Kranken eine vertrauensvolle Beziehung und Zusammenarbeit zwischen Patient und Arzt sowie Krankenhauspersonal auch aus therapeutischen Gründen als angezeigt erscheinen lassen (BGH Urteil v. 23.09.1993 III ZR 107/92, VersR 1994, 50 = NJW 1994, 794). Allein daraus, daß Frau S-Z noch stationär auf der geschlossenen Abteilung des B hospitals untergebracht war, kann somit nicht auf das Ausmaß der erforderlichen Sicherungs- und Überwachungsmaßnahmen geschlossen werden. Die Entscheidung, ihr freien Ausgang zu gewähren, ist deshalb nicht schon aus diesem Grunde fehlerhaft.

b)

Konkrete Maßnahmen zum Schutz des Patienten durch Überwachung und Sicherung sind bei erkennbar erhöhter, akuter oder konkreter Selbstmordgefahr erforderlich (OLG Stuttgart NJW-RR 1995, 662; OLG Stuttgart VersR 1994, 731; OLG Oldenburg VersR 1997, 117; OLG Köln VersR 1993, 1156). Bei Patienten wie Frau S-Z, die an einer depressiven Störung leiden, besteht immer eine latente Suizidgefahr, wie der Sachverständige Privatdozent Dr. S sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch bei der mündlichen Erläuterung vor dem Senat in Übereinstimmung mit den Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. W vor dem Landgericht bekundet hat. Eine ständige Überwachung aller Patienten, bei denen wegen einer depressiven Erkrankung das Risiko von suizidalen Handlungen besteht, ist weder möglich noch geschuldet. Dem Krankenhausträger ist schon nicht zumutbar, im Hinblick auf das bestehende Restrisiko alle derartigen Patienten in der geschlossenen Abteilung unterzubringen und lückenlos zu überwachen. Im Hinblick auch auf die angestrebte vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Arzt sind solche Maßnahmen medizinisch kontraindiziert, wie der Sachverständige Privatdozent Dr. S überzeugend ausgeführt hat.

Da nicht schon das Vorliegen einer depressiven Störung allein eine Überwachung des Patienten erfordert, müssen Anhaltspunkte für eine erhöhte, akute oder konkrete Selbstmordgefahr hinzukommen. Maßgebend ist dabei, ob eine solche Gefährdung für die behandelnden Ärzte und das Krankenhauspersonal erkennbar war. Entscheidend ist nicht, daß nach einem Suizid ex post die Feststellung getroffen werden kann, daß schon einfache Maßnahmen die Selbsttötung verhindert hätten, und sich herausstellt, daß die Einschätzung einer latenten Suizidalität falsch war. Entscheidend ist vielmehr, ob aus der Sicht eines objektiven Beobachters ex ante eine Selbstgefährdung zu befürchten ist (BGH-Urteil v. 23.09.1993 III ZR 107/92, VersR 1994, 50 = NJW 1994, 794).

c)

Die Kläger haben nicht bewiesen, daß bei Frau S-Z eine akute Suizidalität am 14. und 15.08.1995 erkennbar war.

Die vom Beklagten Ziff. 2 getroffene Einschätzung einer latenten Suizidalität war allerdings objektiv falsch. Da Frau S-Z knapp eine Stunde nach dem Verlassen der geschlossenen Abteilung Selbstmord beging, bestand bereits am 15.08.1995 um 10.00 Uhr eine konkrete Selbstmordgefahr, selbst wenn sie den endgültigen Entschluß zum Suizid erst nach dem Verlassen der geschlossenen Station gefaßt haben sollte. Entscheidend ist jedoch nicht, ob sich nachträglich herausstellt, daß die Diagnose objektiv falsch war, sondern, ob diese akute Suizidalität für die behandelnden Ärzte oder das Krankenhauspersonal erkennbar war. Den ihnen obliegenden Beweis dafür haben die Kläger nicht geführt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Privatdozent Dr. S ist nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft von einer erhöhten Suizidgefahr bei Patienten auszugehen, die einer bestimmten Risikogruppe angehören. Eine solche Risikogruppe sind beispielsweise Patienten, die einen Selbstmord versucht haben oder in deren näherer Verwandtschaft es zu einem Selbstmordversuch kam. Wie der Sachverständige dargelegt hat, gibt es keinen Hinweis darauf, daß Frau S-Z einer solchen Risikogruppe angehörte. Daß die Mutter der Patientin selbst an einer Depression litt, führt nach den Angaben des Sachverständigen nicht dazu, daß die Patientin einer Risikogruppe zuzurechnen ist, weil dies kein Anhalt für ein erhöhtes Suizidrisiko ist. Daß die depressive Störung im Verlauf des Jahres 1995 schwerer wurde, begründet auch kein erhöhtes Suizidrisiko, wie der Sachverständige ausgeführt hat. Zwar korreliert die Gefährdung mit der Schwere, doch ist ein zwingender Zusammenhang nicht psychiatrisch begründbar, so daß nicht schon die Schwere der Depression auf eine akute Suizidalität schließen und Überwachungsmaßnahmen erforderlich werden läßt. Während des Aufenthalts von Frau S-Z auf der geschlossenen Station ergaben sich nach den Ausführungen des Sachverständigen keine Hinweise auf eine akute Gefährdung. Solche Hinweise können beispielsweise im Verhalten begründet liegen wie bei der Suche nach schädigenden Gegenständen, der Verweigerung der Einnahme von Medikamenten oder einer Essensverweigerung. Aus den Krankenunterlagen ergeben sich keine Anhaltspunkte für ein solches Verhalten von Frau S-Z. Nach dem Pflegebericht und der Verlaufsdokumentation war sie kooperativ. Die ihr verordneten Medikamente nahm sie ein. Daß sie nach dem Pflegebericht sehr zurückgezogen war, ist kein Kriterium, das für eine erhöhte Suizidalität spricht, wie der Sachverständige bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens angab. Das gilt auch für Verhaltensauffälligkeiten, wie sie für den 13.08.1995 im Pflegebericht -"wirkt ständig gedrückt ... unschlüssig und hilflos." - vermerkt sind. Gegen eine akute Suizidalität sprach, daß Frau S-Z Suizidabsichten verneinte. Wie der Sachverständige dargelegt hat, empfinden es Patienten, die auf ihre Suizidalität angesprochen werden, in der Regel als Entlastung, darüber zu reden, und bekunden deshalb Suizidabsichten. Insgesamt war damit aufgrund der erhobenen Befunde nach den Angaben des Sachverständigen die Einschätzung einer latenten Suizidalität bei Frau S-Z nicht fehlerhaft, sondern entsprach dem psychiatrischen Wissensstand.

d)

Andere Fehler sind nicht erweislich. Beweiserleichterungen kommen den Klägern nicht zu Hilfe:

Befunderhebungsfehler liegen nicht vor. Wie der Sachverständige dargelegt hat, wurden bei Frau S-Z alle medizinisch gebotenen Befunde in der Anamnese und während der weiteren Behandlung erhoben.

Eine Beweiserleichterung kommt den Klägern auch nicht unter dem Gesichtspunkt des sogenannten "Anfängereingriffs" zugute. Beweiserleichterungen für den Beweis der objektiven Fehlverrichtung und des Verschuldens kommen einem Patienten zugute, wenn eine Behandlung von einem Arzt in Ausbildung ohne die Assistenz eines Facharztes vorgenommen wird. Die Entscheidung über die Verlegung auf die offene Station und damit für einen unbegleiteten Ausgang wurden jedoch vom Beklagten Ziff. 2 und nicht von dem Arzt im Praktikum C getroffen. Dies ergibt sich schon aus den Krankenakten. Zwar ist die Anamnese maschinenschriftlich nur von dem Arzt im Praktikum C unterzeichnet. Aus dem Verlaufsbericht ergibt sich jedoch, daß Frau S-Z am 11.08.1995 und am 14.08.1995 vom Beklagten Ziff. 2 exploriert wurde und dieser - zusammen mit anderen Ärzten - auch am 14.08.1995 mit Frau S-Z die Verlegung auf die offene Station am 15.08.1995 besprach. Die Befunde, die zu der Entscheidung zur Verlegung auf die offene Station führten, wurden somit vom Beklagten Ziff. 2 erhoben und nicht vom Arzt im Praktikum C, ebenso wurde die Diagnose von ihm gestellt und die Entscheidung über die Verlegung von ihm getroffen. Mit der Entscheidung zur Verlegung auf die offene Station war aber nach den Angaben des Beklagten Ziff. 1 die Entscheidung über die Gewährung von unbegleitetem Ausgang sowie die Entscheidung über die unbegleitete Besichtigung der offenen Station verbunden. Dies hat der Beklagte Ziff. 2 vor dem Senat überzeugend dargelegt; es liegt auch in der Sache nahe. Wenn der Vermerk über diesen Ausgang in der Behandlungsdokumentation das Handzeichen des Arzt im Praktikum C trägt, bedeutet dies - wie auch für die übrigen Aufschriebe von ihm gilt - deshalb nicht, daß er die Entscheidung eigenverantwortlich getroffen hat, sondern lediglich, daß er den Vermerk niedergelegt hat.

Den Klägern kommt auch keine Beweiserleichterung unter dem Gesichtspunkt eines Dokumentationsmangels zugute. Zwar ist für den 14.08.1995 nur die Entscheidung über die Verlegung von Frau S-Z auf die offene Station nach einem Gespräch dokumentiert. Daß an diesem Tag eine Besprechung des Beklagten Ziff. 2 mit der Patientin stattgefunden hat, ergibt sich jedoch aus der Dokumentation. Daß darüber hinaus keine Befunde festgehalten sind, bedeutet nicht, daß Befunde nicht erhoben worden sind. Ziel und Zweck der Dokumentation sind vorrangig nicht die forensischen Beweissicherung, sondern die Gewährleistung sachgerechter medizinischer Behandlung durch den Arzt. Eine Dokumentation, die medizinisch nicht erforderlich ist, ist auch aus Rechtsgründen nicht geboten (BGH Urteil v. 14.02.1995 VI ZR 272/93, VersR 1995, 706 = NJW 1995, 1611). Eine Dokumentation der am 14.08.1995 erhobenen Befunden, die nach den Angaben des Beklagten Ziff. 2 mit den Befunden vom 11.08.1995 übereinstimmten, war danach nicht geboten. Wie der Sachverständige Privatdozent Dr. S dargelegt hat, ist es in der Psychiatrie nicht geboten, die Befunde einer Untersuchung schriftlich zu dokumentieren, wenn sich keine Änderung gegenüber zeitlich kurz zuvor erhobenen Befunden ergibt; nur eine Änderung muß dokumentiert werden.

2.

Einen Behandlungsfehler in der Medikation von Frau S-Z haben die Kläger nicht bewiesen. Nach den Angaben des Sachverständigen Privatdozent Dr. S die in Übereinstimmung mit den Bekundungen des Sachverständigen Prof. Dr. W vor dem Landgericht stehen, entsprach es dem medizinischen Standard, im Hinblick auf die beabsichtigte und angezeigte internistische und ophthalmologische Abklärung zunächst von der Gabe eines Antidepressivums abzusehen und als Psychopharmarka nur sedierende Medikamente einzusetzen. Die gewählte Dosierung war korrekt. Nach dem ophthalmologischen Konsil vom 14.08.1995 konnte ein Antidepressivem eingesetzt werden. Die Gabe von Ludiumil entsprach ebenfalls dem Standard; insbesondere erhöhte sie nicht die Gefahr eines Suizid, weil es sich bei Ludiumil nicht um ein aktivierendes Aktidepressivum handelte.

3.

Die Kläger haben auch nicht bewiesen, daß es fehlerhaft war, nicht sofort, nachdem Frau S-Z nicht um 10.30 Uhr zurückkam, eine Suchaktion einzuleiten. Eine Veranlassung zu Maßnahmen bestand dann, wenn sich aus diesem Verhalten ergab, daß bei Frau S-Z eine erhöhte Suizidalität vorlag. Bei fortgeltender latenter Suizidalität waren der Beklagte Ziff. 2 und das Krankenhauspersonal nicht verpflichtet, Sicherungs- und Überwachungsmaßnahmen zu ergreifen (vgl. oben 1 a). Wie der Sachverständige Privatdozent Dr. S überzeugend dargelegt hat, sollen auch dann, wenn ein psychisch kranker Patient Vereinbarungen mit den behandelnden Ärzten oder dem Krankenhauspersonal nicht einhält, im Interesse einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Patient und Arzt aus therapeutischen Gründen Sicherungs- und Überwachungsmaßnahmen nicht grundlos ergriffen werden, weil sie eine erfolgversprechende Therapie gefährden. Entscheidend ist deshalb auch hier, ob das Ausbleiben von Frau S-Z Anhaltspunkte dafür bot, daß die Diagnose einer latenten Suizidalität falsch war und sie akut gefährdet war. Wie der Sachverständige - Privatdozent Dr. S - bekundet hat, legte das Verhalten von Frau S-Z aus psychiatrischer Sicht die Annahme akuter Suizidalität nicht nahe. Ihr Verhalten konnte ohne weiteres als eigenmächtiger Behandlungsabbruch verstanden werden. So hatte sie sich bereits während des stationären Aufenthalts nur bedingt krankheitseinsichtig gezeigt und ausweislich des Pflegeberichts selbst eine Behandlung statt in der psychiatrischen Klinik in der Klinik für innere Medizin für angezeigt gehalten. Auch hatte sie bereits im Juli wenige Tage nach der Aufnahme die stationäre Behandlung in der Psychosomatischen Klinik W;. abgebrochen. Eine fehlende Krankheitseinsicht, die danach für die behandelnden Ärzte und das Pflegepersonal nahelag, ist, wie der Sachverständige Privatdozent Dr. S bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens angegeben hat, kein Kriterium, aus dem sich auf eine erhöhte Suizidalität schließen läßt. Eine Suchaktion war zudem aufgrund der konkreten Situation kein erfolgversprechendes Mittel, um eine mögliche Gefährdung der Patientin abzuwenden. Frau S-Z, hatte die Station vor mindestens 30 Minuten verlassen. Wollte sie das Gelände verlassen, war eher anzunehmen, daß sie diese Absicht verwirklicht hatte. Die Pforte, durch die das Gelände des B hospitals verlassen werden kann, befindet sich in unmittelbarer Nähe des Ausgangs der psychiatrischen Klinik. Im anderen Fall stand einer erfolgreichen Suche entgegen, daß Frau S-Z den Selbstmord an einer Stelle verübte, an der sich bis dahin auf dem Gelände des Bürgerhospitals kein Selbstmord ereignet hatte. Für eine polizeiliche Fahndung bestand bei Fehlen einer akuten Suizidalität keine Veranlassung; zudem wäre auch ihr Erfolg zweifelhaft. Eine in Betracht kommende Verständigung des Klägers hätte die Selbsttötung nicht verhindern können.

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Ende der Entscheidung

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