Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 06.06.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 144/07
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 2 Abs. 1
StGB § 2 Abs. 3
StGB § 57 Abs. 5 n.F
§ 57 Abs. 5 StGB n.F. (Bewährungswiderruf) kann auf die Strafvollstreckung wegen Taten, die vor dem Inkraftreten dieser Vorschrift am 18. April 2007 begangen wurden, nicht angewandt werden. Dem steht das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und § 2 Abs. 1 und 3 StGB entgegen, da die Vorschrift zumindest teilweise materiell-rechtlichen Charakter hat.
Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 2 Ws 144/07

vom 06. Juni 2007

in der Strafvollstreckungssache

wegen Betruges.

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Ulm vom 24. April 2007 aufgehoben.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wurde am 22. Mai 2003 vom Amtsgericht Geislingen wegen Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Am 04. Juli 2003 wurde er vom Amtsgericht Böblingen wegen Betrugsstraftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die in beiden Urteilen gewährte Strafaussetzung zur Bewährung wurde jeweils durch Beschluss des Amtsgerichts Kirchheim/Teck vom 06. Februar 2004 widerrufen. Am 27. April 2005 wurde der Beschwerdeführer vom Landgericht Stuttgart wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in fünf Fällen unter Einbeziehung einer Strafe aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt.

Nach persönlicher Anhörung des Beschwerdeführers am 25. Januar 2006 setzte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Ulm die Restfreiheitsstrafe aus diesen Verurteilungen nach Teilverbüßung mit Beschluss vom 27. Januar 2006 zum 14. März 2006 zur Bewährung aus. Die Entscheidung ist seit dem 06. Februar 2006 rechtskräftig.

Am 26. September 2006 wurde der Beschwerdeführer durch - seit 31. Januar 2007 rechtskräftiges - Urteil des Amtsgerichts Ulm wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass der Beschwerdeführer am 27. Januar 2006 - dem Tag, an welchem die Reststrafenaussetzung zur Bewährung erfolgte - um 06.57 Uhr als Freigänger aus der Justizvollzugsanstalt vorsätzlich ohne Fahrerlaubnis einen Pkw auf der BAB A 8 mit überhöhter Geschwindigkeit gesteuert hatte.

Mit Beschluss vom 24. April 2007 widerrief die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Ulm auf Antrag der Staatsanwaltschaften Ulm und Stuttgart die im Beschluss des Landgerichts Ulm vom 27. Januar 2006 bewilligte Strafaussetzung. Sie stützt sich hierbei auf die am selben Tag um 06.57 Uhr begangene Tat. Gemäß der durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 31. Dezember 2006 geschaffenen Regelung des § 57 Abs. 5 Satz 2 StGB (n. F.) könne diese Tat berücksichtigt werden und gemäß § 57 Abs. 5 Satz 1 StGB (n. F.) in Verbindung mit § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB zum Widerruf führen.

Gegen diesen ihm am 03. Mai 2007 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer rechtzeitig sofortige Beschwerde eingelegt.

II.

Das zulässige Rechtsmittel ist begründet.

Der Widerruf hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Entgegen der Annahme der Strafvollstreckungskammer kann der Widerruf nicht auf die am 27. Januar 2006 begangene Tat gestützt werden.

1. An diesem Tag fasste das Landgericht Ulm den Beschluss, mit dem die Reststrafen zur Bewährung ausgesetzt wurden. Damit stellt das um 06.57 Uhr begangene vorsätzliche Fahren ohne Fahrerlaubnis keine während der Bewährungszeit begangene Straftat und damit einen Widerrufsgrund im Sinne des § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB dar. Die Bewährungszeit begann erst mit der Rechtskraft der Aussetzungsentscheidung (§ 56 a Abs. 2 Satz 1 StGB) am 06. Februar 2006.

2. § 56 f Abs. 1 Satz 2 StGB ermöglicht die entsprechende Anwendung des § 56 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB nicht. Der Beschluss vom 27. Januar 2006 wurde am 30. Januar 2006 ausgefertigt und - nach Auskunft der zuständigen Geschäftstelle - frühestens an diesem Tag abgefertigt und damit mit Außenwirkung erlassen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Vor § 33 Anm. 9). Die Tat wurde daher nicht in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen.

3. Auf die durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 31. Dezember 2006 mit Wirkung vom 18. April 2007 eingeführte Vorschrift des § 57 Abs. 5 StGB (n. F.) kann der Widerruf ebenfalls nicht gestützt werden. Nach § 57 Abs. 5 Satz 2 StGB (n. F.) widerruft das Gericht die Strafaussetzung auch dann, wenn die verurteilte Person in der Zeit zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung eine Straftat begangen hat, die von dem Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und die im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Strafaussetzung geführt hätte.

Die inhaltlichen Voraussetzungen dieser Norm bejaht der angefochtene Beschluss zu Recht. Einer Anwendung von § 57 Abs. 5 Satz 2 StGB (n. F.) stehen jedoch das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und dessen einfachgesetzliche Ausformung § 2 Abs. 1 und Abs. 3 StGB entgegen. Danach bestimmen sich die Strafe und ihre Nebenfolge nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Wird das Gesetz nach der Tat geändert, so ist bei der Entscheidung das mildeste Gesetz anzuwenden.

Ihrem Wortlaut nach sind Art. 103 Abs. 2 GG und § 2 Abs. 1 und 3 StGB nur dann unmittelbar anwendbar, wenn eine Strafe neu begründet wird. Gemäß allgemeiner Meinung geht der Anwendungsbereich jedoch über diesen Wortlaut hinaus.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (zuletzt: E 109, 133, 167) erfasst das absolute Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG alle staatlichen Maßnahmen, die "eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient".

Die weitgehend einhellige Meinung zu § 2 Abs. 1 und 3 StGB knüpft dessen Anwendung an die Voraussetzung, dass nicht nur reines Verfahrensrecht betroffen ist, sondern es sich um eine strafrechtliche Regelung mit materiell-rechtlichem Charakter handelt (Tröndle/Fischer, StGB, 54. Aufl., § 2 Anm. 6; SS-Eser, StGB, 27. Aufl., § 2 Anm. 3 ff.; LK-Gribbohm, StGB, 11. Aufl., § 2 Anm. 5 ff.).

4. Ein solcher - zumindest teilweise - materiell-rechtlicher Gehalt wird überwiegend bejaht für Vorschriften, die die Strafaussetzung zur Bewährung und deren Widerruf betreffen (OLG Hamm, NStZ-RR 1996, 357, 358; SS-Eser aaO Anm. 4 mwN). Durch die am 01. Mai 1986 in Kraft getretene Regelung des § 56 f Abs. 1 Satz 2 StGB wurde - ähnlich wie nunmehr durch § 57 Abs. 5 Satz 2 StGB (n. F.) - die Berücksichtungsfähigkeit von Straftaten bei Widerrufsentscheidungen in zeitlicher Hinsicht erweitert. Danach besteht die Widerrufsmöglichkeit des § 57 f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB auch dann, wenn die erneute Straftat zwischen der Aussetzungsentscheidung und deren Rechtskraft begangen worden ist. Für diese Regelung hat es das Bundesverfassungsgericht (NJW 1992, 2877) ausdrücklich dahinstehen lassen, ob sie dem Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG - und damit dem Rückwirkungsverbot - unterfällt. In der Rechtsprechung der Strafgerichte wurde dieser Regelung materiell-rechtlicher Charakter zuerkannt, und sie wurde daher an § 2 Abs. 1 und Abs. 3 StGB gemessen (OLG Hamm, StV 1987, 69; OLG Hamm, MDR 1988, 74; OLG Düsseldorf MDR 1989, 281).

5. Für reines Vollstreckungsrecht soll das Rückwirkungsverbot dagegen nicht gelten (BVerfGE, 64, 261, 280; Schmidt-Assmann in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 103 Abs 2 Anm. 197; Degenhart in Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl., Art. 103 Anm. 59). Für die zum 01. Mai 1986 in Kraft getretene Regelung des § 57 Abs. 5 StGB (a.F.), nach der das Gericht von einer Reststrafaussetzung absehen kann, wenn der Verurteilte unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib von aus der Tat erlangten Gegenständen macht, hat das Bundesverfassungsgericht es abgelehnt, diese am Rückwirkungsverbot zu messen. Es handle sich insoweit um die Änderung einer Maßnahme der Strafvollstreckung, die die Strafbarkeit selbst unberührt lasse (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des 2. Senates vom 02. Oktober 1989, 2 BvR 1250/89 - veröffentlicht in juris -).

6. Anderes muss nach Auffassung des Senates für § 57 Abs. 5 StGB (n.F.) gelten. Zwar handelt es sich ebenfalls um eine Regelung für den Bereich der Strafvollstreckung, jedoch werden darin - im Unterschied zu § 57 Abs 5 StGB (a.F.) - mittelbar Konsequenzen an strafbares Verhalten geknüpft. § 57 Abs. 5 StGB (n.F.) ermöglicht als weitere Folge einer erneuten Straftat eine Entscheidung, die zu einer längeren Verbüßung einer Freiheitsstrafe führt, obwohl davon bereits rechtskräftig abgesehen worden war. Das kommt in seiner Wirkung der Neufestsetzung einer Strafe - dem direkten Anwendungsbereich des § 2 StGB - so nahe, dass es damit unvereinbar wäre, § 57 Abs. 5 StGB (n.F.) auf Straftaten anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten am 18. April 2007 begangen wurden.

Zudem würde ein Widerruf hier das Rückwirkungsverbot deshalb verletzen, weil damit auch die neue Straftat vom 27. Januar 2006 nachträglich mit einer weiteren "missbilligenden hoheitlichen Reaktion auf rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts belegt würde. Auch diese Straftat wurde begangen, bevor § 57 Abs. 5 StGB (n.F.) in Kraft getreten ist.

7. Ein Widerruf von Reststrafaussetzungen, die bereits vor dem Inkrafttreten des § 57 Abs. 5 Satz 2 StGB (n.F.) Rechtskraft erlangt hatten, erscheint darüberhinaus im Hinblick auf das dem Rechtsstaatsprinzip entspringende Gebot des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 2 GG i.V. mit Art 20 Abs. 3 GG) bedenklich. Mit einer solchen rückwirkenden Anwendung des § 57 Abs. 5 Satz 2 StGB (n.F.) würde dem Adressaten einer Strafaussetzungsentscheidung eine gesicherte Rechtsposition entzogen. Vor dem Inkrafttreten des § 57 Abs. 5 StGB (n.F.) konnte er auf den Bestand der rechtskräftigen Strafaussetzungsentscheidung vertrauen, sofern er diesen nicht selbst durch sein Verhalten gefährdet.

8. Da der Widerruf aus den dargestellten Gründen nicht auf die am 27. Januar 2006 begangene Straftat gestützt werden kann und sonstige Widerrufsgründe nicht ersichtlich sind, ist der Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 24. April 2007 mit der sich analog § 467 Abs. 1 StPO ergebenden Kostenfolge aufzuheben.

Ende der Entscheidung

Zurück