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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 19.11.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 297/07
Rechtsgebiete: StGB
Vorschriften:
StGB § 221 Abs. 1 Nr. 2 |
Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss
Geschäftsnummer: 2 Ws 297/07
vom 19. November 2007
in der Strafsache gegen
wegen Aussetzung mit Todesfolge
Tenor:
1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 5. Oktober 2007 aufgehoben.
2. Die Eröffnung des Hauptverfahrens und die Zulassung der Anklage der Staatsanwaltschaft Ravensburg vom 16. August 2007 zur Hauptverhandlung werden abgelehnt.
3. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
I.
Die Anklage der Staatsanwaltschaft vom 16. August 2007 zur großen Jugendkammer des Landgerichts wirft den beiden Angeschuldigten Aussetzung mit Todesfolge gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 StGB vor. Der Anklage liegt zu Grunde, dass die Angeschuldigten am 14. Februar 2007 gegen 13.00 Uhr mit dem stark alkoholisierten und unter Methadoneinfluss stehenden J.W. auf dem Weg zum Bahnhof in A. waren, als dieser in der Nähe des Bahnhofsgebäudes im Schnee zusammenbrach. Die Angeschuldigten bemühten sich zunächst nicht um ärztliche Hilfe, sondern verbrachten J.W. in das Bahnhofsgebäude und blieben bei ihm. Den Notarzt verständigten sie erst geraume Zeit später. Dieser konnte jedoch bei seinem Eintreffen nur noch den Tod des J.W. feststellen, der letztlich in Folge der Aspiration von Erbrochenem eingetreten war. Die zweite große Jugendkammer des Landgerichts hat das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht - Jugendschöffengericht - eröffnet, da sie keinen hinreichenden Tatverdacht für das ihre Zuständigkeit begründende Verbrechen der Aussetzung mit Todesfolge, sondern nur für ein Vergehen der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323 c StGB sah. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde.
II.
Das zulässige Rechtsmittel ist nicht begründet. Es führt zur Überprüfung der gesamten Eröffnungsentscheidung über die von der Staatsanwaltschaft geltend gemachten Beschwerdepunkte hinaus auch zu Gunsten der Angeschuldigten (vgl. BayObLG NJW 1987, S. 511) und zur Ablehnung der Eröffnung insgesamt. Der Senat sieht bei umfassender Prüfung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhaltes keine Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung der Angeschuldigten.
Eine Strafbarkeit wegen Aussetzung gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB würde voraussetzen, dass die Angeschuldigten den später verstorbenen J.W. mit zumindest bedingtem Vorsatz im Stich gelassen hätten, obwohl er in ihrer Obhut stand oder sie ihm sonst beizustehen verpflichtet waren.
Es ist bereits sehr zweifelhaft, ob die Angeschuldigten J.W. überhaupt im Sinne der Strafvorschrift "im Stich gelassen" haben. Nach dem Sachverhalt, wie er der Anklage zugrunde liegt und wie er sich mit Wahrscheinlichkeit auch als Ergebnis einer Hauptverhandlung ergeben dürfte, haben die Angeschuldigten den stark alkoholisierten und unter Methadoneinfluss stehenden J.W., der im Schnee zusammengebrochen war, aufgerichtet, gestützt und in das Bahnhofsgebäude verbracht. Nachdem er sich dort auf eine Bank gelegt hatte "um zu schlafen", sind sie nicht - wie zunächst geplant - mit einem der folgenden Züge nach R. gefahren, sondern haben den schlafend auf der Bank Liegenden für längere Zeit weiter betreut. Nachdem ihnen eine Blaufärbung an den Fingerspitzen bzw. ein Aussetzen der Atmung aufgefallen war, haben sie - letztlich zu spät - telefonisch einen Notarzt benachrichtigt. Nach Auffassung des Senats ist eine solche Handlungsweise unter Berücksichtigung des Bestimmtheitsgrundsatzes und der daraus folgenden Wortlautgrenze für jede Auslegung nicht als "im Stich lassen" anzusehen.
Letztlich kommt es hierauf jedoch nicht an. § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist ein Sonderdelikt. Täter dieser - einzig in Frage kommenden - Tatbestandsalternative könnten die Angeschuldigten nur dann sein, wenn sie J.W. zum Beistand verpflichtet gewesen wären. Die allgemeine Hilfspflicht aus § 323 c StGB begründet dies nicht (Tröndle/Fischer, StGB, 54. Aufl., Rn. 3 zu § 221). Es sind vielmehr für die Beistandspflicht im Sinne des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB die zu den unechten Unterlassungsdelikten (§ 13 Abs. 1 StGB) entwickelten Grundsätze maßgebend (Tröndle/Fischer a.a.O., Rn. 5 zu § 221 m.w.N.). An einer solchen Garantenstellung der Angeschuldigten gegenüber J.W. fehlt es.
Es sind keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass die Angeschuldigten für die starke Alkoholisierung oder die Methadoneinnahme des J.W. verantwortlich waren, obwohl letztere in der Wohnung des Angeschuldigten B. stattfand. Auch eine Art "Zechgemeinschaft" hätte noch keine Garantenpflicht begründet (BGH NJW 1953, S 556).
Die - wenn auch nicht optimale - Hilfeleistung der Angeschuldigten mit der Verbringung des J.W. in das Bahnhofsgebäude begründet eine Garantenpflicht ebenfalls nicht. Es ist allgemeine Auffassung, dass nicht jede begonnene Hilfeleistung zu einer Rechtspflicht führt, diese fortzusetzen (vgl. BGH NJW 1993, S. 2628 f. ; Tröndle/Fischer a.a.O., Rn. 5 zu § 221 m.w.N.). Der Bundesgerichtshof (a.a.O.) hat darauf abgestellt, ob durch die Hilfshandlungen eine wesentliche Veränderung in der Situation des Hilfsbedürftigen herbeigeführt worden ist. Hierbei bleibt jedoch letztlich unklar, nach welchen Kriterien sich das Merkmal der "Wesentlichkeit" beurteilen soll. Nach Auffassung des Senates fordert der Bestimmtheitsgrundsatz eine präzisere Abgrenzung. Diese hat sich maßgeblich am Rechtsgut des § 221 StGB, der körperlichen Unversehrtheit, zu orientieren. Danach erscheint es konsequent darauf abzustellen, ob eine Hilfeleistung das Risiko für die körperliche Unversehrtheit des Hilfsbedürftigen erhöht hat oder nicht (S/S-Eser, StGB, 27. Aufl., Rn. 10 zu § 221; Hoyer, NStZ 1994, S. 85). Dass derjenige, der Hilfshandlungen vorgenommen hat, die - zunächst - das Risiko für den Hilfsbedürftigen erhöht haben, zu weiterer Hilfeleistung verpflichtet bleibt, entspricht auch den zu den unechten Unterlassungsdelikten entwickelten Grundsätzen zu Garantenpflichten aus Ingerenz. Diese werden nicht aus der bloßen Ursächlichkeit eines Verhaltens für einen späteren Erfolgseintritt abgeleitet, vielmehr ist es dafür erforderlich, dass das Vorverhalten zu einer Gefahrerhöhung geführt hat (vgl. Tröndle/Fischer a.a.O. Rn. 11 zu § 13 m.w.N.).
Diese Auslegung entspricht dem Schutzzweck der Norm unter Beachtung des Bestimmtheitserfordernisses. Ob eine Risikoerhöhung eingetreten ist oder nicht, lässt sich durch die Tatgerichte - nötigenfalls unter Anwendung des Zweifelssatzes - nachvollziehbar prüfen. § 221 StGB soll Verhalten unter Strafe stellen, das in "besonders krasser Weise die Gebote der Fürsorge für den schutzbedürftigen Nächsten verletzt" (LK-Jähnke, StGB, 11. Aufl., Rn. 1 zu § 221). Bei einem Abstellen allein auf die "Wesentlichkeit" einer Veränderung bestünde gerade auch im Hinblick auf die Erweiterung, die der Anwendungsbereich des § 221 StGB durch das 6. StrRG vom 26. Januar 1998 erfahren hat, die Gefahr, dass die Vorschrift weitgehend konturlos würde.
Dem Schutzzweck des § 221 StGB liefe es geradezu zuwider, würde derjenige, der für einen Hilfebedürftigen risikoneutrale oder gar -mindernde Hilfeleistungen erbringt, durch deren Nichtfortsetzung strafbar, während derjenige straflos bliebe, der von vorne herein keinerlei Hilfe leistet. Eine solche Differenzierung erschiene daher auch im Lichte des Art. 3 GG bedenklich (so auch Hoyer a.a.O.). Es gibt keinen Grund den Helfenden schlechter zu stellen, der die Situation des Hilfsbedürftigen verbessert, als denjenigen, der sich jeder Hilfe entzieht.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Hauptverhandlung zur Feststellung eines Sachverhaltes führen würde, der eine Risikosteigerung für den später Verstorbenen durch die Hilfeleistungen der Angeschuldigten ergibt. Das Verbringen des hilflos im Schnee Liegenden in die beheizte und angesichts der nachmittäglichen Stunde auch belebte Bahnhofshalle stellt sich als sachgerechte - wenn auch letztlich nicht ausreichende - Sofortmaßnahme der Angeschuldigten dar, die die Gefahr eines zeitnahen Todeseintrittes oder einer schweren Gesundheitsverletzung des J.W. verringert hat.
Es ist daher bereits bezüglich der objektiven Tatbestandsmerkmale des § 221 StGB kein hinreichender Tatverdacht gegeben.
Im Übrigen wäre auch bei beiden Angeschuldigten der für eine Verurteilung erforderliche Nachweis zumindest bedingt vorsätzlichen Handelns nicht zu führen.
Da es bereits am hinreichenden Tatverdacht bezüglich des Grundtatbestandes fehlt, bedarf die Erfolgsqualifikation des § 221 Abs. 3 StGB keiner Erörterung.
Die umfassende Prüfung des den Angeklagten zur Last gelegten Verhaltens ergibt, dass auch bezüglich anderer Straftatbestände kein hinreichender Tatverdacht besteht.
Der Vorwurf der fahrlässigen Tötung könnte sich nur an das Unterlassen der sofortigen Benachrichtigung eines Notarztes knüpfen, da das aktive Tun der Angeschuldigten wie oben ausgeführt nicht zu einer Steigerung des Risikos für den später Verstorbenen geführt hat. Ob eine Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine Hauptverhandlung zur Feststellung fahrlässigen Verhaltens der Angeschuldigten in objektiver und subjektiver Hinsicht führen würde, kann indes dahinstehen. Die erforderliche Garantenstellung für eine fahrlässige Tötung in der Form eines unechten Unterlassungsdeliktes besteht aus den oben dargestellten Gründen nicht.
Bezüglich des Vorwurfs der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) kann offen bleiben, ob die alkohol- und rauschmittelbedingte Gesundheitsgefährdung des J.W. einen Unglücksfall im Sinne des § 323 c StGB darstellt (vgl. BGH NJW 1953, S. 556). Im Hinblick auf das Gesamtverhalten der Angeschuldigten, die dem in hilfloser Lage befindlichen J.W. durchaus beistanden und ihre geplante Zugfahrt mehrfach verschoben, um ihn weiter zu beobachten, und die - wenn auch letztlich ohne Rettungserfolg - den Notarzt angerufen haben, würde in der Hauptverhandlung mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit der Nachweis der erforderlichen vorsätzlichen Handlungsweise nicht zu führen sein. Zwar legt es die von den Angeschuldigten durchgeführte Beobachtung von Atmung und Puls durchaus nahe, dass sie im Sinne eines Eventualvorsatzes mit der Möglichkeit der Erforderlichkeit ärztlicher Hilfe gerechnet haben. Andererseits kann angesichts ihrer tatsächlich durchgeführten Hilfshandlungen nicht davon ausgegangen werden, dass sie das Unterlassen eigentlich erforderlicher Hilfe auch gebilligt hätten. Die weitere Betreuung des J.W. zeigt, dass die Angeschuldigten seinem Gesundheitszustand gerade nicht gleichgültig gegenüber standen; sie spricht vielmehr dafür, dass die Angeschuldigten darauf vertraut haben, ihre Hilfeleistungen seien ausreichend.
Aus diesen Gründen ist eine Verurteilung mit Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten und die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen.
Ende der Entscheidung
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