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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 04.07.2002
Aktenzeichen: 2 Ss 138/02
Rechtsgebiete: StBG, GG


Vorschriften:

StBG § 242
GG Art. 20
Bei ausgesprochenen Bagatelldelikten - hier Diebstahl einer Milchschnitte im Wert von 26 Cent - verstößt die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen das Übermaßverbot.
Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 2 Ss 138/02

in der Strafsache gegen

wegen Diebstahls

Der 2. Strafsenat hat nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft am 4. Juli 2002 gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 26. September 2000 im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.

2. Der Angeklagte wird wegen Diebstahls geringwertiger Sachen zu der Geldstrafe von 5 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt.

3. Die Kosten des Rechtsmittels und die dadurch dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

Das Amtsgericht Bad Waldsee hat den Angeklagten am 19. Juli 2000 wegen Diebstahls einer geringwertigen Sache zu der Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 70,00 DM verurteilt. Nach seinen Feststellungen suchte der Angeklagte am 17. September 1999 - als Freigänger während der Haftzeit - die Geschäftsräume der Firma N. in auf und kaufte dort Waren ein, die er an der Kasse auch bezahlte, ausgenommen eine Milchschnitte im Wert von 0,50 DM, die er noch im Laden verzehrt hatte.

Auf die zum Nachteil des Angeklagten eingelegte, wirksam in der Hauptverhandlung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Ravensburg den Angeklagten unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts zu der Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt.

Die gegen dieses Urteil gerichtete und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hält die Verhängung einer Freiheitsstrafe bei den Besonderheiten der Tat für eine unverhältnismäßige Rechtsfolge.

Das Rechtsmittel hat Erfolg. Es führt in analoger Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO zur Entscheidung des Senats in der Sache selbst.

1. Zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten führt das angefochtene Urteil unter anderem aus, dass der allein lebende Angeklagte bei der Firma H. als Entsorger beschäftigt ist und anerkennenswerte Arbeitsleistungen erbringt. Er leide als Folge ungünstiger psychosozialer Entwicklungsbedingungen und bei einem Verkehrsunfall erlittener schwerer Kopfverletzungen an einer Persönlichkeitsstörung; sie zeige sich in infantilen Persönlichkeitszügen mit insbesondere einer Neigung zu unrealistischer Selbsteinschätzung, sehr geringer Konfliktfähigkeit, geringer Frustrationstoleranz und ausgeprägter Kränkbarkeit. Nicht auszuschließen sei deshalb, dass er zur Tatzeit in seinem Steuerungsvermögen erheblich vermindert gewesen sei; Diebstahlshandlungen besäßen bei ihm "in einigem Maße Symptomcharakter" und seien "Ausdruck intrapsychischer Konflikte". Mehrjährige psychotherapeutische Behandlungen in der Vergangenheit seien fruchtlos geblieben. Wie das Urteil weiter feststellt, weist das Bundeszentralregister seit 1979 21 Eintragungen wegen Diebstahls auf. In den Jahren 1989, 1993 und 1999/2000 habe sich der Angeklagte jeweils für einige Monate im Strafvollzug befunden. Zuletzt stahl der Angeklagte im Jahre 1999 in einem Kaufhaus Kleber im Warenwert von 20,97 DM. Im gleichen Jahr versuchte er, ein Fahrrad zu entwenden.

Die verhängte Freiheitsstrafe begründet das Landgericht damit, dass zwar der Wert der entwendeten Ware äußerst gering sei und dass sich gerade bei Diebstählen die Persönlichkeitsstörung des Angeklagten auswirke. Andererseits falle der Angeklagte seit 1979 immer wieder durch Diebstähle auf und habe die jetzige Tat als Freigänger begangen; er sei nicht zu beeindrucken. Unter Vornahme eines Härteausgleichs - die zuletzt am 19. Januar 2000 vom Amtsgericht Ravensburg wegen Diebstahls von Klebern verhängte Freiheitsstrafe von zwei Monaten hat der Angeklagte verbüßt - erscheine eine Freiheitsstrafe von einem Monat für tat- und schuldangemessen. Zur Begründung der Unerlässlichkeit einer Freiheitsstrafe verwies das Landgericht unter anderem auf die Verteidigung der Rechtsordnung und darauf, dass "zumindest aus generalpräventiven Aspekten" es bei einem Vielfachtäter der Freiheitsstrafe bedürfe, weil ein effektiver Rechtsgüterschutz - auch bei Ladendiebstählen - nur dadurch gewährleistet sei.

2. Die Ausführungen des Landgerichts halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Strafzumessung ist zwar Sache des Tatrichters. Das Revisionsgericht kann im allgemeinen nur dann eingreifen, wenn Erwägungen, mit denen der Tatrichter Strafart und Strafmaß begründet hat, in sich rechtlich fehlerhaft sind oder wenn der Tatrichter einen der rechtlich anerkannten Strafzwecke überhaupt nicht in den Kreis seiner Erwägungen einbezogen hat. Auch die Bewertung der Strafzwecke dem Grade nach ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Das Revisionsgericht ist ausnahmsweise aber dann zum Eingreifen berechtigt und verpflichtet, wenn die Strafe in einem groben Missverhältnis zu Tatunrecht und Tatschuld steht und gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt. Das aus diesem Grundsatz abgeleitete, aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Übermaßverbot besitzt Verfassungsrang und setzt auch dem Strafanspruch des Staates im Einzelfall Grenzen. Zwar ist anerkannt, dass der Tatbestand des Diebstahls geringwertiger Sachen, der seit der Änderung der Strafvorschrift durch Art. 19 Nr. 123 des EGStGB im Jahre 1974 keinen eigenen Straftatbestand mehr bildet, sondern uneingeschränkt Anwendungsfall des § 242 ist, der Verfassung entspricht (vgl. BVerfGE 50, 205 bis 217). Demzufolge gibt das Gesetz dem Richter auch für die Ahndung von Diebstählen geringwertiger Sachen einen weiten Strafrahmen an die Hand, der Freiheitsstrafen einschließt. Diebstähle geringwertiger Sachen brauchen auch nicht leicht zu wiegen, so etwa dann, wenn der Täter ohne Not oder sonstige noch verständliche Beweggründe um geringfügiger Vorteile willen einen Einbruch begeht oder die Hilflosigkeit eines unbemittelten Opfers ausnützt (vgl. BVerfGE a.a.O.). Entsprechendes wird gelten, wenn sich zum Beispiel ein Täter bei häufigen Beutezügen in Ladengeschäften im Einzelfall der Wertgrenze für die Annahme eines geringen Schadens, den die Rechtssprechung seit langer Zeit bei 50,00 DM - nach heutiger Währung rd. 25,5 Euro - und damit inzwischen ersichtlich zu niedrig ansetzt, zwar annähert, aber sie regelmäßig nicht überschreitet und schon bei Tatbegehung dadurch dreist auf die Verhängung bloßer Geldstrafen spekuliert. Ein genereller Ausschluss der Freiheitsstrafe zugunsten der Geldstrafe bei Ladendiebstählen kann nicht anerkannt werden. Hartnäckiges rechtsmissbräuchliches und gemeinschädliches Verhalten kann auch bei einer Häufung von Diebstählen geringwertiger Sachen vorliegen. Diese grundsätzlichen Erwägungen entheben den Richter aber nicht der Pflicht, im konkreten Einzelfall unter Abwägung der maßgeblichen Strafzumessungsgesichtspunkte zu prüfen, ob die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den Fällen eines ausgesprochenen Bagatelldelikts noch einen gerechten Schuldausgleich darstellt und nicht gegen das Übermaßverbot verstößt. Für den Diebstahl einer absolut geringwertigen Sache - hier einer Milchschnitte im Wert von 26 Cent - ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe, deren Mindestmaß nach § 38 Abs. 2 StGB einen Monat beträgt, aber keinesfalls vertretbar. Das Tatunrecht wiegt in solchen Fällen so gering, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe eine unangemessen harte und damit gegen das Übermaßverbot verstoßende Sanktion darstellte und zwar selbst dann, wenn der Täter einschlägig vielfach vorbestraft ist. Erst recht gilt dies vorliegend bei Berücksichtigung der Besonderheiten in der Persönlichkeit des Täters, dessen Steuerungsvermögen möglicherweise erheblich vermindert war, und der speziellen Situation im Selbstbedienungsgeschäft, die gerade für einen Menschen seiner Persönlichkeitsstruktur besondere Anreize zum Diebstahl bot.

Da hier die Verhängung einer Freiheitsstrafe schon im Hinblick auf das dem § 47 StBG vorrangige Übermaßverbot von vornherein ausscheidet, braucht auf die Darlegungen des Landgerichts zu § 47 StGB im einzelnen nicht näher eingegangen zu werden. § 47 StGB ist nur dann von Bedeutung, wenn grundsätzlich eine Freiheitsstrafe in Betracht kommt. Bemerkt sei zu den Ausführungen des Landgerichts insoweit aber, dass die Unerlässlichkeit der Verhängung einer Freiheitsstrafe im Sinne des § 47 StGB ganz allgemein an strengen Anforderungen zu messen und jeweils nach den besonderen Umständen des Einzelfalls festzustellen ist. Sie darf bei Taten ausgesprochen geringen Gewichts nicht allein aus dem Vorliegen einschlägiger Vorstrafen geschlossen werden; ebenso wenig aus dem Gesichtspunkt der Generalprävention oder der Verteidigung der Rechtsordnung. Auf der Hand liegt, dass letztere nicht in Gefahr geriete, wenn bei einem Bagatelldelikt wie dem vorliegenden lediglich auf eine Geldstrafe anstatt auf eine Freiheitsstrafe erkannt wird. Ganz im Gegenteil träfe bei einer vom Sachverhalt voll und zutreffend unterrichteten Bevölkerung die Verhängung einer Freiheitsstrafe hier auf Unverständnis.

3. Der Senat hat von der Zurückverweisung der Sache abgesehen und den Rechtsfolgenausspruch selbst in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO abgeändert.

Die Tat liegt jetzt bald drei Jahre zurück. In dieser Sache haben bereits zwei Hauptverhandlungen vor Gericht stattgefunden; die zweite Hauptverhandlung auf Betreiben der Staatsanwaltschaft. Eine weitere Hauptverhandlung vor dem Landgericht - auch mit entsprechenden Kostenfolgen - ist dem Angeklagten nicht mehr zuzumuten. Sie stünde zur Bedeutung der Sache außer jedem Verhältnis.

Der Senat hat auf die gesetzliche Mindeststrafe von fünf Tagessätzen erkannt und den Tagessatz - auch im Hinblick auf dem Senat nicht bekannte, aber möglicherweise zwischenzeitlich eingetretene Verschlechterungen der Einkommensverhältnisse des Angeklagten - auf 10,00 Euro festgesetzt. Er hält diese Sanktion bei Abwägung aller maßgeblichen Strafzumessungsgesichtspunkte, insbesondere des außerordentlich geringen Wertes des Diebesguts und der eingeschränkten Schuldfähigkeit des Angeklagten, für tat- und schuldangemessen.

4. Die im Revisionsverfahren entstandenen Kosten und notwendigen Auslagen waren gemäß § 473 Abs. 3 StPO der Staatskasse aufzuerlegen.

Ende der Entscheidung

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