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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 29.09.2000
Aktenzeichen: 2 Ws 192/2000
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 395
StPO § 414
Die Nebenklage im Sicherungsverfahren ist zulässig.
Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 2 Ws 192/2000 1 Ks 13 Js 5873/00 LG Rottweil 13 Js 5873/00 StA Rottweil

vom 29. September 2000

in der Strafsache gegen

wegen versuchten Totschlags u.a.,

Tenor:

Auf die Beschwerde des Geschädigten I wird der Beschluss des Landgerichts Rottweil vom 12. September 2000 insoweit

aufgehoben,

als der Antrag auf Zulassung der Nebenklage vom 9. Juni 2000 abgelehnt wurde.

Die Nebenklage ist zulässig.

Gründe:

I.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht Rottweil den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Nebenklage im Sicherungsverfahren gegen abgelehnt. Die Antragsschrift legt zur Last, er habe in schuldunfähigem Zustand am 4. Juni 2000 versucht, den Beschwerdeführer mit einem Fleischermesser zu erstechen, und diesen dabei verletzt.

II.

Die Beschwerde ist begründet.

1. Nach § 414 Abs. 1 StPO gelten für das Sicherungsverfahren sinngemäß die Vorschriften über das Strafverfahren, soweit nichts anderes bestimmt ist. Im Strafverfahren kann sich der erhobenen öffentlichen Klage als Nebenkläger anschließen, wer - wie der Beschwerdeführer - durch eine rechtswidrige Tat nach § 224 StGB bzw. durch eine versuchte rechtswidrige Tat nach § 212 StGB verletzt ist (§ 395 Abs. 1 Nr. 1 c) und Nr. 2 StPO). Eine ausdrückliche gesetzliche Bestimmung darüber, dass die Nebenklage im Sicherungsverfahren ausgeschlossen wäre, existiert nicht. Der Sinn und Zweck der in erster Linie auf das Strafverfahren zugeschnittenen Vorschriften über die Nebenklage schließt deren Anwendung im Sicherungsverfahren nicht aus. Vielmehr besteht dafür sogar ein Bedürfnis.

2. a) Diese Auffassung steht allerdings im Gegensatz zur Ansicht des Bundesgerichtshofs, der in mehreren Entscheidungen (NJW 1974, 2244 unter Hinweis auf frühere Rechtsprechung; NStZ 1992, 30 bei Kusch; BGHR StPO § 395 Anschlussbefugnis Nr. 1 und 4) die sinngemäße Anwendung des § 395 StPO auf das Sicherungsverfahren abgelehnt hat. Die Oberlandesgerichte Hamm (Strafverteidiger 1992, 460 - nur Leitsatz -), München (MDR 1994, 402) und Oldenburg (NStZ-RR 1996, 310) sowie ein Teil der Literatur (Kleinknecht/Meyer-Goßner, Strafprozeßordnung, 44. Aufl., vor § 395 Rdnr. 5; LR-Wendisch, StPO, 24. Aufl., vor § 395 Rdnr. 12; KMR-Stöckel, StPO, vor § 395 Rdnr. 10) haben sich dieser Auffassung angeschlossen.

b) Der Bundesgerichtshof hat zunächst damit argumentiert, dass die Nebenklage auf eine Bestrafung des Täters abziele. Für eine sinngemäße Anwendung des § 395 StPO auf das Sicherungsverfahren sei deshalb kein Raum, auch wenn nicht zu verkennen sei, dass das persönliche Interesse des Verletzten an einer Maßnahme der Unterbringung genauso groß sein könne wie an einer Bestrafung des Täters (NJW 1974, 2244). In seinem Beschluss vom 15. Dezember 1998 (BGHR StPO § 395 Anschlussbefugnis 4) stellte der 1. Senat dann fest, dass bei mehrfachen Änderungen des § 395 StPO die Stellung des Opfers zwar gestärkt worden sei. Da der Gesetzgeber aber trotz der langjährig ablehnenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Zulassung der Nebenklage im Sicherungsverfahren nicht festgeschrieben hat, sah der Senat gleichwohl keinen Anlass, seine bisherige Rechtsprechung zu ändern.

c) Nach Auffassung des Oberlandesgerichts München (MDR 1994, 402) soll nach Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes vom 18. Dezember 1986 am 1. April 1987 die Nebenklagebefugnis des Verletzten zwar auch Schutz vor Verantwortungszuweisungen durch den Beschuldigten gewähren. Anders als im Strafverfahren bedürfe der Verletzte eines solchen besonderen Schutzes im Sicherungsverfahren jedoch nicht. Die für die Durchführung des Sicherungsverfahrens vorausgesetzte Schuld- oder Verhandlungsunfähigkeit des Täters und somit das Fehlen von Verantwortlichkeit auf Täterseite relativiere Verantwortungszuweisungen an das Opfer. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass im Sicherungsverfahren der künftige Schutz der Allgemeinheit und weniger die Belange der Verletzten im Vordergrund stünden.

d) Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., vor § 395 Rdnr. 5 will die Unzulässigkeit der Nebenklage im Sicherungsverfahren der Vorschrift des § 400 StPO entnehmen. Die Beteiligung des Nebenklägers sei ausgeschlossen, wenn es nur um die Festsetzung von Rechtsfolgen gehe. Dazu gehöre insbesondere die Unterbringung des Täters. Der Verletzte könne sich daher erst anschließen, wenn das Sicherungsverfahren nach § 416 StPO in das Strafverfahren übergeleitet sei.

3. a) Hingegen ist nach Ansicht der Oberlandesgerichte Köln (NJW 1993, 3279), Frankfurt (NJW 199.4, 3243), Hamburg (NStZ 1997, 406) und Saarbrücken (NStZ 1997, 453) die Nebenklage auch im Sicherungsverfahren zulässig. Ihre Auffassung wird unter anderem geteilt von Weigend (Anmerkung zu LG Essen, NStZ 1991, 98), Gruhl (NJW 1991, 1874), Gössel (JR 1995, 128), Roxin (Strafverfahrensrecht, 24. Aufl. 1995, S. 455 Rdnr. 5), Kurth (NStZ 1997, 6), KK-Senge, StPO, 4. Aufl., § 395 Rdnr. 4 und LR-Hilger, StPO 25. Aufl. vor § 395 Rdnr. 16.

b) Weigend (NStZ 1991, 98) und das Oberlandesgericht Köln (NJW 1993, 3279) verweisen darauf, dass seit Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes vom 18. Dezember 1986 die Nebenklage ihrem Wesen nach nicht in erster Linie auf eine Bestrafung des Täters ausgerichtet sei. § 395 StPO sei durch das Opferschutzgesetz vielmehr dahingehend ausgestaltet worden, dass dem Verletzten zur Abwehr von Verantwortungszuweisungen durch den Beschuldigten eine umfassende Beteiligungsbefugnis gewährt und ihm eine umfassende Schutzposition gesichert werden sollte (BT-Drs.10/5305, insbesondere S. 11). Das Genugtuungsinteresse des Verletzten an einer Bestrafung des Täters sei zwar nicht ganz außer Betracht zu lassen. Ihm komme aber keine primäre Bedeutung mehr zu.

c) Die amtliche Begründung zum Opferschutzgesetz setzt Gössel (JR 1995, 129) auch der o.a. Argumentation des Oberlandesgerichts München entgegen. Die Verweigerung der Nebenklagebefugnis im Sicherungsverfahren stehe im Widerspruch zur Absicht des Gesetzgebers, den Verletzten umfassend vor Verantwortungszuweisungen durch den Täter zu schützen.

d) Weigend (NStZ 1991, 99) weist darauf hin, dass es im Sicherungsverfahren nicht nur auf die Rechtsfolge, sondern auch auf die Feststellungen zur Anlasstat ankomme. Das gelte sowohl im Hinblick auf die nach §§ 62 und 63 StGB vorzunehmende Gesamtwürdigung als auch darauf, dass das Eingreifen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen zweifelsfrei ausgeschlossen werden müsse.

e) Mit dem Hinweis, dass § 395 StPO für die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger lediglich eine "rechtswidrige Tat" verlangt, die unabhängig von der Schuld des Täters vorliegt, bringt Gruhl (NJW 1991, 1874) ein weiteres Argument für die Zulässigkeit der Nebenklage auch im Sicherungsverfahren. Die Oberlandesgerichte Köln (NJW 1993, 3279) und Saarbrücken (NStZ 1997, 454) haben sich dieser Begründung angeschlossen.

f) Nach Weigend (NStZ 1991, 99), Gruhl (NJW 1991, 1875) und Oberlandesgericht Saarbrücken (NStZ 1997, 454) ergibt sich ein weiterer Gesichtspunkt für die Zulässigkeit der Nebenklage im Sicherungsverfahren aus § 416 StPO. Nach dieser Vorschrift geht das Sicherungsverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens jederzeit nach einem entsprechenden Hinweis des Gerichts an den Beschuldigten in ein normales Strafverfahren über, wenn sich die Schuldfähigkeit des Beschuldigten zur Tatzeit ergibt. Ab diesem Moment wäre nach allgemeiner Ansicht der Anschluss als Nebenkläger zulässig (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., vor § 395 Rdnr. 5). Da der nunmehr zugelassene Nebenkläger die Wiederholung der bis zu seiner Zulassung erfolgten prozessualen Maßnahmen wegen § 398 StPO nicht verlangen kann, sehen die genannten Autoren und das Oberlandesgericht Saarbrücken die Rechte des Nebenklägers nur dann hinreichend gewährleistet, wenn er im Hinblick auf den jederzeit möglichen Übergang des Sicherungsverfahrens ins Strafverfahren von vornherein die Befugnisse eines Nebenklägers wahrnehmen kann.

4. Der Senat schließt sich den Argumenten der Befürworter der Nebenklage im Sicherungsverfahren an. Nach Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes hat das Argument, die Nebenklage ziele auf eine Bestrafung des Täters, keine Überzeugungskraft mehr. Einer näheren Auseinandersetzung bedarf es deshalb nur noch mit der vom Bundesgerichtshof im Beschluss vom 15. Dezember 1998 (BGHR StPO § 395 Anschlussbefugnis 4) angeführten Begründung, der Gesetzgeber habe bei den mehrfachen Änderungen der §§ 395 ff. StPO trotz der langjährig ablehnenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes die Zulassung der Nebenklage im Sicherungsverfahren nicht festgeschrieben. Aus den Materialien ist nicht ersichtlich, dass die Frage der Beteiligung von Verletzten im Sicherungsverfahren bei den vom Bundesgerichtshof genannten Änderungen der §§ 395 ff. StPO problematisiert worden wäre. Nachdem dieser bereits in seinem Beschluss NJW 1974, 2244 gewisse Bedenken gegen die Versagung der Nebenklage im Sicherungsverfahren geäußert hatte, kann das Schweigen des Gesetzgebers deshalb genausogut dahingehend ausgelegt werden, dass er in Anbetracht der durch das Opferschutzgesetz eingetretenen Änderungen davon ausging, der Bundesgerichtshof werde seine bisherige Rechtsprechung aufgeben. Immerhin hat der 2. Senat des Bundesgerichtshofs mit seinem Urteil NStZ 1995, 609 zu einem weiteren Argument für die Zulässigkeit der Nebenklage im Sicherungsverfahren Anstoß gegeben. Nach der genannten Entscheidung kann der Nebenkläger bei Freispruch des Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit das Revisionsverfahren mit dem Ziel der Unterbringung des Täters in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB betreiben. Senge (KK, StPO, 4. Aufl., § 395 Rdnr. 4) ist darin zuzustimmen, dass kein sachlicher Grund erkennbar ist, dem Tatopfer diese Möglichkeit nur deshalb zu verwehren, weil sich die Schuldunfähigkeit des Täters nicht erst nach Anklageerhebung herausstellt, sondern von ihr von vornherein ausgegangen und deshalb das Sicherungsverfahren gewählt wurde. Zu Recht hatte der Generalbundesanwalt in seinem in BGH NStZ 1996, 244 wiedergegebenen Terminsantrag angemerkt, ob zunächst die Einleitung eines Strafverfahrens erfolge oder die Staatsanwaltschaft sogleich das Sicherungsverfahren wähle, hänge je nach den Umständen des Einzelfalles von Zufälligkeiten ab.

Ende der Entscheidung

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