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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 16.10.2003
Aktenzeichen: 2 Ss 157/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 261
StPO § 354 Abs.1
1. Ein Verfahrensverstoß gegen § 261 StPO liegt vor, wenn im Urteil wesentliche entscheidungserhebliche Einzelheiten einer in der Hauptverhandlung eingeführten Urkunde nicht erörtert werden.

2. Das Revisionsgericht kann unter Aufrechterhaltung der Gesamtstrafe analog § 354 Absatz 1 StPO die Einzelstrafen neu festsetzen und den Schuldspruch von Tatmehrheit in neu zusammengefasste Tateinheiten berichtigen, wenn die richtige Bestimmung der Konkurrenzen zu keinen Veränderungen des Unrechts- bzw. des Schuldumfangs führt, so dass es keiner Zurückverweisung der Sache zur erneuten Straffestsetzung bedarf.


Tatbestand:

Im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in einer Postagentur war es der Angeklagten aufgrund der speziellen bank- bzw. buchungstechnischen Abläufe möglich, über einen längeren Zeitraum hinweg fast täglich durch entsprechende Buchungen nicht existente Einzahlungen vorzutäuschen. Von dem dadurch entstandenen "Fantasie-Guthaben" hob sie sodann immer wieder, oft mehrmals am selben Tag, (reale) Geldbeträge ab und verbrauchte sie teilweise für sich. Den Rest zahlte sie jeweils wieder auf das "Fantasie-Guthaben" ein. Insgesamt belief sich bis zum Entdecken ihrer Machenschaften die Summe der in der Höhe ständig wachsenden vorgetäuschten Einzahlungen auf über 20 Millionen DM. Dem standen mehr als 900 Abhebungen gegenüber, von denen sie einen Betrag von insgesamt circa 800.000 DM für sich verbrauchte.

Das Amtsgericht hatte die Angeklagte deshalb wegen Betrugs zu der Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Das Landgericht hat ihre Berufung unter Abänderung des Schuldspruchs in Untreue in 916 Fällen verworfen. Mit ihrer Revision rügt die Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel führt lediglich zu einer Änderung des Schuldspruchs. Im übrigen bleibt es ohne Erfolg (§ 349 Absatz 2 StPO).

Gründe:

Der Schuldspruch bedarf der Änderung. Die Strafkammer hat wegen 916 Einzeltaten verurteilt. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft handelt es sich bei der Rüge, dass der Inhalt der im Selbstleseverfahren eingeführten Buchungsauflistung der Deutschen Post nicht bzw. nicht ausreichend oder unzutreffend verwertet worden ist, um eine - zulässig erhobene - Verfahrensrüge nach § 261 StPO. Zwar ist es allein Sache der Tatrichter/innen, das Ergebnis einer Beweisaufnahme zu würdigen, doch sind ihnen bei der ihnen nach § 261 StPO eingeräumten Freiheit in der Überzeugungsbildung Grenzen gesetzt. Insbesondere sind die Beweise erschöpfend zu würdigen (BGH StV 1988, 138). Ein Urteil muss deutlich werden lassen, dass die Tatrichter/innen solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten der Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in die Überlegungen einbezogen haben (BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 15). Es versteht sich von selbst, dass sämtliche derartigen Umstände zu berücksichtigen sind. Ein Verfahrensverstoß gegen § 261 StPO liegt vor, wenn im Urteil wesentliche entscheidungserhebliche Einzelheiten einer in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunde nicht erörtert werden (BGH StV 2003, 319). Gleiches gilt natürlich bei im Selbstleseverfahren eingeführten Urkunden.

Vorliegend hat die Strafkammer, wie die Revisionsführerin zutreffend dargelegt hat, wesentliche Teile der Buchungsauflistung nicht in das Urteil aufgenommen und sich so mit deren Inhalt nicht auseinander gesetzt. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Uhrzeiten der einzelnen Buchungen in den Urteilsgründen nicht wiedergegeben werden. Aus diesen Uhrzeiten ergibt sich auf den ersten Blick, dass an zahlreichen Tagen mehrere Buchungen innerhalb weniger Minuten hintereinander erfolgt sind. Dies verlangt zwangsläufig eine besondere Auseinandersetzung mit der Frage, ob in diesen Fällen Handlungseinheiten angenommen werden können oder müssen. Insoweit liegt ein Verstoß gegen § 261 StPO vor.

Soweit die Buchungen in kürzeren zeitlichen Abständen hintereinander, oftmals im "Minutentakt", erfolgt sind, drängt sich die Annahme von Handlungseinheiten geradezu auf. Aber auch bei mehreren Buchungen oder Buchungsblöcken an ein und demselben Tag liegt es nahe, dass die Pausen "technisch" oder taktisch bedingt waren. ... Der Senat geht deshalb zu Gunsten der Angeklagten davon aus, dass jeweils sämtliche an ein und demselben Tag ... durchgeführten Buchungen eine Tat darstellen. Daraus ergeben sich dann insgesamt (anstatt 916) folgende 335 Taten: ... (1 bis 335).

Der Änderung des Schuldspruchs steht § 265 StPO nicht entgegen. Die Angeklagte hätte sich gegen die geänderten Vorwürfe ersichtlich nicht anders als geschehen verteidigen können. Dies gilt umso mehr, als die Frage des Konkurrenzverhältnisses der Taten im Laufe des Verfahrens erkennbar mehrfach problematisiert worden ist.

Der Senat kann vorliegend den Schuldspruch berichtigen, ohne dass eine Änderung im Strafausspruch zu erfolgen hat. Die richtige Bestimmung der Konkurrenzen führt zu keinen Veränderungen des Unrechts- bzw. des Schuldumfangs, so dass es keiner Zurückverweisung der Sache zur erneuten Straffestsetzung bedarf.

Der Senat kann in entsprechender Anwendung von § 354 Absatz 1 StPO die (auch vom Landgericht verhängte) Strafe auf 2 Jahre und 6 Monate Gesamtfreiheitsstrafe festsetzen. Die Feststellungen zum Schuldumfang und die Strafzumessungstatsachen und Strafzumessungserwägungen sind im Urteil vollständig, nachvollziehbar und zutreffend wiedergegeben.

Bei der Festsetzung der Höhe der Strafen hat die Kammer letztlich maßgeblich an den jeweiligen Buchungsbeträgen angeknüpft. Bei Buchungen bis 20.000 DM hat sie auf jeweils fünf Monate Freiheitsstrafe erkannt, bis 30.000 DM auf jeweils sechs Monate und bis 45.000 DM auf sieben Monate. ... Bei der Bildung von Handlungseinheiten für sämtliche an ein und demselben Tag erfolgten Buchungen erhöhen sich nun aber die (Gesamt-)Buchungsbeträge in starkem Maße (bis zu 156.500 DM). Allein bei 240 Taten liegt die Buchungssumme über 45.000 DM (= Obergrenze der höchsten Einzelstrafe im landgerichtlichen Urteil), in 61 Fällen sogar im sechsstelligen Bereich. Nach den Urteilsgründen steht fest, dass die Strafkammer, wäre sie von diesen Beträgen ausgegangen, dann jeweils auf höhere (Einzel-)Strafen erkannt hätte.

Der Senat belässt es bei den von der Strafkammer verhängten Strafhöhen, soweit es um Buchungsbeträge bis zu 45.000 DM geht (bis zu 20.000 DM jeweils fünf Monate Freiheitsstrafe, bis zu 30.000 DM jeweils sechs Monate Freiheitsstrafe sowie bis zu 45.000 DM jeweils sieben Monate Freiheitsstrafe). In entsprechender Anwendung von § 354 Absatz 1 StPO setzt der Senat auch bei allen übrigen (über den Buchungsbetrag von 45.000 DM hinausgehenden) Taten jeweils eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten fest. Die Angeklagte ist dadurch unter keinen Umständen beschwert. ... Die bisherigen Einzelstrafen entfallen. Der (neue) Schuldspruch ergibt sich aus der Urteilsformel.

Der Gesamtstrafenausspruch bleibt von der Änderung des Schuldspruchs und der Neufestsetzung der Einzelstrafen unberührt. Die Veränderung der Konkurrenzverhältnisse erfasst den Schuldumfang der gesamten Taten und die Bewertung des strafrechtlich relevanten Verhaltens der Angeklagten nicht. Die Kammer hat bei der Gesamtstrafenbildung ausschließlich zu Gunsten der Angeklagten sprechende Umstände verwertet und einen äußerst straffen Zusammenzug vorgenommen. Zwar hat sich durch die Berichtigung des Schuldspruchs die Anzahl der in die Gesamtstrafe einfließenden Einzelstrafen von 916 auf 335, also deutlich, reduziert. Nach wie vor handelt es sich aber auch hierbei um eine sehr große Zahl von Einzeltaten. Vor allem hat die Kammer die (Viel-)Zahl der Einzeltaten nicht (negativ) berücksichtigt, so dass die Reduzierung nicht schon von daher das Verhalten der Angeklagten insgesamt in einem besseren Licht erscheinen lassen würde. Darüber hinaus liegen der (neuen) Gesamtstrafe nunmehr 275 Einzelstrafen von jeweils sieben Monaten gegenüber zuvor einer einzigen solchen zugrunde. ... Angesichts des zutreffend gesehenen, unverändert bleibenden Unrechtsgehalts der Gesamtheit der Taten kann der Senat ausschließen, dass das Tatgericht die Gesamtstrafe bei bereits zutreffender Beurteilung der Konkurrenzen im einzelnen niedriger bemessen hätte. Mithin kann der Senat ohne Zurückverweisung entscheiden.

Gegen die Entscheidung ist Verfassungsbeschwerde eingelegt worden, die vom Bundesverfassungsgericht am 1. März 2004 mit ausführlicher Begründung nicht zur Entscheidung angenommen worden ist. (2 BvR 2251/03).

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