Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 08.11.2001
Aktenzeichen: 22 Ws 222/01
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 56 f Abs. 1
StGB § 56 f Abs. 2
1. Im Widerrufsverfahren nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB muss zu der Feststellung des Vorliegens einer Anlasstat eine Prüfung der Frage, ob sich dadurch die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, nicht erfüllt hat, hinzukommen. Dabei stehen auch einschlägige Rückfalltaten, jedenfalls wenn sie von geringerem Gewicht sind, einer neuerlichen günstigen Prognose nicht von vornherein entgegen. Damit muss sich das den Widerruf prüfende Gericht inhaltlich auseinandersetzen.

2. Auch ein Absehen vom Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung unter den Voraussetzungen von § 56 f Abs. 2 StGB hat im Zusammenhang mit einer neuen, in die Zukunft gerichteten Prognose, unter welchen Bedingungen die Erwartung künftigen straffreien Lebens besteht, zu erfolgen.


Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 2 Ws 222/01

vom 8. November 2001

in der Strafvollstreckungssache

wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - Ulm vom 5. Oktober 2001 aufgehoben.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:

Der Beschwerdeführer ist am 9. Oktober 1997 wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren acht Monaten verurteilt worden. Nach Verbüßung von zwei Dritteln dieser Strafe ist die Vollstreckung des Rests zur Bewährung ausgesetzt worden.

Der Verurteilte wurde in der Folge erneut straffällig.

Nachdem gegen ihn vom Amtsgericht Lörrach am 13. März 2000 wegen Einfuhr von 6 Gramm Haschisch (Tatzeit: 18. November 1999) ein Strafbefehl über 20 Tagessätze Geldstrafe verhängt worden war, wurde die Bewährungszeit in der vorliegenden Sache durch Beschluss des Landgerichts Ulm vom 15. Mai 2000 von drei auf vier Jahre verlängert.

Am 28. November 2000 führte er bei einem Grenzübertritt von der S. nach Deutschland wiederum Rauschgift, 10 Gramm Marihuana, mit sich. Das Amtsgericht Lörrach erließ einen weiteren Strafbefehl über 20 Tagessätze Geldstrafe.

Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Ulm hat daraufhin durch Beschluss vom 5. Oktober 2001 die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung widerrufen.

Das dagegen vom Verurteilten durch seine Verteidigerin eingelegte zulässige Rechtsmittel hat Erfolg.

Grundsätzlich mit Recht weist die Strafvollstreckungskammer im angefochtenen Beschluss darauf hin, dass der Beschwerdeführer während der Bewährungszeit bereits zum zweiten Mal einschlägig straffällig geworden ist und dass er besonders vorgewarnt war durch einen sehr eindeutigen Hinweis in dem die Bewährungszeit verlängernden Beschluss, er müsse bei einschlägiger Rückfälligkeit, "auch wenn die Tat kein besonderes Gewicht aufweist", mit dem Widerruf rechnen.

Diese Umstände allein, weitere sind im angefochtenen Beschluss nicht dargetan, rechtfertigen jedoch noch nicht den Widerruf der Strafaussetzung.

Der Widerruf ist kein Instrument zur Ahndung von Verfehlungen in der Bewährungszeit. Vielmehr dient er einer Berichtigung der ursprünglichen, positiven Prognose, die sich später als unrichtig herausgestellt hat (LG Hamburg StV 1997, 90).

Im Widerrufsverfahren nach § 56 f Abs. 1 Nr,1 StGB muss zu der Feststellung des Vorliegens einer Anlasstat eine Prüfung der Frage, ob sich dadurch die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, nicht erfüllt hat, hinzukommen. Dabei stehen auch einschlägige Rückfalltaten, jedenfalls wenn sie von geringerem Gewicht sind, einer neuerlichen günstigen Prognose nicht von vornherein entgegen (Tröndle/Fischer StGB, 50. Aufl., § 56 f Rdnr. 3 e mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung). Das den Widerruf prüfende Gericht hat in jedem Fall eine neue, in die Zukunft gerichtete Prognose dahin zu erarbeiten, ob die Erwartung künftigen straffreien Lebens durch die Nachtat(en) widerlegt ist oder nicht dennoch fortbesteht (LG Hamburg StV 1997, 90).

Daran fehlt es im angefochtenen Beschluss.

Die in § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB enthaltene Einschränkung stellt bewusst nicht allein auf bloßes Legalverhalten, sondern gerade auch auf die Möglichkeiten zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft ab, um zu erreichen, dass Verurteilte dauerhaft, auch nach Ablauf der Bewährungszeit, keine Straftaten mehr begehen.

Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer beide Male, wenn auch einschlägig, so doch nur in sehr geringem Maße erneut straffällig geworden ist. Es handelte sich jeweils um kleine Mengen von (sog. "weichen") Drogen (Haschisch bzw. Marihuana), deren Gefährlichkeit per se nicht höher als bei legal erhältlichen Drogen anzusetzen ist und bei denen die Strafwürdigkeit des Umgangs mit ihnen seit längerer Zeit in großen Kreisen der Gesellschaft in erheblichem Maße in Zweifel gezogen wird.

Die erhöhte Vorwerfbarkeit, die sich aus dem Faktum der Einfuhr (etwa gegenüber einem bloßen Erwerb) ergibt, wird dadurch relativiert, dass der Beschwerdeführer im "Drei-Länder-Eck" lebt; er arbeitet in der S., seine Lebensgefährtin wohnt in D., er selbst in F.. In Teilen der S. wird der Erwerb von Haschisch bzw. Marihuana in kleinen Mengen zum Eigenkonsum in der strafrechtlichen Praxis nicht oder nur in einzelnen Fällen verfolgt. Der Beschwerdeführer räumt ein, in der S. gelegentlich, anstelle von Alkohol, Haschisch oder Marihuana zu konsumieren. So sei es dazu gekommen, dass er bei den Grenzübertritten "versehentlich" noch Drogen bei sich hatte. Der Bewährungshelfer schreibt dazu: "Landesgrenzen werden hier überschritten, wie in anderen Gegenden Stadtgrenzen...es spricht bei Herrn W. mehr für Nachlässigkeit als für .. kriminelle Energie ...". - Eine insgesamt ähnliche Bewertung seitens der Strafverfolgungsorgane kann schon aus der geringen Höhe der jeweils verhängten Geldstrafen ersehen werden. Abgesehen von den Straftaten ist aus Sicht des Bewährungshelfers die gesamte Bewährungszeit in hohem Maße positiv verlaufen. Alle Weisungen und Auflagen hat der Verurteilte ausnahmslos erfüllt. Immer hat er von sich aus Kontakt zum Bewährungshelfer gehalten. Er hat auch sogleich auf die von ihm begangenen Vergehen hingewiesen. Trotz etlicher, nicht von ihm zu vertretender Widrigkeiten hat sich seine Arbeitssituation ständig verbessert und stabilisiert.

Diese positive Einschätzung deckt sich mit dem persönlichen Eindruck, den sich der Senat in einer Anhörung vom Beschwerdeführer verschafft hat.

Der Verurteilte scheint sich in die Gesellschaft eingegliedert zu haben. Für den Senat besteht bei einer Abwägung aller Umstände die Erwartung, dass er in der Zukunft keine Straftaten, auch nicht solche geringeren Gewichts und auch nicht aus "Nachlässigkeit", mehr begehen wird. Dabei spielt zusätzlich eine Rolle, dass seit Begehung der letzten Tat bereits wieder circa ein Jahr vergangen ist, in dem es zu keinen Auffälligkeiten mehr gekommen ist.

Eine erneute Inhaftierung kann dann nicht richtig sein, wenn hierdurch eine begonnene Integration in Frage gestellt wird. Die positive Entwicklung des Beschwerdeführers würde nach Meinung des Senats durch den Widerruf geradezu unterlaufen.

Allerdings muss sich der Beschwerdeführer darüber im Klaren sein, dass bei nochmaliger Straffälligkeit ihm dann möglicherweise doch eine andere, negative Prognose zu stellen ist.

Der Senat hält eine Abänderung der Bewährungsauflagen, etwa die nochmalige Verlängerung der Bewährungsdauer, nicht für erforderlich.

Insoweit gelten sinngemäß die obigen Ausführungen. Auch ein Absehen vom Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung unter den Voraussetzungen von § 56 f Abs.2 StGB hat im Zusammenhang mit einer neuen, in die Zukunft gerichteten Prognose, unter welchen Bedingungen die Erwartung künftigen straffreien Lebens besteht, zu erfolgen (Boetticher in NStZ 1991, 2).

(Insoweit bestehen Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Verlängerung der Bewährungszeit im - rechtskräftigen - Beschluss des Landgerichts Ulm vom 15. Mai 2000.)

Ende der Entscheidung

Zurück